Wolfgang Ranke, Theatermoral. Moralische Argumentation und dramatische Kommunikation in der Tragödie der Aufklärung.

Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. ISBN 978-3-8260-4057-3. 528 S. Preis: € 68,-.

Autor/innen

  • Katharina Dufek

Abstract

Vom Sommer 1756 bis zum Frühjahr 1757 führten die drei Freunde Lessing, Nicolai und Mendelssohn einen Briefwechsel über das Trauerspiel, in dem sie sich mit dramentheoretischen und wirkungs- wie moralpsychologischen Fragen auseinander setzten. Im Zuge dieser Überlegungen fiel u. a. das Stichwort "theatralische Sittlichkeit" (Mendelssohn), welches Wolfgang Ranke zum Ausgangspunkt für seine umfassende Studie zur Theatermoral im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts macht.

Ausführlich erläutert Ranke zunächst den zeitgenössischen Diskurs, der sich an der Frage des Selbstmordes auf der Bühne entzündete (1.1), um dann sein eigenes, der Studie zugrunde liegendes Verständnis des Begriffes zu entwickeln (1.2): Von Theatermoral ist demnach zu sprechen, wenn die durch ein Trauerspiel vermittelte moralische Botschaft während der Rezeption anders beurteilt wird, als es im realen Leben eigentlich angebracht wäre. Es handelt sich also um einen "Effekt der Rezeptionslenkung in persuasiver Absicht" (S. 15).

Im Folgenden zeigt der Autor exemplarisch anhand von vier Trauerspielen, welche Strategien zu diesem Zweck eingesetzt wurden, und stellt die Frage, ob diese beim zeitgenössischen Publikum die gewünschte Wirkung erzielen konnten. Aufschlussreich ist dabei die bewusste Unterscheidung von Strategien zur Lenkung der auf einzelne Momente bzw. Szenen einer Theateraufführung bezogenen "instantanen Rezeption" durch den Theaterbesucher und jener der "integralen Rezeption" des gesamten Handlungszusammenhangs durch den (kritischen) Leser der Stücke (S. 71), sind doch Missverständnisse in der Deutung einzelner Werke häufig auf die Diskrepanz zwischen diesen beiden Wirkungsebenen zurückzuführen.

Eines jener Stücke, das in der Forschung teils widersprüchliche Interpretationen erfahren hat, ist Gottscheds Sterbender Cato. Ranke liefert dazu im 2. Kapitel eine ausführliche Analyse der Rezeptionslenkung und moralischen Argumentation des Trauerspiels, in die er auch Gottscheds Quellen (Addison, Deschamps) einbezieht. Schon Mendelssohn hatte Joseph Addisons englische Vorlage zur Erläuterung seiner These von der "theatralischen Sittlichkeit" herangezogen.

Es folgt der Versuch, Gottscheds Aussagen über die historische Person Cato mit jenen über den Helden seines Trauerspiels in Einklang zu bringen sowie die Diskrepanz zwischen der szenischen Wirkung und dem Resultat einer kritischen Lektüre der Tragödie zu erklären (2.5). Hier zeigt sich besonders deutlich das Spannungsverhältnis zwischen den im Trauerspiel zu vermittelnden moralischen Grundsätzen und den Konventionen der heroischen Tragödie, die in Einklang zu bringen im Lauf des 18. Jahrhunderts auf unterschiedlichen und von Ranke ausführlich diskutierten Wegen versucht wurde.

Der (letztlich von Ranke als nur scheinbar entlarvte) Widerspruch zwischen der für Gottsched maßgeblichen, rationalen Moraldidaktik Wolff'scher Prägung und deren faktischer Umsetzung in seiner Tragödienpraxis wird im 3. Kapitel aufgelöst. So weist Ranke anhand von Wolffs Vernünftigen Gedanken und deren Ausdeutung durch Gottsched (Weltweisheit, Schauspielrede) zwei "grundverschiedene Modelle moralisch motivierender Tragödien" (S. 16) nach, die er als "poetisches Erkenntnismodell" und "theatralisches Wirkungsmodell" (S. 235) bezeichnet. Das erste Modell versucht, moralische Wirkung durch eine didaktisch nützliche, weil lehrreiche Fabel nach dem Beispiel der 'Lehrsatzdramaturgie' (Bestrafung der Laster, Belohnung der Tugend) zu erzielen, während im zweiten, didaktisch motivierenden Modell das Hauptaugenmerk auf die Figur des 'vorbildlichen Helden' und die Veranschaulichung einer sich auch im Unglück bewährenden "Tugendidentität" (S. 242) gelegt wird, sodass die Wirkung einzelner Szenen hier wichtiger ist, als eine durchgehende, über den gesamten Handlungszusammenhang sich erstreckende moralische Argumentation. Dass Gottsched und seine Schüler entgegen der landläufigen Meinung diesem letzteren Modell folgten, wird durch einen Überblick über die in der Deutschen Schaubühne veröffentlichten Tragödien (u. a. J. E. Schlegel: Herrmann, Orest und Pylades, Die Trojanerinnen; Gottsched: Agis, Die Parisische Bluthochzeit) deutlich gemacht (3.3).

Im 4. Kapitel setzt sich Ranke mit dem Trauerspiel Canut von J. E. Schlegel auseinander. Dieses ist "die einzige deutsche Alexandrinertragödie, die der didaktischen Strategie des 'poetischen Erkenntnismodelles' folgt". Kernpunkt von Rankes Betrachtungen ist hier der negative Held (Ulfo), dessen Funktion vor allem darin besteht, den anderen Dramatis Personae Gelegenheit zu geben, einen szenenübergreifenden Diskurs über die ethischen Grundlagen des aufgeklärt-absolutistischen Staates zu führen. Dass Schlegel sich in seinem Stück auch an der Tradition des tragischen Helden abarbeitet, zeigen vergleichende Analysen der klassischen 'Muster'-Tragödien Corneilles (Horace, Cinna, Polyeucte).

Die zeitgenössische Rezeption des Canut war aufgrund der ambivalenten Wirkungseffekte durchaus kritisch. Am ausführlichsten äußerte sich dazu Nicolai in seiner Abhandlung vom Trauerspiele. Die darin formulierten Anregungen nahm Johann Friedrich v. Cronegk für die Abfassung seines Dramas Codrus auf, das dann auch den von Nicolai 1765 ausgeschriebenen Preis gewann. Ranke liest das Stück folgerichtig als Verbesserung und 'Überbietung' des Canut (5.2) und zeigt auf, wie sich darin ein neues, von der empfindsamen Gesinnungsethik Gellerts geprägtes Verständnis heroischer Interaktion und der Gattung der Heldentragödie insgesamt manifestiert (5.1). Durch die neuen Ansprüche an das Heldenethos werden hier auch neue Strategien der Rezeptionslenkung wirksam (5.3 und 5.4), die, so Ranke, "der Theatermoral in die Hände arbeiten" (S. 17).

Lessings Einakter Philotas bildet den Schlusspunkt der Untersuchung. Dieses ebenfalls äußerst widersprüchlich rezipierte Werk ist von zentraler Bedeutung für die gesamte Studie, erklärt sich doch (auch) aus den intertextuellen Bezügen (6.2) die Auswahl der zuvor betrachteten Trauerspiele. Eine Analyse der Rezeptionslenkung im Philotas (6.1) unter Berücksichtigung der bisherigen Ergebnisse macht deutlich, dass Lessing gänzlich anders mit der heroischen Tradition umgeht als seine Vorgänger: "Während Gottsched seine heroischen Vorläufer moralisierend 'übersetzt', Schlegel heroische Modelle didaktisch transformiert, Cronegk sie empfindsam uminterpretiert, unterzieht Lessing die Gattungsprämissen einer gezielten Subversion" (S. 18), um so beim Theaterbesucher einen "Verstehensprozess mit stufenweiser Korrektur seiner Voreinstellungen" (S. 451) zu initiieren.

Das letzte Kapitel führt schließlich zurück zum Ausgangspunkt der Studie und nimmt, die Ergebnisse resümierend, nachträglich Stellung zu dem im Briefwechsel über das Trauerspiel aufgeworfenen Problem der "theatralischen Sittlichkeit". Zudem überprüft Ranke an dieser Stelle das Ergebnis der Philotas-Analyse, indem er auf vergleichbare Charakteristika in Lessings populärem bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti hinweist (7.1). Einen Ausblick auf die Weiterentwicklung der Gattung der heroischen Tragödie bieten Rankes abschließende Bemerkungen zur "Ästhetisierung des Heroismus" (7.2), die Schiller bereits in seiner Abhandlung Über das Pathetische gefordert und in seinen späten Dramen (Die Braut von Messina, Die Jungfrau von Orleans) bravourös umsetzt hat.

Insgesamt gibt Rankes Studie einen ausführlichen Überblick über das sich ändernde Moralverständnis des 18. Jahrhunderts sowie dessen Auswirkungen auf die tatsächliche Tragödienproduktion. Das Besondere daran ist, dass er sich dabei ausschließlich mit heute weniger bekannten Stücken befasst und die populäre Gattung des bürgerlichen Trauerspiels bis auf wenige Ausnahmen ausklammert. Weiterführendes Interesse an den hier berücksichtigten Werken ist dabei beinahe unvermeidlich. Zu Fragestellungen aus den Bereichen der Dramaturgie und der Rezeptionsforschung sind zahlreiche Anregungen zu finden, ebenso kann die von Ranke ausführlich erläuterte und erprobte Methodik auch für theaterwissenschaftlich ausgerichtete Dramenanalysen fruchtbar gemacht werden.

Aufführungspraktische Aspekte werden zwar nicht berücksichtigt, der Autor beweist jedoch Gespür für die szenische Wirkung dramatischer Texte, sodass seine primär literaturwissenschaftliche Untersuchung auch für Theaterwissenschafter/innen von Interesse ist.

Autor/innen-Biografie

Katharina Dufek

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Publizistik in Wien. Während des Studiums mehrfach Regieassistentin in der freien Theaterszene. 2007–2011 Assistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Dissertationsprojekt: Die drei Masken des Bruscambille. Theatralität in Frankreich 1600–1620 (Arbeitstitel).

Publikationen:

Katharina Dufek: "Grenzen sind fruchtbar. Überlegungen zur Pariser Theaterlandschaft des frühen 17. Jahrhunderts". In: Grenzgänger & Exzentriker. Beiträge zum XXV. Forum Junge Romanistik in Trier (3.-6. Juni 2009). Hg. v. Lidia Becker/Alex Demeulenare und Christine Felbeck. München 2010. S. 395-412 [Forum Junge Romanistik 16].

-: "Bruscambille – Des Lauriers – Jean Gracieux: Wer ist jetzt wer? Komödiantische Dreieinigkeit versus Identität". In: Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Hg. v. Friedemann Kreuder/Michael Bachmann/Julia Pfahl und Dorothea Volz. Bielefeld 2012. S. 461-476 [Theater Band 33].

Veröffentlicht

2009-11-17

Ausgabe

Rubrik

Theater