Helmut Pflügl (Hg.): Mein 20. Jahrhundert: Der Traum vom Glück. Ungarische Geschichte im Spiegel der nationalen Spielfilmproduktion.

Wien: Filmarchiv Austria 1999. ISBN 3-901932-05-4. Preis: ATS 198,-

Autor/innen

  • Christian Rapp

Abstract

Die Ungarn - dein unbekannter Nachbar? Meinen wir nicht jede Menge prominenter ungarischer Regisseure, Produzenten und Kameraleute nennen zu können, wenn auch über den Umweg Hollywood und mit amerikanisierten Namen? Vilmos Fried alias William Fox, Mihály Kertész alias Michael Curtiz, Sándor Korda alias Alexander Korda usw. Auch István Szabó ist uns doch geläufig, spätestens seit der legendären Umarmung durch Klaus Maria Brandauer anläßlich der Oscar-Verleihung für Mephisto. Dann beginnt es aber auch schon zu stocken. Zoltán Fábri, András Kovács, Miklós Jancsó als wichtige Regisseure der 50er Jahre sind uns ebensowenig geläufig, wie die Namen István Gaál, Pál Gábor oder Zoltán Huszárik als Vertreter einer ungarischen Spielart der Nouvelle Vague. Darauf, daß die Unkenntnis Ungarns und seines Kinos keine einseitige ist, weist Regisseur Zsolt Kézdi-Kovács hin. Bei der Suche nach österreichbezogenem Archivmaterial in ungarischen Wochenschauen fand er - nichts. "Kein einziges Ereignis, kein einziges Bild wurde über dieses Nachbarland je gezeigt." (S. 18) Dabei gab es noch bis in die 30er Jahre einen höchst regen Austausch zwischen ungarischem und deutschsprachigem Film. Das belegen nicht zuletzt die zahlreichen deutschen Fremdworte, die in Ungarn bis heute gebraucht werden wie fárt, svenk, snitt, muszter oder dréfertig.

Letzten Herbst organisierte das österreichische Filmarchiv zusammen mit dem Ungarischen Kulturinstitut eine dringend fällige Nachhilfe über das ungarische Filmschaffen: sowohl in Form einer Retrospektive mit fast 50 Filmen als auch durch eine ausführliche begleitende Dokumentation, die Helmut Pflügl zusammengestellt hat. Die Kuratoren wählten durchwegs Filme aus, die sich mit der Geschichte ihres Landes im 20. Jahrhundert befassen. Das hat gute Gründe. Wie Helmut Pflügl anmerkt, hat das ungarische Kino seit 1945 "eine konsequent geschichtsbewußte Position bezogen" (S. 9). Keineswegs aus sentimentalen Gründen, vielmehr ließen sich damit - gerade zu Zeiten politischer Kontrolle - Spiegelbilder entwerfen, vor denen sich aktuelle gesellschaftliche Zustände scharf konturieren ließen. Vor allem die Zeit um 1918/19, als Ungarn innerhalb weniger Monate den Zusammenbruch des Habsburger-Reiches, die Räterepublik unter Béla Kun und schließlich den Sieg des Horthy-Regimes miterlebte, ist bis heute ein geradezu unerschöpflicher Fundus für politische Allegorien, kurvenreiche Erzählungen und Biographien. Selbst politisch unbedarfte, einfache Menschen konnten damals schnell in die Rolle des Rebellen oder des Verfolgten geraten. Wenn nun in den 50er Jahren darüber Filme gemacht wurden, hatte man es also immer auch mit Codierungen der Gegenwart zu tun. "In der Zeit der Diktatur", so Kézdi-Kovávs, "bedienten sich unsere Filme der Metaphernsprache, der Methode der übersetzten Symbolik. Damals wurden wir von unseren Zuschauern verstanden." (S. 17)

Helmut Pflügl stellt in seinem Aufsatz über das ungarische Kino, abgesehen vom Interesse an der Geschichte, aber auch noch ästhetische Eigenschaften fest, die das ungarische Kino charakterisierten: vor allem das innige Verhältnis zu Malerei und Fotografie. "Selten findet man in den Kinematografien anderer Länder so viele Spielfilmregisseure, die eine derart sorgfältig ausgeklügelte fotografische Gestaltung des Filmbildes kultivieren…" (S. 26). Das ungarische Kino ist seiner Ansicht nach ein Kino der Kalligrafen und der Maler. Filmregisseure und Kameraleute gingen mit einer Neugier an die Kompositionen von Bildern, die im Westen nur bei Experimentalfilmern anzutreffen sei.

Freilich besteht bei der Beschreibung "nationaler" Charakteristika immer die Gefahr einer unzulässigen Pauschalisierung. Und gerade in den Filmen der 80er Jahre scheint sich das ungarische Kino mindestens ebenso intensiv mit alternativen Erzählformen befaßt zu haben. Oft ist ein geradezu mikroskopischer Blick auf Milieus und beklemmende Orte Ausgangspunkt für eine kunstvoll gestrickte Parabel. Mit der Wende von 1989 veränderte sich der Typus der Erzählung. War bis dahin der kleinbürgerliche Traum vom Aufstieg innerhalb eines kapitalistisch durchzogenen Sozialismus ein beliebter Refrain der Filme, so wurde nun die soziale Erosion der gesamten Gesellschaft zum verbindlichen Rahmen vieler Erzählungen. Was da an Überlebensstrategien gezeigt wird, hat immer auch Modellcharakter.

Auch das ungarische Filmgeschäft selbst blieb von der wirtschaftlichen Erosion nicht verschont. Noch Ende der 1980er zählten die Ungarn zu den fleißigsten Kinogehern weltweit. Dann brachen die Zuschauerzahlen, aber auch die heimische Produktion fast zusammen. Mit billigen Videoproduktionen und internationalen Kooperationen versucht man seither, sich gegenüber dem amerikanischen Kino zu behaupten. Daß sich manche amerikanischen Erfolgsfilme der letzten Jahre einer Dramaturgie und Bildästhetik bedienen, die das ungarische Kino schon viel länger beherrscht, gehört dabei zu den Ungerechtigkeiten des Geschäfts. Umso verdienstvoller ist es, das beachtliche Potential des ungarischen Kinos mit Buch und Filmreihe resümiert zu haben.

Autor/innen-Biografie

Christian Rapp

Kulturhistoriker, Ausstellungsmacher, Publizist. Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Wien.

Publikationen:

Publikationen (Auswahl):

  • Höhenrausch - Der deutsche Bergfilm. Sonderzahl 1997.
  • Smart exports - Österreich auf Weltausstellungen 1851 - 2000. Christian Brandstätter 2000. (gemeinsam mit E. Krasny, U. Felber)

Veröffentlicht

2001-05-29

Ausgabe

Rubrik

Film