Hannah Pilarczyk (Hg.): Ich hatte die Zeit meines Lebens. Über den Film "Dirty Dancing" und seine Bedeutung.
Berlin: Verbrecher 2012. ISBN 978-3-943167-13-9. 192 S. Preis: € 15,–.
Abstract
25 Jahre hat es gedauert, bis der Film Dirty Dancing (Regie: Emile Ardolino / Drehbuch: Eleanor Bergstein) mit einem wissenschaftlichen Sammelband kritisch gewürdigt wurde. Von der Filmkritik als 'Frauenfilm' leichtfertig abgetan und von vielen – nicht zuletzt den mit Bildungsprivilegien ausgestatteten – Fans als 'guilty pleasure' empfunden, schien der Weg für eine derartige Würdigung lange verstellt.
Lediglich in der DDR wurde das politische Potential des Filmes, mit dem sich der Band vorwiegend befasst, frühzeitig erkannt. Für eine amerikanische Produktion eher ungewöhnlich, bestellte man aufgrund des großen Erfolgs zusätzliche Kopien und erklärte sich selbigen dadurch, dass Dirty Dancing Klassenverhältnisse in den USA kritisch zur Darstellung bringe.
In insgesamt neun Beiträgen fragen die AutorInnen nach den vielen Aspekten des Films, der bei genauerem Hinsehen wesentlich mehr als 'nur' ein Tanz- und Liebesgeschehen zeigt. "Als ein Film, der eine klassische Coming-of-Age-Geschichte mit einer weiblichen Hauptfigur neu erzählt, der Bezug auf die Abtreibungsdebatte nimmt, der tief in den culture war der 1960er-Jahre verstrickt ist und gleichzeitig in einer Reihe mit prominenten Hollywood-Filmen steht, die das Erbe der 1960er-Jahre verhandeln – in diesen Perspektiven ist 'Dirty Dancing' schlicht verkannt worden" (S. 8), schreibt Herausgeberin Hannah Pilarczyk im Vorwort. So ist es etwa bezeichnend, dass Dinge, die bei anderen – von Männern hergestellten – Filmen die Kritik zu Lobeshymnen anstiften, im Falle von Dirty Dancing gegen den Film verwendet wurden. Pilarczyk weist in diesem Zusammenhang auf Oliver Stones Platoon (1986) hin, der von Roger Ebert in höchsten Tönen für seine Brüche mit linearer Narrativität gelobt wurde. In Eberts Dirty Dancing-Kritik wird Selbiges zum Vorwurf gegen den Film.
Es gilt also zunächst die 'male bias' von Filmkritik und Filmwissenschaft aufzubrechen, um Raum für eine nachträgliche Würdigung von Dirty Dancing zu schaffen. Den AutorInnen des Sammelbandes ist dies auf eindrucksvolle Weise gelungen. Mit verschiedenartigen Fragestellungen und aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven nähern sie sich dem Gegenstand.
Christine Kirchhoff unterzieht den Film und seine ZuseherInnen einer Psychoanalyse und fragt unter anderem, was an Dirty Dancing dazu einlädt, sich den Film immer wieder anzusehen. "Wenn gegen Ende des Liedes ["I had the Time of my Life", Anm. F.W.] der ganze Saal tanzt, […] dann sind nicht nur die Hüften sondern – zumindest für einen Moment – auch die Verhältnisse in Bewegung geraten" (S. 183), so Kirchhoff. Sich der Illusion der per Tanz versöhnten gesellschaftlichen Widersprüche gänzlich hinzugeben, sei schwer möglich – und gerade "weil die Illusion nicht hält, muss man sie immer wieder erneuern" (S. 184).
In ihrem mit "Ausgerechnet Wassermelonen" betitelten Beitrag lotet Astrid Kusser das Spannungsfeld zwischen Reproduktion von und Kritik an Rassismus in Dirty Dancing aus. Den Erfolg des Films führt sie darauf zurück, dass er zugleich zuwenig und zuviel Bedeutung produziere. Er "ersetzt eine komplexe Geschichte, in der es immer zugleich um Geschlechterverhältnisse, Klassenkonflikte und Rassismus ging, durch einen einfachen Konflikt zwischen Weißen, der ganz in der Tradition des klassischen Studio-Kinos der Segregation erzählt wird" (S. 111), so Kussers kritischer Befund.
Kirsten Rießelmann betrachtet Dirty Dancing im Kontext weiblicher Coming-of-Age-Filme. Im Gegensatz zu den meisten vergleichbaren Produktionen schaffe es das Private in Dirty Dancing, politisch zu werden, so Rießelmann. Doch nicht nur das Private ist politisch, sondern auch der zeithistorische Kontext kann mit einigen Jahrzehnten Abstand als eine Art 'Vormärz' betrachtet werden. Dem ruhigen Sommer, in dem Dirty Dancing zeitlich verortet ist, ging die Kubakrise voran und es folgten ihm die Ermordung von John F. Kennedy sowie die Eskalation des Vietnamkriegs.
Caspar Battegay zeigt, wie der Film zeitlich an einem Wendepunkt des Umgangs mit Minderheiten in den USA verortet ist. Er charakterisiert den Handlungsort – eine sich auf jüdische Gäste aus der oberen Mittelschicht ausrichtende Ferienanlage in den Catskill Mountains – als eine in den 1960ern bereits im Verschwinden begriffene Freizeitinstitution, die nicht zuletzt den Zweck erfüllen sollte, die Töchter und Söhne der Gäste standesgemäß unter die Haube zu bringen. Der zentrale Konflikt des Films speist sich daraus, dass die Hauptfigur Francis 'Baby' Houseman (Jennifer Grey) dieses Spiel durchschaut und sich gegen den Wunsch der Eltern und die Kuppelvorgaben des Hotelmanagers in den aus einfachen Verhältnissen stammenden Tanzlehrer Johnny Castle (Patrick Swayze) verliebt und damit die gesellschaftspolitische Progressivität des eigenen Vaters auf die Probe stellt.
Viel stärker als im deutschsprachigen Raum wird Dirty Dancing in den USA als jüdischer Film rezipiert, was sich etwa daran ablesen lässt, dass er regelmäßig in einschlägigen Bestenlisten zu finden ist. Gleichzeitig meint Battegay in der Darstellung des Kellerman's Resort eine 'assimilatorische Fantasie' zu erkennen: "Jüdische Kultur und jüdische Tradition sind hier beinahe vollständig unsichtbar – wie in so vielen Hollywoodfilmen aus den 60er-Jahren, in denen 'Dirty Dancing' spielt" (S. 84).
Das Bewusstsein dafür, dass es sich bei Dirty Dancing um einen Film handelt, der die 1960er aus Perspektive der 1980er betrachtet, durchzieht die Beiträge. Birgit Glombitza sieht in 'Baby' eine Figur, die "Selbstbestimmung und Ehefähigkeit, Körperbewusstsein und Reproduktion, Klugheit und Sanftheit ohne Geschlechterstreit" (S. 53) vereint und damit Männern und Frauen der späten 1980er-Jahre ein eskapistisches Angebot mache, aus den Verteilungskriegen im Beruflichen und Privaten auszubrechen. Jan Dedves zeigt anhand des Soundtracks, David Kleingers anhand der Ausstattung, wie die 1980er-und die 1960er-Jahre in Dirty Dancing eine Parallelexistenz führen.
Mit Ich hatte die Zeit meines Lebens ist nicht nur auf inhaltlicher sondern auch auf gestalterischer Ebene ein beachtenswerter Sammelband gelungen. Zwischen den Essays verweisen Illustrationen von Oliver Grajewski auf Zitate von Dirty Dancing in Filmen und Serien unterschiedlicher Genres. Denn auch wenn die wissenschaftliche Rezeption auf sich warten ließ, ist Dirty Dancing schon lange Teil kulturindustrieller Referenzmühlen – von der Reminiszenz bis zur Persiflage.
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