Peter Johanek (Hg.): Bild und Wahrnehmung der Stadt.
Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2012. (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen: 63). ISBN 978-3-412-20595-9. 187 S. Preis: € 35,90.
Abstract
Der neue Tagungsband des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster entdeckt neue Forschungsgegenstände und erweitert das methodische Instrumentarium. Das dialektische Verhältnis vom Stadtbild und seiner Wahrnehmung, das hier in einem Zeitbogen vom 12. bis ins 19. Jahrhundert reicht, eruiert überraschende Kontinuitäten. Untersuchte literarische und visuelle Stadtdarstellungen der Vormoderne und der frühen Neuzeit demonstrieren zudem nicht selten, dass Fiktionalität eine wesentliche Voraussetzung für die Realität bietet.
Es war der französische Mediävist Jacques Le Goff, der beim Anblick der New Yorker Skyline die Nachfolgebauten der mittelalterlichen Türme von San Gimignano zu erkennen wagte. Die emporragenden Konzernsitze Manhattans und die noch immer das Bild der toskanischen Stadt bestimmenden langgestreckten Kuben der Adelsresidenzen vereinte für Le Goff ihr Prestige- und Repräsentationscharakter. Auch wenn die politisch-historischen und wirtschaftlichen Kontexte der Entstehungszeit dieser Objekte wie auch ihr rein funktionaler Charakter kaum vereinbar sind, stehen diese alten und neuen Wolkenkratzer in einer gemeinsamen Tradition.
Peter Johanek greift in seinem den Band eröffnenden Beitrag dieses mittlerweile oft zitierte Beispiel auf, um an "das Fortdauern mittelalterlicher Traditionsbestände in der Vorstellung von Stadt" (S. 23) zu erinnern. Das Fortdauern bezieht sich jedoch nicht ausschließlich auf das architektonische Erbe des Mittelalters, sondern ebenfalls auf Traditionen der textuellen und visuellen Stadtdarstellung. Johanek plädiert in seinem Aufsatz für eine quellenkritische Aufarbeitung insbesondere des Bildmaterials, das zudem nur in einer interdisziplinären Kooperation hinreichend erforscht werden kann. Gerade bei den spätmittelalterlichen, reich bebilderten Drucken sind derartige Verfahren notwendig. Denn oft erweist sich ein und derselbe Holzschnitt einer Idealstadt als Emblem gleich mehrerer Orte: In der Cronecken der Sassen (1492) von Conrad Bote wird u. a. für Hildesheim, Münster, Hamburg, Speyer und Halberstadt eine einzige urbane Landschaft benutzt. Allein das im Vordergrund positionierte Stadtwappen gibt genaue Auskunft über die Lokalität. Der einfachen Bildkomposition zum Trotz weisen diese visuellen Dokumente auf komplexe Wahrnehmungsmuster hin, die der Band anhand der Archivalien explizit diskutiert.
Das lateinische Substantiv 'urbs' meint jede größere, mit einer Mauer umgebene Stadt; es ist jedoch nicht die einzige Bezeichnung, die im Mittelalter für eine Ansiedlung gebräuchlich war. Isidor von Sevilla differenzierte zwischen dem architektonischen Gebilde 'urbs' und 'civitas', der Gesamtheit der Bürger ('cives') der Gemeinde. Jegliche kulturelle Aktivität, die diese Gemeinschaft vollzog, ob Feste, Prozessionen oder Umzüge, bedeutete die Produktion von neuen 'Stadtbildern'. Diese ephemeren, in der Interaktion entstandenen Konstrukte gehören für Peter Johanek und Lucas Burkart neben den materiellen, auch heute noch sichtbaren Artefakten unabdingbar zum Repertoire jener Zeugnisse der Bebilderung und Wahrnehmung des urbanen Raumes. Diese temporären Gebilde konnten etwa den städtischen Marktplatz mittels der christlichen Narration eines religiösen Spiels zu einem sakralen Kontinuum transformieren oder eine ruhmvolle Vergangenheit wieder zum Leben erwecken.
Lucas Burkart entdeckte in Verona diese flüchtigen Formen am Beispiel fingierter Spaziergänge, die die Oberschicht 1484 zu antiken Monumenten und Grabstätten von Größen wie Plinius oder Vitruv unternahm. Diese Restauration antiker Kulturgeschichte, die auch die literarische Produktion erfasste, gehörte im Verona des ausgehenden 15. Jahrhunderts zum exklusiven Lebensstil der Patrizier. Die 1492 vollendete Loggia del Consiglio, die einen neuen Ratssaal beherbergte, wurde mit antikisierenden Säulen, Reliefs und Statuen ausgestattet. Nachdem die Stadt 1405 an Venedig fiel, wurden solche Rückgriffe auf Veronas antikes Erbe stets mit der Republik abgesprochen. Burkart konkludiert daraus, dass die Antikerezeption nicht primär als Emanzipationsversuch dem Machthaber gegenüber diente, der über eine weniger erhabene Vergangenheit verfügte, sondern vielmehr der politischen Profilierung der Veroneser Oberschicht. Die wenigen ratsfähigen Familien verfolgten damit eine Abgrenzungsstrategie nach Innen mit dem Ziel der Machtsicherung.
Das spätmittelalterliche Reval (heute Tallin) hinterließ eine vollkommen andere Art von urbanen Bildern. An den Rändern der städtischen Rechnungsbücher, neben den Einträgen von Einnahmen und Ausgaben, fertigten die Schreiber mehrere Hundert kleiner Skizzen an, die Juhan Kreem erforschte. Im europäischen Vergleich sind diese Randzeichnungen keine archivalische Rarität – jene in Reval überraschen jedoch durch ihre Anzahl und die Konstanz, mit der sie erstellt wurden. Die aus der Zeitperiode von 1432–1533 stammenden Skizzen von Rädern, Hufeisen, Waagen oder Feuerwaffen dienten offenbar primär als Suchhilfen. Das Hufeisensymbol verweist auf die Ausgaben der Kommune für den Schmied; bei dem Motiv der Waage handelt es sich um Zolleinnahmen aus der Stadtwaage und die Waffenpiktogramme weisen auf Militärausgaben hin. Die Frage, warum gerade diese Berufsgruppen bzw. Lebensbereiche einer Stadt auch visuell festgehalten wurden, ist heute kaum zu beantworten. Die erheblichen Ausgaben für die Schmiedearbeiten könnten die bildlichen Hervorhebungen rechtfertigen. Jedoch eine rein funktionale Aufgabe dieser Zeichen wäre sicherlich zu eng gedacht.
Kreem betont, dass die Randskizzen die "Wahrnehmung der Stadt aus der Sicht der Schreiber" (S. 69) wiedergeben. Einige der Piktogramme verweisen auf hohe Besuche und die damit verbundenen Ausgaben. Als dem Großfürsten von Moskau ein Pferd im Wert von 40 Mark überreicht wurde, markierte die Ausgabe dies mit einem Pferdekopf. In den Jahren 1497 und 1505 wurden neue Schiffe in Auftrag gegeben, ihre Piktogramme findet man am Rande der Rechnungen. Deren Skizzenhaftigkeit und Simplizität veranlassen Kreem zu der Vermutung, hier eine Erhöhung des Ereignisses durch die Einführung christlicher Ikonographie zu verorten. Mehrere Generationen von Schreibern führten die Tradition der Randzeichnungen fort. Ihr spontaner, fast zufälliger Charakter lässt die Vorgänge des Alltags wie auch besondere Ereignisse im faszinierenden Habitus einer Momentaufnahme erscheinen.
Einen nicht weniger aufschlussreichen Einblick in die Wahrnehmung neuzeitlicher Städte bietet der Beitrag von Maria Bogucka, die einige Beschreibungen der polnischen Weichselstädte untersucht. Während die westliche Gattung des Städtelobs in einem panegyrischen Ton die Stadt affirmativ preist, üben die polnischen Verfasser grundsätzlich Kritik an der von hektischer Betriebsamkeit und Gestank beherrschten Urbanität. Allein das Landleben und der Ackerbau garantieren eine moralisch fundierte Lebensweise. Sebastian Fabian Kolonowics Gedicht über seine Schiffsreise entlang der Weichsel schlägt jedoch mitunter auch Versöhnliches an. Aus seiner ungewöhnlichen Perspektive schildert der Schriftsteller nicht ohne Bewunderung die "flammähnlich leuchtenden Mauern" (S. 73) von Thorn, wo die Kirchtürme endlos zu sein scheinen, oder die roten Getreidespeicher von Danzig, die Multinationalität des Hafens und sein pulsierendes Wirtschaftsleben.
Desanka Kovačević-Koji konfrontiert hingegen in ihrem Aufsatz über das Belgrad des 15. Jahrhunderts Stadtbeschreibungen miteinander, die zwar von inneren und äußeren Blickwickeln bestimmt waren, aber doch Paralleles zu berichten wissen. Die Biographie des serbischen Despoten Stefan Lazarević von Konstantin dem Philosophen, einem der letzten byzantinischen Universalgelehrten und Chronisten, beinhaltet eine euphorische Deskription der befestigten Burg von Belgrad, der Tore, Kirchen und Spitäler. Was Konstantins Beschreibung mit französischen und italienischen Reiseberichten vereint, ist die Betonung der militärisch günstigen Lage Belgrads an der Mündung der Save in die Donau, die die Stadt auch verkehrstechnisch und damit wirtschaftlich begünstigte.
Raingard Eßer untersucht die bisher nur wenig erforschte Gattung der Chorographien unter den historiographischen Schriften in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts. Die topographisch-historischen Stadtbeschreibungen zeigen, wie different katholische und protestantische Autoren die urbanen Zentren wahrnahmen. Der katholische Hofhistoriker Jean-Baptiste Gramayes konzentriert sich in seiner Geschichte der Stadt Mechelen (lat. Original 1607) in den habsburgischen Niederlanden auf die Darstellung der religiösen Institutionen des 14. und 15. Jahrhunderts. Die aktuellen Ereignisse des Achtzigjährigen Krieges finden kaum Erwähnung. Die vorgestellten kirchlichen und städtischen Würdenträger scheinen die Kontinuität der katholischen Tradition Mechelens in ungebrochener Weise zu sichern.
Der protestantische Prediger Jacob van Oudenhoven hingegen veröffentlicht 1649 die Geschichte seiner Heimatstadt 's-Hertogenbosch, die bis 1629 unter dem Machteinfluss der Spanier stand. Die Kriegsbegebenheiten nehmen hier einen wesentlich breiteren Raum ein, als dies bei Gramayes der Fall ist. In einem lebhaften dramatischen Stil werden zudem Akteure der Geschehnisse, Prediger, Bürger und Soldaten in die Beschreibung eingeführt. Während Gramayes eine invariante Hierarchie von Kaiserhof, Kirche und Stadtrat in Mechelen aufzeigt, ist van Oudenhoven daran interessiert, eine aktive Geschichte der Bürger zu dokumentieren.
Eine Reihe von Aufsätzen widmet sich dem bewussten Spiel zwischen Realität und Imagination in den literarischen und bildlichen Stadtdarstellungen. Marc Boone und Elodie Lecuppre-Desjardin verdeutlichen etwa am Beispiel eines Planes von Brügge eine derartig komplexe Verschränkung von realer Topographie und erdachter Urbanität, die die Datierung der Karte erheblich erschwert (14.–16. Jh.). Wolfgang Schmid fragt hingegen, welche Strategien die Urheber der deutschen Stadtansichten und -beschreibungen der frühen Neuzeit verfolgten: Die Wiedergabe einer tatsächlichen Topographie oder die Konstitution eines spezifischen Images? Als nachweisbare Tatsache ist festzuhalten, dass etwa nur Köln und Trier als 'heilige' Städte apostrophiert werden – im Gegensatz zu jenen zahlreichen, die lediglich als Bildungs- oder Wirtschaftszentren Erwähnung finden. Angelika Corbineau-Hoffmann findet in der Fiktionalität lyrischer Werke der Moderne Fragmente von emotionalem und mentalem Erleben der zeitgenössischen Urbanität. Gerade das Gefühl der Fremdheit, der unabdingbare Topos der Stadtliteratur, wird zu einem geistigen Artefakt.
Die hochkarätigen Autorinnen und Autoren des vorliegen Bandes entdecken und verweisen auf bisher kaum untersuchte Bereiche der historischen Städteforschung. Ein bewusster methodischer Umgang insbesondere mit visuellen Medien lässt auf neue Erkenntnisse hoffen. Das Faktum, dass die Geschichtswissenschaften in den letzten zwei Jahrzehnten auch performative Formen in ihre Untersuchungen einschließen, könnte auch zu fruchtbaren Synergien zwischen Historie und Theaterhistoriographie führen.
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