Burkhard Schnepel/Gunnar Brands/Hanne Schönig (Hg.): Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte.

Bielefeld: transcript 2011. (Postcolonial Studies 5). ISBN 978-3-8376-1293-6. 312 S. Preis: € 29,80.

Autor/innen

  • Caroline Herfert

Abstract

Der interdisziplinäre Sammelband beleuchtet verschiedenste Aspekte der Orientalismus-Debatte und nähert sich dem Thema aus einer Vielzahl von Perspektiven, sowohl historisch als auch gegenwartsbezogen. Ausgangspunkt, Anreiz und Reibungsfläche für die konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Orient – Orientalistik – Orientalismus stellt Edward Saids 'Klassiker' Orientalism (1978) dar.

Die Publikation basiert auf den Vorträgen der internationalen Tagung "Neu-Orient-ierungen: Geschichte, Pfadabhängigkeiten und Gegenwart orientalistischer Imaginationen aus interdisziplinärer Sicht" (2009) am Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien – Vorderer Orient, Afrika, Asien (ZIRS) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Der durchaus hohe Anspruch des Sammelbandes verfolgt das Ziel, Kontinuitäten und Brüche der diskursiven Formation Orientalismus zu untersuchen, und zwar in der Verknüpfung der analytisch getrennten und meist separat gedachten Zweige Orient/Orientalistik/Orientalismus, welche jedoch unzertrennlich miteinander verbunden erscheinen und "nur Modalitäten einer einzigen Debatte" (S. 8) darstellen. Das Ziel ist nicht eine erschöpfende Behandlung von Saids Werk bzw. Orientalism im Speziellen, sondern zentrale Fragen der Orientalismus-Debatte – die wechselseitige Bezugnahme auf Spannungsfelder und Interdependenzen von Orient/Orientalistik/Orientalismus – zu verhandeln. Dabei sollen "kritische Nahtstellen zu anderen Debatten und Diskursformationen" (S. 10) genauso in den Blick genommen werden wie 'Nischen' und bislang vernachlässigte Randgebiete der Orientalismus-Forschung.

 

Die Einleitung der HerausgeberInnen liefert eine konzise 'akademische Vorgeschichte' von Orientalismus. Burkhard Schnepels Prolog mit dem Titel "Verschlungene Wege in den Orient und zurück" reflektiert die keineswegs geradlinigen Verbindungen und komplexen, widersprüchlichen, teils unvorhersehbaren Bewegungen zwischen 'Orient' und 'Okzident', sprich: die verschlungenen Wege der Produktion und des Transfers von Imaginationen, Stereotypen und Wissen über den Anderen, Okzidentalismus und Orientalismus, die permanente Zirkulation von Bedeutungen. Genau diesen "dynamischen Spiralen der (Fort)Bewegung und Veränderung" (S. 26) versucht der Band Rechnung zu tragen, indem der Themenkomplex aus verschiedensten (trans)disziplinären Perspektiven und methodischen Zugängen sowie anhand unterschiedlicher regionaler und thematischer Fokussierungen untersucht wird. Die zwölf Artikel – davon zwei in englischer Sprache – sind in drei größere thematische Blöcke à drei bis vier Beiträge gegliedert, gerahmt von ideengeschichtlichen Betrachtungen zu Saids Orientalism zu Beginn und am Ende des Bandes.

Den Auftakt macht Fritz W. Kramers Einführung zum "Kulturbegriff Edward Saids". Er kommt zu dem Schluss, dass Saids Kulturbegriff je nach Werk variiert; in Orientalism wird ein holistischer Kulturbegriff vorausgesetzt. Die folgenden Texte befassen sich mit dem Themenkomplex "Wissenschaft und Orientalistik". Es sind spezifische Fallstudien mit Orientalismus-Bezug aus fachgeschichtlicher Perspektive von Ethnologie, Islamwissenschaft und Judaistik: Der Sozialanthropologe Édouard Conte setzt sich in "Julius Wellhausen und die 'Kinder Adams'. Die Aktualität der Orientalisten" mit dem Schaffen des Bibelforschers und Philologen Wellhausen (1844–1918) sowie – für nicht Eingelesene anspruchsvoll – mit dessen Rezeption aus fachhistorischer Perspektive auseinander. Die Arabistin Verena Klemm diskutiert "Orthodoxie versus Heterodoxie? Europäisch-christliche Konzepte und Begrifflichkeiten in den Schia-Studien". Ihre bestechende Analyse der althergebrachten Deutungstradition der Islamwissenschaft, welche die Schia als randständig und sektiererisch erachtet, ist spannend zu lesen und regt zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik an.

Der Judaist und Philosoph Reimund Leicht befasst sich mit der Rezeptionsgeschichte des jüdischen Philosophen Maimonides (1135–1204). In seinem anregenden Beitrag "Neu-Orient-ierung an Maimonides? Orientalistische Deutungsparadigmen in der jüdischen Aufklärung und der frühen Wissenschaft des Judentums" weist er nach, dass gerade die Orientalisierung von Maimonides, d. h. seine Einbettung in die arabische Wissenschaftskultur, zu dessen 'Wiederentdeckung' und einer verstärkten Rezeption seit der 'jüdischen Aufklärung' beitrug und somit Ausdruck des Gesamtphänomens einer "Neu-Orientierung des Judentums an orientalischen Vorbildern" (S. 97) sei.

Der zweite thematische Block widmet sich dem Thema "Raum und Orientalismus". Der Geograph Anton Escher liefert mit "Die geographische Gestaltung des Begriffs Orient im 20. Jahrhundert" einen brillanten Beitrag zur Fachgeschichte der Geographie im deutschsprachigen Raum und der Genese des Konzepts 'Orient' als Kulturerdteil. Die scharfsinnige Annäherung an das Konstrukt Orient als geographische Kategorie ist verbunden mit einer kritischen Reflexion über das Selbstverständnis des Faches. Der Ethnologe Jackie Feldman und der Kulturgeograph Amos S. Ron widmen sich dem "American Holy Land: Orientalism, Disneyization, and the Evangelical Gaze". Die faszinierende Fallstudie zu gegenwärtigem US-amerikanischem, protestantischem Pilgertourismus nach Israel zeigt auf, "how new Holy Land sites are tailored to reflect changing American Protestant gazes and expectations" (S. 151). Die Analyse des 'tourist gaze' mit seinen orientalistischen Einschreibungen, die identitätsstiftende Imagination des Heiligen Landes und dessen 'Disneyifizierung' eröffnen interessante Perspektiven auf die Orientalismusdebatte aus einer 'Nische' heraus. Der Architekt Joachim Ganzert widmet sich baugeschichtlichen Fragen: Im komplexen Text "Spielraum 'Neu-ORIENT-ierung' bzw. 'Neuorientierung'" beschäftigt er sich mit Architekturbefunden "aus Regionen des sogenannten Alten Orients" vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis in die hellenistische Zeit sowie mit der Rezeption der archetypischen Gültigkeit dieser Baukonzepte bis in unsere Zeit.

Die dritte thematische Sektion kreist um "Kunst und Orientalismus". Der Ethnologe Karl-Heinz Kohl behandelt "Verdis Aida und die Orientalisierung des Ägyptenbildes im 19. Jahrhundert". Kohl verweist dabei auf die wichtige Rolle des 'Alten Ägyptens' mit seinen Pyramiden, Obelisken und zerfallenen Tempeln in der westlichen Imagination des Orients – sowohl bei Verdis Aida als auch in der Literatur, Kunst und Wissenschaft des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen. Ines Weinrichs hervorragender, wunderbar 'komponierter' Beitrag über "Musik zwischen den Welten. Zur Entwicklung des modernen Musiklebens in arabischen Staaten" analysiert und reflektiert, wie die Wahrnehmung und Beurteilung von Musik von "kulturell erworbenen musikalischen Vorerfahrungen" (S. 225) geprägt ist. Ausgehend von Edward Saids Bewertung der arabischen Musik skizziert Weinrich äußerst kompetent die wechselseitige Wahrnehmung von europäischer und arabischer Musik, den Einfluss europäischer Musik, Werturteile gegenüber arabischer Musik sowie deren Transformation seit dem späten 19. Jahrhundert.

Der Kunsthistoriker Avinoam Shalem schreibt kritisch "Über die Notwendigkeit, zeitgenössisch zu sein: Die islamische Kunst im Schatten der europäischen Kunstgeschichte". Der luzide Beitrag analysiert scharfsinnig die Rezeption und Darstellung islamischer Kunst und Architektur in kunstgeschichtlichen Sammelwerken des 20. Jahrhunderts und arbeitet als charakterisierende Haltung den eurozentristischen Blick und eine anthropologische Betrachtungsweise der Kunst des außereuropäischen Raums heraus. Islamische Kunst werde in die Vergangenheit gesetzt und scheine keine Gegenwart zu haben, d. h. es gibt keine islamische Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. So hält Shalem fest: "Es bleibt Aufgabe der Historiker, 'The Lost Century' der islamischen Kunst zu entdecken und das Bild von der islamischen Kulturwelt zu revidieren" (S. 260f).

Der Anthropologe Ivan Davidson Kalmar setzt sich mit westlichen Imaginationen des muslimischen 'Orients' auseinander. "The Turks of Prague: The Mundane and the Sublime" dekonstruiert anhand des Fallbeispiels des Prager Orloj die 'klassische' orientalistische binäre Opposition, wonach der Westen wissend/rational erscheint und der Osten unwissend/irrational. Die 'türkischen' Figurinen am Prager Orloj aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, die das Stereotyp des Gelehrten aus dem 'Orient' – des "turbaned Islamic savant" (S. 265) – aufgreifen, bezeugen, dass diese Dichotomie einst umgekehrt war. Bis ins späte 18. Jahrhundert wurde der 'Orient' mit säkularem Wissen und Wissenschaft assoziiert, während man den 'Westen' mit Religion gleichsetzte.

Den Abschluss des Bandes bildet Birgit Schäblers "Riding the Turns: Edward Saids Buch 'Orientalism' als Erfolgsgeschichte". Dieser letzte, hilfreiche Überblicksartikel über die Rezeption von Said bzw. Orientalism anhand des Konzepts der cultural turns korrespondiert mit dem ersten ideengeschichtlichen Beitrag und rundet das breite thematische Spektrum des Sammelbandes ab. Schäbler zeigt auf, wie Orientalism "es in spektakulärer Weise geschafft hat, bis heute erfolgreich auf den intellektuellen Wellenkämmen der (Kultur)Wissenschaft zu reiten und dabei über drei Jahrzehnte hinweg 'oben zu bleiben'" (S. 281).

Fazit: Orient – Orientalistik – Orientalismus ist ein spannender Sammelband, der nicht nur durch die Bandbreite der Themen und Perspektiven besticht, sondern auch durch deren erfrischende Zusammensetzung: eine ausgeglichene, schön komponierte Mischung aus historischen Zugängen und gegenwärtigen Bezügen, Überblicksartikeln und spezifischen Fallstudien, bekannten Phänomenen und Randerscheinungen im Orientalismus-Diskurs. Die sorgfältig zusammengestellte Publikation zeichnet sich durch ein allgemein hohes Niveau der Beiträge aus, die zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex inspirieren. Das durchaus ambitionierte Ziel der HerausgeberInnen, mit diesem Band der "Orientalismus-Debatte ideengeschichtlich und anhand konkreter empirischer Studien weitere Substanz zu verleihen" (S. 7) ist zweifelsohne geglückt: meine uneingeschränkte Empfehlung!

Autor/innen-Biografie

Caroline Herfert

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Arabistik in Wien. 2009–2011 Mitarbeiterin des Don Juan Archivs Wien. 2011–2014 DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Projektmitarbeiterin am tfm (Universität Wien). Promotion (2015) über Wiener Theatergeschichte um 1900 im Kontext der europäischen Orientmode. Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe / Hamburg und die frühe Globalisierung" an der Universität Hamburg.

Publikationen:

Auswahl:

–, Orient im Rampenlicht: Die Inszenierung des Anderen in Wien um 1900. Berlin 2018. [= Dissertation].

–, "Go East! Die Okkupation Bosniens 1878 als inszenierte Kulturmission". In: Episteme des Theaters: Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit. 12. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Hg. v. Ulrike Haß [u. a.]. Bielefeld 2016, S. 277–286.

–, "Between 'Romantic Reverie' and Critical Account: the Representation of the Harem in Murad Efendi's Work (1872–1876)". In: Ottoman Empire & European Theatre – From the Beginnings to 1800. Volume III: Seraglios & Harems. Hg. v. Michael Hüttler/Hans Ernst Weidinger. Wien 2016, S. 205–227.

–, "L'Orient mis en scène: Murad Efendi, le 'Turc viennois'". In: Vienne, porta Orientis. Hg. v. Dieter Hornig/Johanna Borek/Johannes Feichtinger. Mont-Saint-Aignan Cedex 2013. [= Austriaca74, 2012], S. 11–19.

–, "'Wenn man das Gebäude betritt, ist man in Aegypten!' Reiselust, Exotik und Zirkus in Wien". In: Artistenleben auf vergessenen Wegen. Eine Spurensuche in Wien. Hg. v. Birgit Peter/Robert Kaldy-Karo. Wien 2013, S. 121–141.

Veröffentlicht

2011-12-14

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft