Corinna Kirschstein/Sebastian Göschel/Fee Isabelle Lingnau (Hg.): Herbert Ihering. Umschlagplätze der Kritik. Texte zu Kultur, Politik und Theater.
Berlin: Vorwerk 8 2010. ISBN 978-3-940384-23-2. 296 S. Preis: € 19,–.
Abstract
Herbert Ihering (1888–1977) war einer der bedeutendsten Theaterkritiker der Weimarer Republik. Seine Aufführungsbeschreibungen und Schauspielerporträts zählen nach wie vor zu den wesentlichen Quellentexten für die Beschäftigung mit dem Theater während des Ersten und vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und wurden mehrfach herausgegeben. Weitgehend unbeachtet geblieben ist bisher seine Arbeit als Kulturtheoretiker und -politiker, die jetzt von Corinna Kirschstein, Sebastian Göschel und Fee Isabelle Lingnau gewürdigt wird.
Die Aufarbeitung seines Nachlasses an der Akademie der Künste förderte Artikel, Rundfunkgespräche, Reden u.v.m. zutage, die hier erstmals veröffentlicht vorliegen. Diese haben die HerausgeberInnen in ansprechender Form zusammengestellt und mit ausführlichen Kommentaren versehen. Der Band ist in zwei Blöcke geteilt, welche Texte aus "zwei zentrale[n] Umbruchszeiten des 20. Jahrhunderts" (S. 12) umfassen: Die Jahre vor 1933 werden unter dem Titel "Zwischen links und rechts" subsumiert; Iherings Tätigkeit nach 1945 steht unter dem Motto "Zwischen Ost und West". Die Phase des Zweiten Weltkriegs bleibe laut Vorwort aus konzeptuellen Gründen ausgespart, zumal Iherings Arbeit in dieser Zeit aus politischen Gründen stark eingeschränkt gewesen sei.
Der Band macht es sich zur Aufgabe, Iherings umfassenden Blick auf gesellschaftliche und politische Zusammenhänge aufzuzeigen, der "über Kritik im engeren Sinn deutlich hinausgeht" (S. 12). Die Auswahl der Texte erfolgte sowohl aufgrund ihrer zeitgenössischen als auch ihrer aktuellen Relevanz; sie gibt ebenso Einblick in zu Lebzeiten Iherings vorherrschende Debatten, wie sich aus ihr Fragen für die Gegenwart formulieren lassen. Zusätzlich zum Bemühen um Chronologie wurden die Arbeiten auch thematisch sortiert, um die Schwerpunkte von Iherings Schaffen deutlich zu machen.
Die zentralen Abschnitte der Publikation umfassen jene Werke, in denen Ihering u. a. die Aufgabe der Theaterkritik, ihre gesellschaftspolitische Bedeutung sowie die Verantwortung der KritikerInnen dem Theater gegenüber reflektiert. Proportional gesehen überwiegt dieses Thema in der zweiten Hälfte des Bandes, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass Ihering sich nach dem Zweiten Weltkrieg für einen Wiederaufbau des deutschen Theaters stark machte. In diesem Kontext forderte er bewusst eine Erneuerung der Theaterkritik ein, die er durch die Gleichschaltungsmaßnahmen der Nationalsozialisten – die 'Kritik' durch 'Kunstbetrachtung' ersetzten – schwer beschädigt fand. Die Folgen dieser Einflussnahme beschreibt Ihering in "Geist als Macht oder Die Notwendigkeit der Kritik" (1946); "Theater und Kritik" (1950) stellt die Frage nach einer möglichen Wiederholung jener Maßnahmen und den damit verbundenen Gefahren.
Für alle angehenden TheaterwissenschaftlerInnen zu empfehlen ist der Text "Theaterwissenschaft und Theaterkritik" (1963), in dem die Herkunft des Faches aus der Germanistik beschrieben und die hieraus hervorgehenden methodischen Probleme in klare Worte gefasst werden. Auch was den Status der Theaterwissenschaft in den 1960er Jahren betrifft, ist Iherings Position erhellend und könnte durchaus den Ausgangspunkt für eine nähere fachhistorische Untersuchung bilden. Sein vielerorts geäußerter Anspruch, durch produktive Kritik nicht nur das Publikum, sondern auch die Theaterkünstler zu Reflexion und Weiterentwicklung zu bewegen, lässt zudem so manche heutige Theaterkritik in einem schlechten Licht erscheinen. Allerdings irritieren die begrifflichen Zuordnungen: "Theaterwissenschaft – das Wissen um die Vergangenheit des Theaters. Theaterkritik – der vorbereitende Hinweis in die Zukunft" (S. 205), hatte doch der auch von Ihering als "Vater" (S. 198) der Theaterwissenschaft gewürdigte Max Herrmann u. a. die Bildung zukünftiger TheaterkritikerInnen im Blick, als er ein eigenes theaterwissenschaftliches Institut für Berlin forderte und diesem neben der historischen Forschung auch die Aufgabe zuwies, sich mit gegenwärtigem Theater zu beschäftigen.
Die Texte zum Theater konzentrieren sich auf dessen gesellschaftliche Bedeutung. Theater soll für Ihering eine "Funktion öffentlichen Lebens" (S. 52) sein, wie er es für das Moskauer Theater 1931 beobachtet haben will (vgl. "Moskauer Theater", S. 52–58). Aus diesem Anspruch ergibt sich für ihn folgerichtig auch die kulturpolitische Relevanz der Theaterkritik. Aufschlussreich sind besonders jene Berichte, die Ihering im Anschluss an seine Reise nach Moskau über das dortige Theater verfasst: Der "Utopie des russischen Kommunismus" (S. 14) steht die Situation des aufkeimenden Nationalsozialismus in Deutschland gegenüber – eine Gegenüberstellung, der sich Ihering im selben Jahr in einem Rundfunkgespräch mit dem der politischen Rechten zugehörigen Journalisten Alfred Mühr (1903–1982) dialektisch widmet.
Auch nach 1945 verhandelt Ihering in seinen Texten die Position des Theaters zwischen Unterhaltung und politischer Einflussnahme und reflektiert über Aufgaben der Kulturpolitik, die Nachwuchsförderung und die Möglichkeiten des Theaters, sich nach den Erfahrungen während des Nationalsozialismus weiter bzw. neu zu entwickeln, denn eine nahtlose Anknüpfung an den Vorkriegszustand steht für ihn außer Frage.
Anfang der 1930er Jahre beschäftigt sich Ihering verstärkt mit dem Medium Film und seiner Wechselwirkung mit dem Theater, dessen Überleben er trotz der Konkurrenz des Kinos als gesichert ansieht, wie sein Text "Für das Theater" (1930) eindrucksvoll demonstriert. Dennoch ist er sich auch der Veränderungen bewusst, die der Film in Bezug auf dramaturgische Gestaltungsweisen und Sehgewohnheiten ausgelöst hat. Diese stellt er in zahlreichen Rundfunkvorträgen und -gesprächen (z. B. "Das Dramatische im Film", 1932) zur Diskussion. In weiteren vor 1933 entstandenen Kommentaren, die der Band unter dem Titel "Publizistik" zusammenfasst, warnt Ihering vor dem "Mißbrauch der Publizistik" (1930) und den Gefahren der "Boulevard-Kultur" (1930). Mit seinem feinen Gespür für gesellschaftliche Umbrüche beschreibt er hier Phänomene der Moderne, wie beispielsweise den Beginn der Amerikanisierung, die Entwicklung der Großstädte etc. und deren Auswirkungen auf Kunst und Kultur.
In der Diskussions-Reihe Bewegung und Schlagwort, die Ihering zur selben Zeit im Rundfunk ins Leben ruft, initiiert er Debatten zu politisch brisanten Themen. Hierin erweist er sich als exakter Anwender der Sprache, beispielsweise wenn er mit dem nationalistischen Schriftsteller Friedrich Wilhelm Heinz (1899–1968) die kleinen, aber feinen Unterschiede zwischen "Chauvinismus, Patriotismus, Nationalismus" (1931) diskutiert. Dabei zeigt er seinem Gesprächspartner die Widersprüche und Unschärfen auf, die dessen Ausführungen immanent sind. In diesem mit "Politik" überschriebenen Abschnitt des Buches ist besonders auf das Gespräch zu "Materialismus und Idealismus" hinzuweisen, das Ihering im Juni 1931 mit Paul Friedländer (1891–1943) führte, dem Begründer der Kommunistischen Partei Österreichs. Die Ausstrahlung wurde damals unter fadenscheinigen Gründen verboten, sodass Inhalt und Verlauf der Unterhaltung hier erstmals öffentlich werden.
Die beiden letzten Sektionen des Bandes zeigen Ihering als (Kultur-)Politiker und Vermittler nach 1945: Deutlich spricht er sich gegen eine Teilung Deutschlands aus und erinnert an die Theatertraditionen der Weimarer Republik, um unter Berufung auf diese 'gemeinsame Basis' zu neuen Ansätzen für ein "Deutsches Theater in Ost und West" zu finden. Beachtung verdient hier z. B. der Bericht über das Treffen internationaler Pantomimen und deren künstlerische Methoden in dem Text über "Die Sintflut der Festspiele" (1962), der nicht zuletzt eine Warnung vor der Ausbeutung der KünstlerInnen in der Kulturindustrie darstellt und die Bedeutung eines starken SchauspielerInnenensembles im Gegensatz zur Kultivierung des Starwesen herausstreicht.
Auch nach der Teilung Deutschlands bleibt Ihering in seiner Funktion als Leiter der Sektion Darstellende Kunst an der Akademie der Künste Ost um einen Austausch zwischen Ost und West bemüht und versucht während der sogenannten Formalismusdebatte der Ideologisierung von Kunst und Kultur mit theatergeschichtlichen Argumenten entgegenzuwirken. Die für den letzten Abschnitt "Akademie und Debatten" ausgewählten Texte setzen sich demgemäß nicht nur mit den kulturpolitischen Entwicklungen im Osten Deutschlands und der jungen DDR auseinander, sondern erlauben auch einen kritischen Blick auf die kulturellen Entwicklungen im westdeutschen Theaterleben ("Die westdeutsche Kulturlinie", 1950).
Umschlagplätze der Kritik ist spannend zu lesen und regt – nicht zuletzt aufgrund der in den Kommentaren erläuterten Reaktionen (soweit bekannt) sowie den ebendort angegebenen weiterführenden Arbeiten Iherings – zu einer näheren Auseinandersetzung an. Die Textauswahl macht diese Publikation nicht nur zu einem aussagekräftigen Zeitdokument, sondern skizziert Ihering als Intellektuellen mit großem gesellschaftspolitischen Verantwortungsbewusstsein. Man darf auf den nächsten Band der HerausgeberInnen gespannt sein, der mittlerweile unter dem Titel Überleben in Umbruchzeiten. Biographische Essays zu Herbert Ihering in der Edition Voss im Horlemann Verlag erschienen ist.
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