August Klingemann: Theaterschriften.
Hrsg. v. Alexander Košenina. Hannover: Wehrhahn 2012. (Theatertexte 34). ISBN 978-3-86525-273-9. 180 S. Preis: € 20,–.
Abstract
'Klagen, nichts als Klagen', könnte man angesichts der klingemannschen Theaterreformierungs-Bestrebungen ausrufen. Der Autor ist mit der Gesamtsituation unzufrieden: "Unsere Bühne wie sie ist, hat bisher im Ganzen den Namen einer Bühne noch nicht verdient" (S. 72). Und über den weithin postulierten Anspruch an eine neue Schauspielkunst, namentlich die 'Menschenmalerei', schreibt er noch 1816: "Mit der Malerei glaubt der gewöhnliche Schauspieler weiter nichts zu thun zu haben, als dass er sich das Gesicht male" (S. 96). So nimmt es nicht wunder, dass der Autor das vielzitierte Lamento Lessings neuerlich bekräftigt und ein halbes Jahrhundert nach dessen 'Hamburgischer Diagnose' vom 19. April 1768 noch immer einen Mangel an Schauspielkunst konstatiert. Schon zu Anfang seiner Beschäftigung mit dem Theater, nämlich 1802, kreisen Klingemanns Gedanken schriftlich um die Erfordernisse der Stückauswahl, die erst knapp zwei Jahrzehnte später in Form praktischer Probleme auf ihn zukommen, als er die Theaterleitung in seiner Geburtsstadt Braunschweig antritt.
Als Klingemann im Jahr 1800 über das Theater zu theoretisieren beginnt, haben die Klassiker ihre Werke längst geschrieben und damit nachhaltig das Denken über Theater beeinflusst. Doch die Auswirkungen auf die Praxis des Berufsstandes sind – so Klingemanns Klage – in ihren Ausmaßen noch immer bescheiden. Die Verbesserungsbestrebungen zielen auf das Theater in all seinen Facetten, mitsamt guten Ratschlägen zu dessen Rezeption. In seiner Laufbahn übt Klingemann vielfältige Tätigkeiten rund um die Bühne aus. Seine Anfänge nimmt er als Theaterkritiker und Dramatiker; bald schon wirkt er auch als Regisseur auf das Bühnengeschehen ein. In Braunschweig begründet er nicht nur eine Schauspielschule, sondern auch ein Nationaltheater. Mit der Umsetzung dieses Unterfangens scheint er allerdings nicht ganz glücklich zu sein, da er noch im Jahre 1822 bedauert, es sei "eben unsere Universalität schuld, daß wir kein wahres deutsches Nationaltheater besitzen" (S. 147).
Der Theaterwissenschaft ist der 1777 geborene August Klingemann vorwiegend aufgrund des goetheschen Faust bekannt, der unter seiner Leitung am 19. Januar 1829 in Braunschweig erstmals öffentlich auf einer deutschen Bühne gespielt wird. Die dreieinhalbstündige Aufführung wird von Publikum und Presse weitgehend akklamiert; Klingemanns Amtszeit als Direktor des Herzoglichen Hoftheaters zu Braunschweig endet bald darauf. Zwei Jahre später stirbt er. Die nun von Alexander Košenina herausgegebene Auswahl klingemannscher Schriften, die ab 1800 für eine Spanne von knapp dreißig Jahren vorwiegend in Theaterperiodika und der Zeitung für die elegante Welt erschienen, endet mit der Vorankündigung dieser Faust-Inszenierung. Der Artikel lässt sich lesen im Kontext der Forderung nach einem "Tagebuch des Theaters" (S. 69), die der Theaterkritiker 27 Jahre zuvor formuliert hatte. In dieser Variation der lessingschen Dramaturgie solle der Regisseur bereits vor der Aufführung die Vorzüge des Stückes betonen, um den Geschmack des Publikums "zum Höhern zu leiten". Aber: "Den Schauspieler beurtheile er nie; es wird allemal Uneinigkeiten hervorführen und dient auch nicht zu seinem Zwecke" (S. 70).
An Iffland anknüpfend, eröffnet der Kritiker 1800 im Neuen Journal für Theater und andere schöne Künste seine "Briefe über Menschendarstellung", in denen er ankündigt, sich künftig an eine "systematische Uebersicht der Schauspielkunst" (S. 7) zu machen. Dieses Ansinnen bleibt bedauerlicherweise ebenso unvollendet wie andere dahingehende Bemühungen seiner Vorgänger und Zeitgenossen. Warum aus dieser Unternehmung wenig wurde, verlohnte gewisslich der Untersuchung. Zwar widmet sich die Edition solcherlei Nachforschungen nicht, hilft dem Interessierten aber mit einer Bibliographie zu Klingemanns Theaterschaffen weiter. Die Art und Anzahl der darin aufgeführten Publikationen bezeugt deutlich, wie wenig der Theaterforschung bis dato Klingemanns Theaterschriften galten. Umso verdienstvoller, dass der Herausgeber Košenina dessen Texte mit all ihren orthographischen Eigenheiten hiermit zugänglich gemacht hat.
In seinen journalistischen Beiträgen greift Klingemann die Theatergrößen auf und verhält sich zu ihnen. Shakespeare, Iffland, Schiller, Lessing oder Goethe sind nennenswerte Fixsterne in diesem theoretischen Kosmos. Entsprechend zitieren seine Ausführungen viele bekannte Gedanken und Diskurse: So stellt er Reflexionen an über Menschendarstellung (Iffland), den Chor in der Tragödie (Schiller) und verfasst ein "Bruchstück aus Vorlesungen für Schauspieler" – ein Titel, der an Goethes Regeln erinnert. So ist es nur naheliegend, dass Klingemann zu Anfang des 19. Jahrhunderts die 'Gründungsmythen' der Schauspielkunst im vorigen bekräftigt. Seine Theaterschriften zirkulieren um der heutigen Theaterwissenschaft wohlvertraute Topoi. Aber fügen sie dem bereits Beforschten neue Facetten hinzu?
Durchaus, denn die 'bekannten Gesichter' stehen Pate für Klingemanns eigene Überlegungen – so eigenwillig diese zuweilen auch geraten mögen. Ein Verdienst seiner Schriften besteht zweifellos im Einbezug anderer Disziplinen, besonders der bildenden Kunst, wobei es dem Autor nur bedingt gelingt, aus der Analyse der unbewegten Skulptur gewinnbringende Analogien zur bewegten Darstellung zu entwickeln. Nebst konkreten Vorschlägen für Schauspieler und Theatermacher hält Klingemann sich nicht zurück mit Ratschlägen an die 'geschmacksbildenden' Instanzen: den Theaterleiter, den Kritiker und nicht zuletzt das Publikum selbst. Letzterem gesteht er mithin nicht genügend Eigenleistung zu, wenn er bezweifelt, dass dieses ohne einen 'Vorklatscher' à la Goethe auskäme, der auf "seinem Stuhl im Parterre zu Weimar […] eine gesetzgebende Kritik ausübte" (S. 161).
Die Tragödie und hier insonderheit die schillersche liegt dem Autor am Herzen. Unter Rückgriff auf Dramentheorien seit Aristoteles sucht er sich dem Wesen des Tragischen anzunähern. Pointiert ist dabei die Unterscheidung: "Das Centrum der antiken Tragödie ist Harmonie; das der modernen dagegen Disharmonie" (S. 32). Vielerlei Differenzierungen, die Klingemann unternimmt (beispielsweise real – ideal; moralisch/sittlich – schön; prosaisch – poetisch; conversierend – deklamierend), bleiben jedoch in der Darlegung diffus. Bei aller Bemühung um Präzision kommt so mancher Anspruch im Gewand recht unzugänglicher Formulierung daher: "Nächst dieser Erkenntniß seiner selbst in subjektiver Hinsicht, hat der Menschendarsteller, indem er subjective Objektivität in Einer Handlung vereinigt, oder durch die Handlung des Subjekts ein Objekt im Subjekte realisirt, dieses sein Selbst in der zweiten Hinsicht (als Stoff worin producirt werden soll) zu betrachten" (S. 14). Man stelle sich den verdutzten Schauspielschüler vor, der aus solchen Anweisungen Gewinn ziehen sollte.
Der Vergleich der deutschen Schauspielkunst mit dem Spielstil der Franzosen ist seinerzeit en vogue und fällt wie so oft zu Ungunsten der letzteren aus: Die Schauspieler des Nachbarlandes seien alle "auf Eine und dieselbe Weise mechanisch und geistig abgerichtet" (S. 142) und ihren manierierten Darstellungen ermangele es tieferen Inhalts. Referiert wird ferner auch auf Klimatheorien der Zeit mit der Annahme, dass "das Nationale und Klimatische auf den Styl der Dichtung und Darstellung einwirkt" (S. 150).
Interessant ist eine Überlegung, die das ausgangs des 18. Jahrhunderts so populäre lavatersche Physiognomikthema aufnimmt: "Wodurch entstehen die sogenannten Nationalphysiognomien anders, als durch fortwährendes Anschauen verwandter Gegenstände" (S. 113)? Diese Annahme ist aufschlussreich nicht nur hinsichtlich der Nationalitätenfrage, sondern auch untersuchenswert in (schauspieltheoretischen) Belangen der 'bildenden Nachahmung des Schönen'. Zudem enthält sie Zunder für pädagogische Moralitäts- und Bildungsdiskussionen rund um die Aufgaben der Schaubühne, bedeutet sie doch, dass der Charakter sich durch 'Anschauung' prägen ließe. Angesichts der hier unterstellten Wirkkraft der Spiegelneuronen – die damals freilich noch nicht entdeckt sind – kommt dem Theater als identitätsstiftendem 'Ort der Anschauung' Verantwortung für die Charakterentwicklung der Zuschauer zu.
Mit entwaffnender Simplizität konstatiert Klingemann: "sich selbst auf der Bühne täglich darzustellen, ist keine besondere Kunst" (S. 151). Was hingegen das Genie des Schauspielers ausmache, sei die Fähigkeit "seinen eigenen Leib zu verlassen und, statt des verschiedenen Theaterkleides, einen neuen Menschen anzuziehen"
(S. 152). Fehle dies, könne auch keine Schauspielschule helfen, obzwar Klingemann als Gründer einer solchen naturgemäß der profunden Ausbildung einige Wertschätzung entgegenbringen musste. Da jeder Menschendarstellung zunächst das "Ringen des Künstlers mit sich selbst" (S. 12) vorausgehe, ernennt Klingemann Selbsterkenntnis zur ersten Pflicht des Schauspielers. Vage bleibt die Antwort auf die Frage, wie sich die hieraus gewonnenen Erkenntnisse mitsamt den Empfindungen des Künstlers "zur höchsten Anschaulichkeit übertragen" (S. 13) lassen. Und zu seinem Kummer registriert der Autor: "Oft sind Kunstsinn und Darstellungstalent getrennt; und nicht jeder Enthusiast bildet Ideale" (ebd.).
'Nothwendig' erscheinen Klingemann daher einige unzeitgemäße Vorstöße hinsichtlich der "Einführung der Masken und des Kothurns"
(S. 75). Diese Idee bleibt zwar in wenig praktikablen Ansätzen stecken, birgt aber als Gedankenspiel durchaus einiges Potential, denn dem Dilemma, dass "die bestimmt erscheinende Individualität des Schauspielers" sich "der Idealität der tragischen Darstellung" (S. 73) widersetzt, könnte durch das Spiel mit Masken abgeholfen werden. Nur in der Fußnote wohnt der Zweifel: Die in der Individualität des Darstellers gründende "Kleinlichkeit der Darstellung" tönt trotz 'persona' immer durch – es ist die menschliche Stimme, die "die innerste Eigenthümlichkeit des Menschen, sein Gemüth" (ebd.) auf unmittelbarste Weise ausspricht und damit 'ideale' Darstellung verhindert.
Bei aller Kritik vernimmt man in den Worten des Autors übrigens eine große Liebe zu seinem Gegenstand, denn: "Jedes gebildete Werk der schönen Kunst läßt einen Eindruck in der Seele zurück, der dauert"
(S. 63). Klingemanns Katharsis-Konzept legt nahe, dass gewisse Debatten um die rein-schöne Darstellung zur Besserung des Publikums anfangs des 19. Jahrhunderts weniger erbittert geführt werden müssen, als noch im vorigen Jahrhundert. Alldieweil Schiller sich in seiner Vorrede zu den Räubern genötigt sah, die drastische Darstellung durch Argumente zu legitimieren, ist das Vertrauen in die Reflexionskraft des Rezipienten indessen gewachsen: "Wollen wir einen großen Zweck, so müssen wir auch die Mittel wollen, und unsere Nerven sollten sich schon einigermaßen schmerzliche Erschütterungen gefallen lassen, wenn unser Gemüth zur Entschädigung dafür erhoben und gestärkt wird" (S. 131).
Ganz so sicher ist sich Klingemann indes seiner Sache nicht, wenn er appelliert an das Bewusstsein "eines jeden Zuhörers, der im Stande ist, sich einigermaßen Rechenschaft über seine Empfindungen […] zu geben" (S. 39), zumal wenn das Schicksal der weiblichen Bühnenhelden zu Gericht steht: 1802 ist es ihm um die poetischen Qualitäten von Schillers Jungfrau von Orleans zu tun; 1817 versucht er sich an einer "Ehrenrettung der Emilia Galotti". Denn dem 'Generalverdacht' der Täuschung ist das Theater auch in diesen Tagen ausgesetzt. Sich auf Goethe beziehend argumentiert Klingemann, die Kunst solle nicht den Anspruch erheben, wahr zu scheinen, sondern die "Freiheit" des Zuschauers schonen, indem sie sich lediglich den "Schein des Wahren" gibt. "Der Schein verwandelt sich jetzt in unsere eigene Willkühr […]; er ist unsere eigene freie Schöpfung, die wir selbst wieder zerstören können, wenn sie uns zu mächtig wird" (S. 41f.).
Bis auf den 1804 unter dem Pseudonym 'Bonaventura' erschienenen und ihm erst von jüngerer Forschung zugesprochenen Roman Nachtwachen sind Klingemanns Schriften weitenteils vergessen. Als reflexive Stimme seiner Zeit jedoch, die inmitten der zeitgenössischen Diskurse steht, ist der Theatermann, der etliche Ämter ausübte, ein vorzüglicher Referenzpunkt. Hier lohnt sich die moritzsche 'Aufmerksamkeit aufs Kleinscheinende', denn wie Klingemann selbst weiß, ist es "das Kleine, das nur allein den Weg zum Großen führt"
(S. 8). Alexander Košenina ist zu danken, diese bislang mehrheitlich unbeachteten Quellen neu aufgesucht und im Wehrhahn-Verlag publik gemacht zu haben. Einzig wünscht man sich angesichts des informierten Nachworts, der Herausgeber hätte ein wenig mehr über den Entstehungskontext der Texte verraten. So wirken die Beiträge Klingemanns unmittelbar aus sich selbst.
Und das ergibt, nebst reflektierter Theorie, vor allem auch eine vergnügliche Lektüre: "Der Mensch ist sich selbst das große Räthsel in der Natur! – dieses Räthselhafte ist indeß wol hauptsächlich eine Folge seines eigenen bösen Gewissens. […] Freilich schwindet da so manches stolze Selbstgefühl bei der Erkenntniß der Grundtriebe unsers Handelns, aber auf der andern Seite ziehen wir für uns und andere den größesten Nuzen in psychologischer Hinsicht" (S. 14). Wie wahr.
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