Michael Achenbach, Paolo Caneppele, Ernst Kieninger: Projektionen der Sehnsucht. Saturn - Die erotischen Anfänge der österreichischen Kinematografie.

ca. 200 S. Wien 1999 (Edition Film und Text 1). ISBN 3-901932-04-6. Preis: ATS 149,-Projektionen der Sehnsucht. 12 ausgewählte Saturn-Filme 1906-1910. Edition Film und Text 1. 60 min. VHS/PAL/deutsch. Preis: ATS 298,-Video und Buch zusammen: ATS 398,-

Autor/innen

  • Christian Rapp

Abstract

Mit einer Reihe von Enthüllungen hatte letzten Herbst das Filmarchiv Austria aufzuwarten: Eine neue Schriftenreihe wurde vorgestellt, die Edition Film und Text, die sich in ihrer ersten Ausgabe mit der frühen erotischen Filmproduktion in Österreich befaßt. Und eben diese - so die Autoren - habe nichts weniger als die österreichische Filmindustrie begründet. (S. 26)

Irgendwie haben wir es ja immer geahnt, daß dieses Medium von Licht und Schatten eher im Obskuren seinen Ursprung hat als in heiteren Märchen und harmlosen Dokumentationen, wie uns die Filmgeschichte weismachen will. Auch daß Wien, parallel zu Paris, zur Entwicklung dieses Genres prädestiniert war, überrascht da wenig. Hier wie dort gibt es eine lange Tradition erotischer Literatur und Bildproduktion. Diese hängt, wenn man Norbert Elias folgt, wesentlich mit der Bindung des Adels an den Hof und dessen gleichzeitiger Entfunktionalisierung zusammen. Die stete Kultivierung des Genusses wurde diesem schließlich zur einzigen Lebensaufgabe. Nicht zufällig wurden um die Jahrhundertwende pornographische Filme "vorwiegend in adeligen Kreisen produziert und vertrieben". (S. 31) Der aristokratische Touch war aber auch für harmlosere "erotische" Filme ein gängiges Etikett. Nacktheit ließ sich offenbar leichter durch Zensur und die zeitgenössische Doppelmoral schleusen, wenn es die Distinktion des "Connaisseurs" ansprach. Schon der Begriff "pikanter Herrenabend-Film" enthüllt diesen Zusammenhang.

Die Autoren erwähnen freilich noch andere wichtige Verknüpfungen zwischen Kinematographie und erotischer Motivik: die phantastische Literatur mit ihren Hypnose-Ritualen, die Orientmode, der Tanz, das Atelier des Künstlers. Sie alle bereiteten lange vor dem Laufbild die Ikonographie des erotischen Kinos vor. Weniger bekannt ist die Beziehung zum medizinischen Voyeurismus, wie Paolo Caneppele in seinem Beitrag ausführt. Auf die Vorführung sogenannter Operationsfilme, auf Filme über Krankheiten und mißgebildete Körper geht angeblich auch der Begriff des polizeilich verordneten "Herrenabends" zurück. Mit diesem Begriff überschreibt Ernst Kieninger seinen Aufsatz über die Erotik im Wanderkino. Auch er kommt zu einem ähnlichen Resultat: Das nomadische Kino war schon von seinen Aufführungsbedingungen her so manchen schlüpfrigen Jahrmarktsattraktionen verwandt. Dementsprechend wurde unter dem Vorwand "wissenschaftlicher" Sensationen und exotischer Darbietungen gerne auf "pikante" Darstellungen zurückgegriffen. Erst um 1910 nahmen Zensurprozesse und die stärker werdende Opposition vor allem des Klerus den Kinobesitzern die Lust auf derlei riskante Veranstaltungen. Anders gesagt: Je seßhafter Kinobetreiber wurden, desto weniger waren sie bereit, die gewonnene bürgerliche Reputation durch erotische Filme aufs Spiel zu setzen. In einem Inserat der Kinematographischen Rundschau von 1912 möchte ein Filmverleiher daher "feinpikante Herrenfilms, tadellos" … gegen ein "langes Sittendrama mit Asta Nielsen" eintauschen. (S. 70)

Am Beispiel der österreichischen Produktionsfirma "Saturn", deren Dokumentation schließlich Anlaß für Buch und Filmreihe waren, verfolgt Michael Aschenbach eine ungewöhnliche Unternehmensgeschichte. Geschickte Manöver zur Umgehung der Zensur, der Kampf um den vor allem französisch dominierten Markt, aber auch der notwendige Schutz gegen Urheberrechtsverletzungen prägten das kurze Leben der "Saturn". Produzent Johann Schwarzer führte sogar ein eigenes Logo ein, daß an den Bühnenkulissen angebracht war - gewissermaßen als Wasserzeichen, das echte von nachgemachten Produkten unterscheiden sollte. Er legte graphisch schön gestaltete Kataloge über die Filme mit Illustrationen und ausführlichen Szenenbeschreibungen in verschiedenen Sprachen auf. Einer davon ist im Buch abgedruckt. Doch trotz der verblüffend frühen Corporate Identity waren die Filme nicht vor Manipulationen sicher. Als einem österreichischen Konsul in Tiflis von pornographischen Filmen berichtet wurde, noch dazu mit Päderastie treibenden Priestern, wurde Johann Schwarzer der Prozeß gemacht. Dabei traf ihn der Vorwurf zu Unrecht. Ein Unbekannter dürfte ein Stückchen "Saturn"-Film in das inkriminierte Material hineinkopiert haben. Dennoch mußte Schwarzer seine Produktion einstellen.

Wie sahen nun diese "Saturn"-Filme aus? Das meiste läßt sich schon aus den Titeln erschließen: Baden verboten; Sklavenraub; Der Traum des Bildhauers; In der Garderobe; Die Macht der Hypnose; Der Hausarzt; Zimmer zu vermieten. Es bedarf nur wenig Phantasie, um sich die dazugehörigen Bilder zu vergegenwärtigen. Sie leben hauptsächlich von den vielen Dessous-Schichten, deren sich die Damen zu entledigen hatten. Dazwischen platzen, natürlich stets überraschend und stets eher unfreiwillig komisch, männliche Akteure ins Bild. In einigen Filmen spürt man das Anlehnungsbedürfnis an die zeitgenössische Bildkultur, an Illustrationen und Karikaturen, vor allem wenn Badende sich im Stil von Fidus auf den Wiesen ausbreiten oder durch den Wald tänzeln. Das wirklich Spektakuläre an den "Saturn"-Filmen ist eigentlich ihr verklemmtes Verhältnis zur Erotik. Da spürt man, gerade in den künstlerisch "ambitionierten" Szenen, die Mischung aus Neugier und Argwohn der zeitgenössischen (männlichen) Öffentlichkeit.

Zu den besonderen Qualitäten des kleinen Buches gehört die präzise Recherche zum Teil weit verstreuter Quellen. Es galt, unzählige Kinozeitschriften zu durchforsten, aber auch in Archiven nach Beschwerden und Prozeßakten zu fahnden. Das Ergebnis ist eine materialreiche Darstellung bislang unbekannter heimischer Kinopioniere sowie jenes Milieus, in dem diese ihre Filme produzieren und vertreiben konnten. Nur eine entscheidende Frage bleibt dem Leser unbeantwortet: Wer waren all die Dianas, Dienstmädchen und lüsternen Ehefrauen in Wirklichkeit? Produzenten und Verleiher fanden früher oder später zumeist zurück in untadelige Sparten des Filmgeschäfts. Wo aber kamen die hin, von denen sie lebten?

Autor/innen-Biografie

Christian Rapp

Kulturhistoriker, Ausstellungsmacher, Publizist. Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Wien.

Publikationen:

Publikationen (Auswahl):

  • Höhenrausch - Der deutsche Bergfilm. Sonderzahl 1997.
  • Smart exports - Österreich auf Weltausstellungen 1851 - 2000. Christian Brandstätter 2000. (gemeinsam mit E. Krasny, U. Felber)

Veröffentlicht

2001-05-29

Ausgabe

Rubrik

Film