Martin Seel: Die Künste des Kinos.

Frankfurt a. M.: Fischer 2013. ISBN 978-3-1007-1012-3. 255 S. Preis: € 22,99.

Autor/innen

  • Thomas Ochs

Abstract

Kinematographische Produkte sind im Alltag vielerorts zu finden. Mobilität und Vernetzung machen das bewegte Bild überall verfüg- und benutzbar. Kino jedoch als Original-Schauplatz des Films ist in seinem Setting exklusiv. Das Erscheinen des Films im Kino, im Sinne einer Urszene gedacht, ist das Thema von Martin Seels philosophischer Auseinandersetzung Die Künste des Kinos. Film kann kaum ohne Kino theoretisch reflektiert, die 'Künste des Kinos' (dem Erscheinen des Films im Kino) können allerdings unabhängig von disparaten Formen von Filmbildern betrachtet werden. In neun Kapiteln, einem Vor- und Nachspann beschreibt Seel ein Bild des Kinos, das von der Interaktion mit anderen Künsten sowie dem Fühlen, Denken und Handeln des Menschen geprägt ist. Dabei diskutiert der Autor den Film als Architektur, als Musik, als Bild, als Schauspiel, als Erzählung, als Exploration, als Imagination, als Emotion und als Philosophie.

Kino ermöglicht dem (Spiel-)Filmzuschauenden eine Film-Erfahrung unter konkreten Bedingungen: "Die Künste des Kinos", so Seel, "muten uns lediglich zu, vom Hell und Dunkel ihrer Bewegung bewegt zu werden" (S. 16). Seine Monographie ist bespickt mit Sentenzen dieser Art. Seels präziser und klarer, zudem ungemein bildreicher Sprachstil macht die komplexen Sachverhalte des Kinos und seiner Künste begreifbar. Seels Genauigkeit offenbart sich im Detail: Im Kino ist nicht nur eine Gegenwart der filmischen Darstellung präsent, vielmehr kann diese nur durch das Vorhandensein der Gegenwart des Films als solches und der Gegenwart des Zuschauenden möglich sein. Das Kino ist somit abhängig von der Projektion eines kinematographischen Produkts und der Präsenz des Zuschauenden: Die Darbietungen des Films erfordern die "Bereitschaft, sich ihnen zu überlassen" (S. 121).

Seels Ausführungen laden ein, die Prozesse im Kino und Film auf philosophischer Ebene zu verstehen. Eine Sensibilisierung gegenüber dem Wesen des Kinos, dem Wesen des Films im Erfahrungsraum Kino, findet mit der Lektüre statt. Erfahrbar aber sind die dargelegten Strukturen und Kontraste, die Prozessualität nur beim Gang ins Kino. Letztlich ist Seels Monographie auch eine Aufforderung an eine gelebte Kultur des Kinos, das besucht werden will – insbesondere eines Kinos der Attraktion: "Wie die Ereignisse im Film durch das Ereignis des Films, sei es hervorgerufen, sei es gestaltet, sei es gefärbt werden: Das macht die besondere formale Attraktion des filmischen Bewegtbildes aus" (S. 108). Seels Perspektivierung, sich grundsätzlich mit Spielfilmen und ihren Ereignissen auseinanderzusetzen, ist an diesen Punkten besonders evident. Das Buch beschreibt vor allem das Wesen von Spielfilmen, verliert dabei aber nicht den differenzierenden Blick auf andere Gattungen. Methodisch ist mit der Suche nach einem Wesen der Erfahrbarkeit des Films im Kino ein signifikanter Ansatzpunkt gegeben: Nicht über Gemeinsamkeiten, sondern über Eigenheiten im Kontrast zu anderen Gattungen liefert der Autor ein konkretes Bild vom Wesen des Spielfilms. Fiktional und Dokumentarisch bedingen einander. Verständnis und Kontemplation von Spielfilmen werden befördert, "wenn man ihr dokumentarisches Potential verkennt" (S. 145). Den Verflechtungen zwischen den Künsten widmet Seel ein besonderes Augenmerk. In der Erläuterung ihrer Differenzen entdeckt er gewinnbringende Ansätze.

Interdependenz, Disparität und Intermedialität sind in den Betrachtungen der 'Künste des Kinos' von besonderer Bedeutung. Kunst an sich, so Seel, sei nur im Dialog zwischen den Künsten möglich. Anteil daran nehme auch der Film. Dieser Dialog führe zu Verflechtungen und Abhängigkeiten; gleichzeitig setze er Autonomie und disparate Gesetzmäßigkeiten voraus. Fakt ist, dass die "Kunst des Kinos nicht unabhängig von seiner Stellung zu vielen anderen Künsten zu begreifen ist" (S. 145). Nur in ihrem prozessualen Modus ist die Kunst des Kinos von anderen bildenden Künsten zu differenzieren. Der Film, konstatiert Seel, "stellt eine Art der Spannung zwischen phänomenaler Bewegung und leiblich-seelischer Bewegtheit her, wie sie so in den anderen Künsten nicht zu finden ist" (S. 234).

Analytische Betrachtungen des Films sind in der Philosophie – trotz der Anerkennung des Films als Kunst und Hegels Postulat, Kunst, Religion und Philosophie, seien die "höchsten Formen der menschlichen Selbstverständigung" (S. 229) – immer noch eine Marginalie. Auch dagegen schreibt Seel an. Vor allem im abschließenden Kapitel, "Film als Philosophie", sind drei Dimensionen einer sogenannten 'Philosophie des Films' aufgeführt: 1. philosophische Themen, 2. Reflexion des eigenen Wesens, 3. klangbildliche Dynamik (menschliche Eigenschaften). In das allzu menschliche Verlangen bewegt zu werden, greife der Film ein: "'Kino-Anthropologie' – allein der Klang dieses Ausdrucks sagt es schon: Filme spielen mit Möglichkeiten und Unmöglichkeiten menschlicher Erfahrung und Erwartung, indem sie jeweils bestimmte Konstellationen ihrer Verschränkung durchspielen" (S. 234).

Eine Leidenschaft für Film und insbesondere das Kino ist in Seels Monographie, seiner Philosophie des Films, in jedem einzelnen Satz zu spüren. Sein Text ist ein Aufruf, sich intensiver mit den Zu- und Umständen der Filmbetrachtung zu befassen: "Wir verstehen das Bewegende seiner Erfahrung [der des Filmes] nicht, wenn wir nicht die Bewegung des Films verstehen. Von seiner Komposition, seiner Imagination, seiner Ausdrucksfähigkeit nimmt hier alles seinen Ausgang. Nur wenn, nur weil und nur solange wir uns einem Film gegenüber responsiv verhalten, können wir in Resonanz mit seiner Schwingung geraten. Es ist die Expressivität eines Films, aus der die Art der Emotionalität seiner Wahrnehmung hervorgeht." (S. 211) Original-Schauplatz, exponierter Ort für ein solches Erlebnis, eine solche Erfahrung ist und bleibt das Kino: Die Künste des Kinos von Martin Seel als Hommage an und auf das Kino.

Autor/innen-Biografie

Thomas Ochs

Magister der Philosophie im Fachbereich der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien mit weiteren Schwerpunkten der Deutschen Philologie und Kunstgeschichte. Diplomarbeit zu Jacques Audibertis Molière. Herausgeber der interdisziplinären Online-Plattform filmdenken.eu. Mitarbeit an den Publikationen Jura Soyfer. Ein Studi(en) Projekt am TFM und dem Magazin SYN 02–03. Filmarchivar in Bern und Wien 2009–2012. Projektassistenz bei der VIDEONALE.14 in Bonn. Aktives Mitglied des Vereins Lichtspiel / Kinemathek Bern. Zur Zeit Promovend an der Universität Mainz im Exzellenzprogramm Performance and Media Studies unter dem Teilprojekt Concepts of Holiness mit einem Thema zu Nihilismus, Theatralität und Kinematografie.

Veröffentlicht

2013-12-12

Ausgabe

Rubrik

Film