CHEAP METHOD EDITION. struggling bodies in capitalist societies (democracies).

Genf: Motto Books 2014. ISBN 978-2-940524-13-6. 94 S. Preis: € 9,– (A), CHF 11,– (CH).

Autor/innen

  • Daniela Pillgrab

Abstract

'Artistic Research' (oder zu Deutsch: 'Künstlerische Forschung') lautet ein Schlagwort, das sich in den letzten Jahren im zeitgenössischen Kunst- und Wissenschaftsdiskurs etabliert hat. Es zielt darauf ab, Kunst und Forschung zusammenzudenken, also das Forschungspotenzial von Kunst herauszukehren – und umgekehrt. Nun hat sich die in Wien ansässige Regisseurin und Leiterin des theatercombinats, Claudia Bosse, zu einer Publikationsserie über/als künstlerische Forschung entschieden, die sich CHEAP METHOD EDITION nennt. Zwei bis vier Hefte pro Jahr sollen erscheinen, und zwar bei dem noch jungen Schweizer Verlag Motto Books, der sich auf die Herausgabe von Kunstbüchern spezialisiert hat.

Geschrieben sind die Texte, deren Inhalte sich aus Bosses Arbeiten in den Bereichen Performance und Installation, Philosophie, Theorie und Politik ergeben, durchwegs in Kleinbuchstaben. Als Künstlerin sei ihr dies erlaubt, so Bosse, die ihre Publikationsreihe nicht bloß als Dokumentationsmedium für bereits abgeschlossene Werke begreift. Es ist ihr vielmehr ein Anliegen, die fragile Entwicklung eines Projektes zu zeigen, Materialien (Bilder, Texte, Gesprächsprotokolle etc.) daraus zu präsentieren, Andere ihre Arbeit reflektieren zu lassen. Dieses Vorgehen soll den prozessualen Charakter ihrer Projekte, die sie oft auch als 'theatrale Recherchen' bezeichnet, in den Vordergrund rücken. Es soll Fragen aufwerfen anstatt konkrete (apodiktische) Antworten zu liefern, es soll einen Raum aufmachen für neue Gedanken, vielleicht als/für neue Methode(n) – auch im Sinne von 'artistic research': "CHEAP METHOD EDITION will publish examples to create a discourse on fading performative works. CHEAP METHOD EDITION combines artistic research with scientific and experimental knowledge, connecting both in thematic issues to open up wider contexts which can be re-used, re-worked, re-discussed and compared" (S. 4).

Das erste Heftchen dieser Serie kommt gerade frisch aus der Druckerpresse, es nennt sich struggling bodies in capitalist societies (democracies). Auf dem Titelblatt zu sehen eine Farbfotografie: Sie zeigt den Körper einer Frau in Unterhosen, auf einer Bank liegend in einem – ob der zum Teil abgeschlagenen Fliesen an Wand und Boden – kalt wirkenden Raum, vielleicht schlafend, ein Kissen zwischen die Knie geklemmt und eins unterm Kopf. Zu ihren Füßen ein Zettel, auf ihm zu lesen der Titel eines Symposiums vom Dezember 2012 – und nun auch dieses Heftes: struggling bodies in capitalist societies (democracies).

Bei dem experimentellen Symposium, das in der ehemaligen Zollamtskantine im dritten Wiener Gemeindebezirk im Rahmen von Bosses Projekt Designed Desires stattgefunden hat, wurden von sechs geladenen Gästen in unterschiedlichen Formaten (Vorträge, Dialoge, Diskussionsrunden mit dem Publikum) die Themenkomplexe Disziplin, Asketismus, Körperbilder und politische Konstruktionen des 'Selbst' einer kritischen Befragung unterzogen. Titel und Inhalt dieser ersten Ausgabe der CHEAP METHOD EDITION basieren vorrangig auf den Materialien dieses zweitägigen Symposiums, dessen Struktur auf die spezifische Methode der ästhetischen Arbeiten Claudia Bosses verweist: So ist es Bosse ein Anliegen, Platz zu schaffen nicht nur für präzise durchdachte, für das Format eines Vortrags zum Zuhören und Mitdenken gut aufbereitete und konstruierte Gedankenstränge, sondern eben auch für fragilere Formen wie unmittelbar beim Reden entstehende Ideen, das heißt: der, mit Kleist gesprochen, allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden Raum zu geben.

struggling bodies in capitalist societies (democracies) versammelt denn also die Niederschrift von Vorträgen sowie Fragmente transkribierter Dialoge und Diskussionen. Zwischendurch zu sehen gibt es Fotos: vom Symposium, von Günther Auers Performance Boxen, die während des Symposiums gezeigt wurde, und von der Performance Designed Desires, deren Uraufführung vom 27. November bis zum 9. Dezember 2012 zu sehen war. Die Ordnung der Texte folgt der Struktur des Symposiums; sie soll ein Parallellesen von konstruierten Gedanken und im Augenblick entstandenen Ideen ermöglichen, um unterschiedliche Standpunkte und Gedankenmodelle zum zentralen Thema struggling bodies in capitalist societies (democracies) miteinander in Dialog treten zu lassen.

Inhaltlich entfaltet sich die Publikation entlang dreier Themenbereiche. Im ersten präsentieren Gerald Siegmund (Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, Gießen) und Elke van Campenhount (sie lebt und arbeitet als 'artistic researcher' in Brüssel) ihre Gedanken zum Thema 'self-subversion: concepts and try-outs of (self)disciplined bodies', als Vortrag, als Dialog, und schließlich innerhalb einer Diskussionsrunde mit dem Publikum. Siegmunds Beitrag titelt 'to be or not to be: towards a theatre of disidentification or: the body as supplement'. Er präsentiert unterschiedliche philosophische Gedanken zum Thema Körper, unter anderem etwa Jean-Luc Nancys 'corpus'-Theorien, um schließlich Möglichkeiten für das Theater zu skizzieren, mit dem Körper umzugehen: "in order to explain aspects of performances like atmosphere, scholars revert to primary integral modes of perception before the division into separate senses has taken place. rather than integrating perception, theatre may produce various bodies precisely by separating the 'organs' of theatre, that is to say its technical means. thus theatre juxtaposes the channels of perception, creating a light body, a sound body, a movement body, a speaking body, a scenographic body and so on. by insisting on the plurality of its constituent elements, any performance may create a plurality of bodies that interact and contradict each other" (S. 11). Seine Überlegungen wird Siegmund später in einem Gespräch mit Elke van Campenhount reflektieren, die in ihrem Beitrag über Hunger als künstlerische Haltung spricht/schreibt und damit unter anderem auf den deleuzianischen Begriff des organlosen Körpers rekurriert.

Im zweiten Themenkomplex geht es um das Thema 'the body and its normatives'. Marina Gržinić (Akademie der bildenden Künste, Wien) spricht/schreibt und diskutiert mit dem Publikum über Hungerstreiks, die Asylpolitik der Europäischen Union und die politische Figur der Asylwerberin bzw. des Asylwerbers – auch aus gegebenem Anlass: "it is december 1, 2012, and i am speaking at this conference while a protest in support of the refugee protest camp set up one week ago, on november 24, 2012, in the center of vienna, in front oft he sigmund-freud-park's votive church, is taking place" (S. 40).

Der dritte Themenschwerpunkt verhandelt 'the body as the place of the political'. Alice Pechriggl (Institut für Philosophie, Universität Klagenfurt) nutzt den, wie sie es bezeichnet, "jam-session-artigen experimentellen charakter dieser veranstaltung" (S. 66), um in Form einer Lecture-Performance ein sehr spezielles Textfragment 'zu konstitution und aisthêsis eines unumgänglich/en demokratischen körpers' zu präsentieren: "against the yet undetermined democratic body stands 'the body as battlefield', körperschlachtfeld schlachtfeld-körper; der antidemokratische körper ist der althergebrachte militärisch-männerbündische exekutionskörper als nur gehorchender, als beherrschter eines formiert-formierenden korpsgeistes, als ein in heteronomen verfassungen aufgespannter, gedrillter, drilled and grilled bodies of male battles, body formations against democracy. The struggle of the democratic bodies against a spirit and a mind of exploitation is in itself freedom because it marks the resistance against a military and industrial formation through the selfdetermination of the body as body, as animation for life and eros, for creativity against bureaucratization and countability, as a body of awareness preparing the psyche to the realistic acceptance of their living together and for their common death when time has come for body and its psyche, for psyche and its body" (S. 69f.). Mit Pechriggl im Panel ist Hrvoje Jurić (Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften, Zagreb), der in seinem Beitrag zunächst ganz allgemein danach fragt, wer oder was überhaupt der Körper ist, um dann auf aktuelle Dynamiken eines Embodiment und die Beziehungen zwischen Körper und Kunst zu sprechen/schreiben zu kommen: "art should try to destroy the crucifix made by the technoscientific-economic-political system, as well as to liberate both the body as the most crucified part of the human being and the entirety of human beings whose freest 'part' still remains the body", so sein Plädoyer am Ende seines Vortags (S. 80).

Künstlerisch-(nach)forschende Methoden, vor allem die gezielten Setzungen von Denk-Freiräumen wie jene, die Claudia Bosse für das Symposium und die Publikation struggling bodies in capitalist societies (democracies) gleichsam inszeniert hat, fordern die Vor- und Beitragenden – vielleicht intensiver als klassische Vortrags-Formate – zu Reflexionen und Diskussionen auf und generieren nicht vorab konstruierte, feststehende Gedanken. Nur so ist es möglich, auf Dinge zu stoßen, von denen man nicht wusste, dass man sie nicht weiß, oder dass sie von Relevanz sein könnten.

Claudia Bosses CHEAP METHOD EDITION soll zum einen Methoden und Materialien ihrer beiden zentralen Arbeitsschwerpunkte präsentieren: Political hybrids und Producing tragedy. Die ersten Ausgaben (die nächsten beiden stehen schon fest: Im Herbst soll es ein Heft zu dem Projekt biographical landscapes of new zagreb geben, und Nummer drei wird some democratic fictions beirut heißen und vor allem Bilder in schwarz/weiß zeigen) widmen sich zunächst den Political hybrids; Thema von Producing tragedy werden etwa Bosses Perser-Inszenierungen von 2006 sein. Zum anderen soll es aber auch Themenhefte geben, die loser oder gar nicht mit Bosses Projekten assoziiert sind, die etwa in Kooperation mit anderen Institutionen (wie etwa dem Museum of Contemporary Art (MSU) Zagreb) entstehen.

Es ist freilich unmöglich, eine gerade im Entstehen begriffene Publikationsreihe in ihrer Gesamtheit zu diskutieren oder gar zu bewerten. Was ich mich dieser Stelle allerdings bereits zu prognostizieren getraue: "billige" Methoden wird die Cheap Method Edition keinesfalls liefern.

Autor/innen-Biografie

Daniela Pillgrab

hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Italianistik in Wien und Bologna studiert. 2007–2010 Kollegiatin im Initiativkolleg "Sinne-Technik-Inszenierung: Medien und Wahrnehmung", Universität Wien. Dissertation zum Thema Körper inszenieren nach Sozialistischem Realismus und Peking Oper: Mei Lanfang in der Sowjetunion. Danach zwei Semester wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Beijing Normal University, China, School of Arts and Communication. Seit Jänner 2012 Hertha-Firnberg-Stelle (FWF) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien. Aktuelles Forschungsprojekt: Body Images in Performing Arts in the Age of Globalization.

Forschungsschwerpunkte: Theater-, Tanz- und Performancetheorien, Körperkonzepte, Theaterpraktiken in Ostasien, Kunst im Sozialismus.

Publikationen:

(Auswahl)

-: "Subjekt und Objekt zugleich. Gedanken zum 'geteilten' Körper in der Peking Oper." In: Theater und Subjektkonstitution, hrsg. v. Friedemann Kreuder/Michael Bachmann/Julia Pfahl/Dorothea Volz. Bielefeld: Transcript 2012. (in print)

–: "Animation Films in China" (mit Xiao Yongliang). In: Chinese Cinema/Cinéma Chinois. ASIEXPO Edition. Lyon 2012. (in print)

-/Christine Ehardt/Marina Rauchenbacher/Barbara Alge (Hg.): Inszenierung von "Weiblichkeit". Zur Konstruktion von Körperbilden in der Kunst, Wien 2011.

–: "Zwischen Bewegung und Stillstand. Fünf Überlegungen zur Pose in der Peking Oper". In: Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung. Maske und Kothurn, Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft, hrsg. v. Klemens Gruber/Monika Meister/Claus Pias/Frank Stern. Wien 2010, S. 77–90.

Veröffentlicht

2014-06-25

Ausgabe

Rubrik

Theater