Maria Gerolemou: Bad Women, Mad Women. Gender und Wahnsinn in der griechischen Tragödie.

Tübingen: Gunter Narr 2011. (Classica Monacensia: 40). ISBN 978-3-8233-6580-8. 442 S. Preis: € 98,–.

Autor/innen

  • Aneta Bialecka

Abstract

Die Konnotationen der weiblichen 'Mania' in der attischen Tragödie manifestieren sich traditionellerweise in den Formen eines pathologischen Krankheitsbildes oder religiöser Ekstase; sie reichen von körperlicher Agressivität einer Mörderin über exzessive Kultpraktiken bis zum ziellosen Umherschweifen im Exil. Die klassische Philologin Maria Gerolemou etabliert hingegen in ihrer nun publizierten Münchner Dissertationsschrift einen revisionistisch-gesellschaftskritischen Begriff des Wahnsinns, den sie als geschlechtsspezifisches Konstrukt patriarchaler Reglementierung definiert. Methodisch bemerkenswert ist die Differenzierung zwischen der altgriechischen 'Mania' und der modernen 'Madness', die eine theoretisch zwanglose Relektüre ausgewählter Dramen und eine neue heuristische Perspektivierung ermöglicht.

Sechs Studien zu aischyleischen, sophokleischen und euripideischen Tragödien, in einem chronologischen Aufbau vorgestellt – wodurch allerdings die Fokusierung und Präzision der Fragestellung leidet –, diskutieren Ansätze einer progressiven Subjektkonstituierung des Weiblichen in der tragischen Gattung des attischen Dramas. Die Autorin greift zwei dramaturgische Modelle auf, anhand derer sie die komplexen Versuche eines Individuationsvorgangs spezifiziert. Vermeintlich gesellschaftspathologische Phänomene im weiblichen Verhalten liegen in der Gender-Perspektive Gerolemous einerseits in der Entfremdung der Protagonistinnen von ihrer patriarchal determinierten weiblichen Rolle und einem Eingriff in das männlich dominierte Religions- und Machtgefüge einer Polis, andererseits in einem exzessiven, übersteigerten Ausleben der Weiblichkeit als Mutter oder Ehefrau.

Als methodische Referenz dient der Verfasserin das Standardwerk der amerikanischen Feministin und Psychologin Phyllis Chesler Women and Madness[1], die den Begriff des weiblichen Wahnsinns als Code patriarchaler Frauenunterdrückung in den Second-Wave-Feminismusdiskurs einführte. Chesler artikulierte in ihrer Kritik an institutioneller Psychiatrie und Psychologie der westlichen Gesellschaften die Auffassung von psychischer Gesundheit als politischer Kategorie und weiblichen Krankheitsbildern als Formen geschlechtsspezifischen Widerstandes. In diesem Zusammenhang erweist sich Gerolemous Rückgriff auf die 1972 erschienene Publikation Cheslers sowohl als methodische Innovation und Herausforderung wie auch als Gefahr einer gesellschaftshistorischen Fehlinterpretation. Das Gesamtgefüge der attischen Polis mit westlichen Gesellschaftsstrukturen zu kontaminieren, erscheint methodisch unzulässig und ahistorisch.

Als folgenreicher und produktiver erweist sich die Untersuchung der Bereiche des privaten, häuslichen, weiblich konnotierten 'Oikos' und der öffentlichen, männlich dominierten 'Polis'. Die Autorin arbeitet am Beispiel der 'Exodoi' (der Austritte) der Protagonistinnen aus dem Oikos in den öffentlichen Raum der Polis differenzierte normkonforme oder die gesellschaftlichen Regeln verletzende Akte minutiös aus. Demzufolge wird der Begriff des Wahnsinns um eine metaphorische, räumliche Komponente erweitert, in dem Prozesse oder zumindest Versuche der Subjektkonstituierung erfolgen.

Die Auswahl der zur Diskussion vorgestellten Tragödien zeichnet ein reflektierter Umgang mit komplexen Konstruktionen literarischer Figuren aus, die ein differenziertes, breites Spektrum an politischem und sozialem Fehlverhalten innerhalb der attischen Polis demonstrieren. Neben der aischyleischen Klytaimestra (Kap. 2) weisen die euripideischen Figuren Medea (Kap. 6) und Agaue (Kap. 7) ein subversives Potential an Rollenentfremdung auf, die sie im Verlauf der Handlung zu Mörderinnen mutieren lässt. Gerolemous Studie zielt dabei vordergründig eher auf die Analyse politisch-gesellschaftlicher Prämissen der weiblichen Affektbildung, denn auf ihre martialischen Ergebnisse.

Klytaimestra, die "career woman" (S. 81) unter den attischen Protagonistinnen, wird bereits im ersten Epeisodion als Herrscherin über den argivischen Oikos und die Polis gekennzeichnet. Ihr Eintreten in den öffentlichen Raum beinhaltet in diesem Kontext keine Normverletzung, da Klytaimestra während der Abwesenheit ihres Mannes das höchste Amt für sich beansprucht. Umso subversiver werden ihre herausragenden rhetorischen Fähigkeiten vom Chor der Greise mit Verstörung registriert, da Rhetorik ausschließlich der männlichen Sphäre zugeordnet ist. Klytaimestras politische Autorität, die sie mit ihrer sprachlichen Kompetenz und einem bedrohlichen Wissensreservoir akzentuiert, wird aus geschlechtspezifischen Gründen vom Chor lediglich durch temporäre Zugeständnisse nivelliert: Sie bleibt Herrscherin über ein herrenloses Land. Im Kampf um die Legitimation ihrer Machtansprüche betrachtet sie den zurückgekehrten Agamemnon als politischen Konkurrenten, der ihren gehobenen Status innerhalb der Polis mit seiner Anwesenheit degradiert.

Im Kräftemessen um politische Hegemonie zeichnet sich ein ambivalentes, für das patriarchale Konstrukt der Polis zerstörerisches Verhältnis in der Behandlung von Privatheit und Öffentlichkeit ab. Während Klytaimestra nicht zuletzt um die Anerkennung des politischen Aspekts der Opferung ihres gemeinsamen Kindes Iphigenie kämpft, wird die Ermordung Agamemnons in den häuslichen Bereich des Oikos versetzt und als Wahnsinnstat der Ehefrau nicht weiter öffentlich diskutiert.

Das Verlassen des Oikos markiert einen signifikanten und traumatischen Moment, in dem die Frau in Folge eines gesellschaftlichen Statusverlusts oder der Bedrohung ihrer sozialen Stellung sich aktiv – wie etwa die Hiketiden – hilfesuchend an die Gemeinschaft der Polis wendet. Der widerwillige Auftritt der euripideischen Medea vor der ihr fremden korynthischen Öffentlichkeit signalisiert jedoch vielmehr einen Paradigmenwechsel dessen, was die griechische Tragödie als 'weiblich' und 'männlich' definiert. Ähnlich wie Deianeira (Kap. 4) verlässt Medea die Rolle der hingebungsvollen Ehefrau und Mutter zugunsten eines Daseins als heroische, wenn auch rachsüchtige Exilantin. Beide Protagonistinnen, die mit der Degradierung ihres gesellschaftlichen Status zu Nebenfrauen konfrontiert werden, entschließen sich, mit Waffen zu kämpfen. Gerolemou bemerkt hier, dass die ursprüngliche Normenverletzung in der Dysfunktion der Polis und des Oikos liegt und dramaturgisch konnotiert wird.

In der Medea wird das Kontinuum der Polis kaum herausgebildet; der korynthische Palast wird primär im Kontext der familiären Verhältnisse und nur sekundär als eine Machtinstanz gesehen, wodurch die euripideische Tragödie zu einem Kammerstück über den Konkurrenzkampf zweier Oikos-Bereiche stilisiert wird: des gehobenen attischen und des barbarischen Medeas. In den sophokleischen Trachiniai fehlt die Polis schlichtweg; zudem wird die Anwesenheit des Mannes im Oikos benötigt, in dem er sich, in der konservativen Auffassung der Tragödie, als einziger Garant des Reifeprozesses der Frau behaupten kann.

Die Exilantin – eine barbarische Fremde wie Medea, die zudem über eine halbgöttliche Provenienz verfügt – gehört in der Polis zu den die innere Stabilität wesentlich gefährdenden Faktoren. Dabei bewegt sich der Problemradius nicht um das schwierige Verhältnis zwischen Oikos und Polis, sondern um das Eindringen der Fremden in die Stadt. Das Erscheinen aischyleischer Hiketiden (Kap. 3), die vor ihren ägyptischen Verlobten fliehen, weckt in Argos Ängste, einen religiösen Konflikt heraufzubeschwören. Nicht das Geschlecht der Flüchtlinge, sondern ihr politisch-religiöser Status entscheidet positiv über das Asylverfahren. Erst im Zuge der gesellschaftlichen Inkohärenz, im exzessiven Ausleben ihrer Unabhängigkeit vom Ordnungssystem der Polis wird der geschlechtliche Faktor eine gefährdende Funktion spielen. Das Gefüge von religiöser Pflicht, die individuelle Ungehorsamkeit einfordert, hier in groben Zügen das weibliche Prinzip, trifft unweigerlich auf ordnungsregulierende und disziplinierende Maßnahmen der patriarchalen Polis.

Diese Konstrukte erlauben eine Erweiterung: Antigone (Kap. 5) repräsentiert den philosophischen Inbegriff der Natur, der mädchenhaften Wildheit und schließlich des Todes gegenüber einem Kreon, der die Staatsräson, das Gesetz der Polis, das politische Gebilde vertritt. Der Kampf der beiden Gegenpole, den auch die euripideischen Bakchai (Kap. 7) demonstrieren, hat einen endgültigen Charakter und zerstört unwiderruflich beide Kräfte. Hinter dieser auktorialen Didaxe der Tragödie offenbaren die Bakchantinnen alternative Freiräume im Kultritus, denn der vermeintliche ekstatische religiöse Wahn erscheint gleichzeitig als Sphäre der Privatheit, in der die Polis eine unerlaubte und gefährliche Autonomie der Frauen wahrnimmt.

Anhand einer präzisen und problembezogenen Inhaltsanalyse der Dramen gelingt es Gerolemou, zwei grundlegende, komplexe Fragestellungen auszuarbeiten: Vermeintliche Wahnzustände konnotiert die attische Tragödie einerseits durch die Entfremdung der Protagonistinnen von ihrer weiblichen Rolle, die sich in einem Machtkampf um das Erhalten ihres gesellschaftlichen Status manifestiert, also eine politisch-soziale Dimension ihrer Existenz betont. Andererseits erweisen sich religiöse Kulte und Pflichten als alternative Freiräume, in denen Weiblichkeit in einem exzessiven Rausch oder Diskurs – geschlechtliche Normen verletzend – ausgelebt wird. Jedoch anders als Stavroula Georgopoulou-Goulette in ihrer Pariser Dissertation[2] von 1997 zur Kategorie der versklavten Frau in der griechischen Tragödie, bezieht sich Gerolemou auf den formalen Aspekt der attischen Tragödie und die realhistorischen Fragestellungen nur am Rande. Während die Pariser Arbeit den Prozess der Versklavung und neben der werkimmanenten Analyse Untersuchungen des juristischen Status, der metaphorischen Abhängigkeit, aber auch Formen der Unabhängigkeit der Frau von der Polis altphilologisch und geschlechtsspezifisch reflektiert, bietet Gerolemous Studie eine präzise, detaillierte und komplexe Textanalyse im Gender-Kontext.

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[1] Phyllis Chesler: Women and Madness. New York 1972.

[2] Stavroula Georgopoulou-Goulette: La femme esclave dans la tragédie grecque. Féminin et dépendance dans l'imagination poétique. Villeneuve d'Ascq 2002.

Autor/innen-Biografie

Aneta Bialecka

Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Slawistik in Wien. 2008 Abschluss mit einer Diplomarbeit zur Ikonographie des Joculators in medizinisch-astronomischen Handschriften und Inkunabeln des 15. Jahrhunderts. Derzeit Dissertantin und Lehrbeauftragte am Institut tfm in Wien.

Publikationen:

-: "Die Enthauptung des Marsyas. Prolegomena zur Rahmenästhetik Vlado Kristls". In: Vlado Kristl. Der Mond ist ein Franzose. Hg. v. Christian Schulte/Franziska Bruckner/Stefanie Schmitt/Kathrin Wojtowicz. Wien/Köln/Weimar 2011 (= Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft; Heft 3–4/2011), S. 195–204.

-: "Spectaculum scarlaci. Ritualität zwischen sozialer Integration und politischer Usurpation". In: Grenzen des Rituals. Wirkreichweiten – Geltungsbereiche – Forschungsperspektiven. Hg. v. Andreas Büttner/Andreas Schmidt/Paul Töbelmann. Köln/Weimar/Wien 2014 (= Norm und Struktur; Bd. 42), S. 49–71.

-: "Martyrdom as an Act of Divine Power and Pagan Violence. A Visual Reading of Hrotsvit's Dramas in the Late 15th Century". In: Power and Violence in Medieval and Early Modern Drama. Hg. v. Cora Dietl/Christoph Schanze/Glenn Ehrstine. Göttingen 2014, S. 104–131.

Veröffentlicht

2011-06-15

Ausgabe

Rubrik

Theater