Michael Gissenwehrer/Gerd Kaminski (Hg.), In der Hand des Höllenfürsten sind wir alle Puppen. Grenzen und Möglichkeiten des chinesischen Figurentheaters der Gegenwart.
München: Herbert Utz 2008. ISBN 3-8316-0773-7. 200 S., broschiert. Preis: € 37,-.
Abstract
TheatertheoretikerInnen und -praktikerInnen erachteten es immer wieder als reizvoll, SchauspielerInnen mit Puppen oder Marionetten zu vergleichen. Als die wohl bekanntesten historischen Überlegungen zum Marionettentheater in Europa gelten Heinrich von Kleists Text Über das Marionettentheater von 1810 und das knapp hundert Jahre später von Edward Gordon Craig verfasste Manifest Der Schauspieler und die Über-Marionette (1908).
Sie beide sprechen den Gliedermännern Vorteile gegenüber SchauspielerInnen zu – bei Kleist bedeutet das Bewusstsein über die Grazie des menschlichen Körpers zugleich ihr Ende, Craig fordert gar die Verbannung der SchauspielerInnen zugunsten von unbelebten Figuren. Weitere hundert Jahre nach Craigs Manifest liegt nun mit In der Hand des Höllenfürsten sind wir alle Puppen: Grenzen und Möglichkeiten des chinesischen Figurentheaters der Gegenwart eine Auseinandersetzung europäischer und chinesischer WissenschafterInnen mit dieser besonderen Form von Theater in China vor. Das von Michael Gissenwehrer und Gerd Kaminski herausgegebene Buch ist das Ergebnis des gleichnamigen Symposiums, das im Oktober 2007 in Wien und der niederösterreichischen Gemeinde Mistelbach stattgefunden hat.
Während im traditionellen Schattenspiel in beinahe ungebrochener, wenngleich immer mehr an Bedeutung verlierender Tradition kunstvoll hergestellte Figuren hinter einer mit Licht beschienenen Leinwand von Menschenhand zum Tanzen gebracht werden, häufen sich seit einiger Zeit im modernen chinesischen Sprechtheater Experimente mit einer Kombination von SchauspielerInnen und Puppen, die einander gegenüberstellt werden. Im vorliegenden Band diskutieren fünf AutorInnen Bedeutung und Entwicklung, Grenzen und Möglichkeiten von Experimenten mit unterschiedlichen Erscheinungsformen des chinesischen Figurentheaters. Der schon im Titel des Bandes stehende und in sämtlichen Beiträgen verwendete Begriff der "Figur" wird von den AutorInnen stets synonym mit "Puppe" beziehungsweise "Marionette" gebraucht – theoretische Auseinandersetzungen mit den Termini bleiben weitestgehend ausgespart.
Gerd Kaminski eröffnet den Band mit einem Beitrag über das chinesische Schattenspiel: Der studierte Jurist – er gilt als Experte und Liebhaber chinesischer Volkskunst – hat Erforschung und Erhalt dieser traditionsreichen Theaterform zu seinem persönlichen Anliegen gemacht. Seit vielen Jahren bemüht er sich, durch interkulturellen Austausch die tanzenden Schatten auch in Mitteleuropa einem interessierten Publikum näherzubringen. Kaminski berichtet über seine Beobachtungen zu Verbreitung, Entwicklung und Fortbestehen sowohl in ländlichen Regionen, als auch exemplarisch in fünf großen Städten seit den 1980er Jahren. Er berichtet auf zum Teil sehr detaillierte Weise über örtliche Gepflogenheiten im Umgang mit dem Schattenspiel und über die Menschen, die für die Bewegung der Figuren verantwortlich sind. Mit Bedauern vermerkt er ein allmähliches Verschwinden dieser ursprünglich eng mit den Riten des chinesischen Volksbrauchtums verbundenen Kunstform. Wenngleich in den letzen Jahren wieder vermehrt – unter anderem auch von jungen KünstlerInnen – auf Elemente des Schattenspiels zurückgegriffen wird, sieht Kaminski im modernen Umgang keine Möglichkeit für das Überleben dieser Kunst in ihrer ursprünglichen Form.
Ein großes persönliches Anliegen sind Entwicklung und Fortbestehen der Tradition des Puppentheaters auch dem Leiter der Internationalen Puppentheatertage Mistelbach Olaf Bernstengel, der mit seinen "Überlegungen zum europäischen Puppentheater am Beginn des 21. Jahrhunderts" etwas von der Themenstellung des Bandes abweicht. Um dennoch die Brücke nach China zu schlagen, nehmen seine Ausführungen ihren Ausgangspunkt beim chinesischen Schattentheater, das durch den wachsenden Welthandel im 17. Jahrhundert den Weg nach Europa gefunden hat. Im Lauf der Zeit entwickelte sich daraus eine eigene, europäisierte Kunstform, die sich heute stark von der ursprünglich chinesischen abgrenzt und ihren Platz innerhalb des europäischen Puppentheaters behauptet.
Mit dem dritten Beitrag wendet sich der Band ab von den traditionellen Formen des chinesischen Schattenspiels und eröffnet Diskussionen um ein SchauspielerInnentheater, das mit dem Einsatz von Figuren bzw. Puppen auf der Bühne experimentiert. In ihrem Aufsatz "Von Hampelmännern und Strippenziehern" erörtert Anna Stecher, die an der Beijing Normal University moderne und zeitgenössische chinesische Literatur studiert und sich auf chinesisches Theater spezialisiert hat, das Zusammenspiel von Menschen und Puppen im zeitgenössischen chinesischen Sprechtheater.
Seit den 1980er Jahren hat sich in China ein Avantgardetheater etabliert, das sich mit der eigenen chinesischen Theatertradition ebenso auseinandersetzt wie mit modernem westlichen Sprechtheater. Im Zentrum dieser avantgardistischen Experimente, bei denen immer wieder Puppen, Masken und Marionetten zum Einsatz kommen, steht Stecher zufolge nicht der Dramentext, sondern vielmehr Bühnenmoment und Aufführung. Um diese Tendenzen praktisch zu veranschaulichen, stellt die Expertin für modernes chinesisches Theater zwei beispielhafte Inszenierungen vor: Romulus der Große von Friedrich Dürrenmatt, inszeniert 1992 von Lin Zhaohua in Peking vom Theater Studio Lin Zhaohua, und Die Wildnis von Cao Yu, inszeniert von Regisseur Wang Yansong.
Bei Romulus der Große experimentierte Lin Zhaohua mit der Vervielfachung der dramatis personae durch eine Kombination von SchauspielerInnen, Marionetten, SprecherInnen und StrippenzieherInnen. Dem Regisseur ging es hier nicht etwa um die Einheit von SchauspielerIn und Rolle – vielmehr ging es um eine ständige Veränderung ihrer Beziehung und "vielleicht sogar ihres Machtverhältnisses", so Stecher (S. 78). Ähnlich agierte auch Regisseur Wang Yansong in seiner Inszenierung von Die Wildnis: Er ließ sämtliche Charaktere sowohl von SchauspielerInnen als auch von Puppen darstellen – allerdings übernahmen die Puppen hier die Darstellung von Gefühlen: "In den Puppen nämlich finden die schwer darstellbaren Emotionen eine Möglichkeit des konkreten körperlichen Ausdrucks." (S. 82). Die sich aus einer Gegenüberstellung von Menschen und Puppen, SchauspielerInnen und Marionetten auf der Bühne ergebenden Interaktionen schaffen viel Raum für Überlegungen und Interpretationen über die Ausdrucksmöglichkeiten des Theaters im Allgemeinen; Anna Stecher nutzt diesen Raum in ihrem Beitrag, der durch fundierte theoretische Reflexionen der Inszenierungen besticht.
Im Jahr 2006 präsentierte Huang Weiruo, Professor für Theatergeschichte und Szenisches Schreiben an der Zentralen Theaterakademie Peking, eine Komödie mit dem Titel Der Studiosus und der Henker, die vom Shanghaier Zentrum für Schauspielkunst unter der Regie von Guo Xiaonan uraufgeführt wurde. Das Stück ist in der Übersetzung von Zhang Weiyi und Anna Stecher zur Gänze im vorliegenden Band abgedruckt. Mit Der Studiosus und der Henker wird eine weitere zeitgenössische Inszenierung vorgestellt, die versucht, einerseits traditionelle chinesische Theaterformen mit westlichem Sprechtheater zu verbinden (Huang bezeichnet die Puppen in seinem Stück als "chinesisch", den Puppenchor allerdings als "griechisch oder brechtisch", S. 103.) und andererseits SchauspielerInnen gemeinsam mit Puppen auf der Bühne auftreten zu lassen.
Im letzten Beitrag des Bandes stellt Michael Gissenwehrer einen Vergleich zwischen Puppen und SchauspielerInnen an und vergibt den Punktesieg an die Puppen. Am Beispiel von Der Studiosus und der Henker bespricht Gissenwehrer das Wesen des chinesischen Figurentheaters an sich und seine Beziehung zum SchauspielerInnentheater. Er sieht einen starken Einfluss des Einen auf das Andere: "Jene der Abstraktion und Künstlichkeit verpflichtete traditionelle Ästhetik begünstigte ein realitätsfernes Theater hoher Kunstfertigkeit." (S. 171). Ohne sich explizit auf Kleist zu beziehen, beschreibt Gissenwehrer ganz in der Manier des nunmehr zweihundert Jahre alten Marionettentheater-Textes die "unverwüstlichen und über alle Gesetze des Organischen und der Schwerkraft erhabenen Puppen" (S. 177), die durch reduzierte Bedeutungsmerkmale den Eindruck von Künstlichkeit und Entpersonifizierung entstehen lassen, wie er von SchauspielerInnen nicht geleistet werden könne. Gissenwehrer sieht den "Schauspielerkörper" nicht nur für die Zukunft des Theaters gefährdet: Er verzeichnet eine "Rückkehr der Puppen im Trickfilm, in Computerspielen und auch schon im populären Film" und bemerkt, dass diese "mit ungeahnten Darstellungsmöglichkeiten über alle Grenzen von Zeit, Ort und Handlung hinweg" ausgestattet wären. "Eine Einheit von Puppen und Schauspielern kann unter solchen Voraussetzungen nicht mehr ausgemacht werden, es erfoerdert [sic!] große Anstrengungen, die Schönheit eines Schauspielerkörpers und die möglichst ausgereifte Komplexität seines Charakters der neuen Konkurrenz der Puppen gegenüber behaupten zu können." (S. 181) – so Gissenwehrers Resümee.
Auch wenn die Überlegungen zu Grenzen und Möglichkeiten des chinesischen Figurentheaters der Gegenwart in dem von Michael Gissenwehrer und Gerd Kaminski gemeinsam herausgegebenen Band auf die Tradition des Schattenspiels und ein mit Puppen und Marionetten experimentierendes SchauspielerInnentheater beschränkt bleiben, werden spannende Diskussionen über diese besondere Theaterform eröffnet und einem europäischen Publikum interessante Einblicke in Arbeiten des zeitgenössischen Theaters in China geboten
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