Ruth Heynen: Erfahrung des Unmöglichen. Zur Verfassung eines Theaters für Europa.

München: Fink 2013. ISBN 978-3-7705-5459-1. 152 S. Preis: € 22,90.

Autor/innen

  • Thomas Ochs

Abstract

Kein Inhaltsverzeichnis, sondern Lesehinweise. Keine bestimmten Titel für die Kapitel, sondern eine reine Nummerierung. Ruth Heynens Text Erfahrung des Unmöglichen geht innovative Wege hinsichtlich Buchaufbau und wissenschaftlicher Struktur: Vier thematische Stränge stehen über sechs Kapitel hinweg in unmittelbarer Beziehung zueinander. Die Lektüre kann entweder in der dargelegten und von der Autorin gewählten Reihenfolge vollzogen werden oder eben anhand der Stränge über die Grenzen der Kapitel hinweg.

Zum Thema macht Heynen dabei nicht nur verfassungsrechtliche Aspekte der Europäischen Union und deren Geschichte, sondern verweist über konkrete theatrale Versuche auf eine Verfassung eines Theaters für Europa: "Interessanter noch aber erscheinen in unserem Zusammenhang diejenigen Arbeiten, die in der Inszenierung schon mit der Mehrsprachigkeit Europas arbeiten, den Figuren, den Orten der Handlung unabhängig vom Aufführungsort Sprachen zuordnen, die mit den Verständigungsschwierigkeiten zwischen verschiedensprachigen Schauspielern offen spielen, die dialektales und 'hochsprachiges' Theater mischen, Konnotationen einer dem Publikum nicht bekannten Sprache nutzen" (S. 19).

Mit der Union des Théâtres de l'Europe rückt eine praktische Vereinigung zwischen zahlreichen Stadt- und Nationaltheatern in den Fokus, deren Hauptanliegen bei der Gründung 1990 in der transnationalen Förderung von kulturellen Aktivitäten und der gemeinschaftlich orientierten Forschung formuliert wurde und auf einem praktizierten Modell von Giorgio Strehler, dem Théâtre de l'Europe (als regelmäßige Kollaboration zwischen dem Théâtre National de l'Odéon, des Piccolo Teatro und des Centro Dramatico Nacional), fußte. Entstandene Inszenierungen dieser Theaterunion werden auf ihre Konstruktion und Inszenierungsstrategien hin untersucht.

"i: Hinweise zur Strukturierung und zum Aufbau der Untersuchung selber nebst verschiedenen Blicken auf Europa (mythologisch, historisch, geographisch)" (S. 9). Heynen bezieht sich in ihrer wissenschaftlichen Untersuchung mit Jürgen Habermas und Jacques Derrida auf zwei bekennende europäische Denker, die u. a. zu Beginn der 2000er-Jahre vehement die europäische Politik aufzurütteln versuchten und sich mit ihren philosophischen Schriften auf Problematiken und Kontexte der europäischen Gemeinschaft bezogen.

"ii: Beschreibung der Entstehung und Entwicklung einer europäischen Gemeinschaft über den Entwurf der Europäischen Verfassung bis heute" (S. 9). Zum Schutz der sprachlichen Vielfalt in der Europäischen Union ist im Kapitel II-280 des EU-Vertrages festgehalten, dass das Theater als Ort fähig ist, diese Funktion zu übernehmen. Insbesondere liegt dabei die Betonung auf dem Verhältnis und der gegenseitigen Bedingtheit von Theater und Demokratie: als gesellschaftlicher Spiegel, als Produzent von europäischer Identität, als weltoffene und widerstandsfähige Öffentlichkeit. Theater kann als konkreter Ort der europäischen Demokratie verstanden werden: im Sinne von Vermittlung und Festigung europäischer Identität und der geeinten Vielfalt.

"iii: Strukturen eines europäischen Theaters an den Beispielen Piccolo Teatro, Teatri d'Europa, und Union des Théâtres de l'Europe" (S. 9). Von Strehlers Gründung des Piccolo Teatro 1947, über die Versuche Stadttheater in ganz Italien politisch zu etablieren, bis zu seiner Ernennung zum Direktor eines Théâtre de l'Europe 1982 und dessen Kulmination in der Union des Théâtres de l'Europe war es ein langer und parallel zur politischen Vereinigung Europas verlaufender Weg. "Schritt für Schritt versuchte Strehler, der erklärte, Theater sei für ihn 'le moyen le plus élévé de connaissance et d'histoire', sein europäisches Programm zu realisieren" (S. 35). Selbst eine europäische Theaterschule wurde 1987 initialisiert, deren transnationale Ansprüche heute insofern verpufft sind, da ausschließlich italienische Studenten dort studieren.

"iv: Beispielhafte Inszenierungen europäischer Theater mit dem Schwerpunkt auf mehrsprachigen Arbeiten (a: Come tu mi vuoi, b: Faust, c: Sutta scupa)" (S. 9). Die überhaupt erste Koproduktion der Theaterunion, Come tu mi vuoi, in einer Inszenierung von Giorgio Strehler spiegelt schon anhand kleiner dramaturgischer Entscheidungen den Charakter und die Absicht wider, die Vielfalt der drei Theaterinstitutionen zu betonen: "Sie sprechen spanisch, französisch, englisch, italienisch und außerdem – dem Ort der Handlung des Stückes, aber nicht dem Originaltext entsprechend – deutsch. Schon in der ersten Spielzeit wird es in den Hauptstädten der Teatri d'Europa gezeigt, in den Jahren darauf außerdem in Österreich und Deutschland" (S. 38).

Offenheit in Struktur und Aufmachung fügen sich zu einem Gesamtbild, das zur Verfassung eines Theaters in Europa und zu europäischen Werten der Vielfältigkeit passt. In einer demokratischen Gesellschaft existiert ein ideales, duales Verhältnis zwischen Kultur und Politik: Politik konstituiert Kultur; Kultur konstituiert Politik. Beides bedingt einander, ergänzt sich, hängt voneinander ab, steht im befruchtenden Widerspruch. Vor allem in Zeiten der Krise werden diese Abhängigkeiten besonders deutlich. Es existiert eine Parallelität zwischen der ökonomischen Krise in Europa und konkreten Spannungen in den Bemühungen um eine europäische Verfassung des Theaters. Trotzdem bleiben die verbindenden Möglichkeiten theatraler Praktiken enorm: "Das Theater kann ein Bereich sein, in dem Gesten, Diskurse, Praktiken entstehen. Dazu muss aber neben den einzelnen und im jeweiligen System arbeitenden Theatern ein gemeinsamer Handlungsraum geschaffen werden. Hier ist die Arbeit noch nicht getan" (S. 140).

Ruth Heynen beteiligt sich mit ihrer Monographie Erfahrung des Unmöglichen. Zur Verfassung eines Theaters in Europa auf innovative Art und Weise an diesem Anliegen. Ihr wissenschaftlicher Ansatzpunkt reflektiert Geschehenes, ordnet Absichten theaterwissenschaftlich ein. Einem Grundmodell der Europäischen Union folgend, bereichert die Wissenschaft durch ihre analytische Arbeit (kultur-)politische Prozesse. Heynens Text ist eine inspirierende Auseinandersetzung mit dem Komplex europäischer Identitäten, die auch durch theatrale Vorgänge konstituiert wurden und werden – und auch eine europäische Theaterhistoriographie.

Autor/innen-Biografie

Thomas Ochs

Magister der Philosophie im Fachbereich der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien mit weiteren Schwerpunkten der Deutschen Philologie und Kunstgeschichte. Diplomarbeit zu Jacques Audibertis Molière. Herausgeber der interdisziplinären Online-Plattform filmdenken.eu. Mitarbeit an den Publikationen Jura Soyfer. Ein Studi(en) Projekt am TFM und dem Magazin SYN 02–03. Filmarchivar in Bern und Wien 2009–2012. Projektassistenz bei der VIDEONALE.14 in Bonn. Aktives Mitglied des Vereins Lichtspiel / Kinemathek Bern. Zur Zeit Promovend an der Universität Mainz im Exzellenzprogramm Performance and Media Studies unter dem Teilprojekt Concepts of Holiness mit einem Thema zu Nihilismus, Theatralität und Kinematografie.

Veröffentlicht

2013-12-12

Ausgabe

Rubrik

Theater