Michael Gissenwehrer, Chinas Propagandatheater 1942-1989.

München: Herbert Utz 2008. ISBN 978-3-8316-0791-4. 270 S., broschiert. Preis: € 44,-.

Autor/innen

  • Daniela Pillgrab

Abstract

Was haben eine unbewegliche Statue – ein Standbild – des 'Großen Vorsitzenden' der Kommunistischen Partei Chinas von 1949 bis 1976, Mao Zedong, und das chinesische Propagandatheater miteinander zu tun? Michael Gissenwehrer, seit dem Jahr 2000 Professor an der LMU-München, erforschte in seiner 2008 im Herbert Utz Verlag erschienenen Habilitationsschrift über Chinas Propagandatheater 1942-1989 politische und kulturelle Zusammenhänge und bringt Licht ins Dunkel dieser bislang in Europa noch kaum beachteten Verflechtungen.

Gissenwehrer hatte von 1983 bis 1985 ein Studium an der Zentralen Theaterakademie Peking absolviert und dort einen Teil der letzten Periode des Propagandatheaters miterlebt. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Fragen: "Und das Theater? Wie geeignet ist es für Propaganda? Welche Voraussetzungen dafür bringen die traditionellen Formen mit sich, welche seiner Elemente können – mehr oder weniger abgewandelt – für die neue Aufgabe brauchbar sein?" (S. 34), arbeitet sich der Autor durch fast fünfzig Jahre chinesischer Theatergeschichte. Substrat der Untersuchungen bilden aufbereitete Exzerpte aus insgesamt 15 charakteristischen und teilweise auch umstrittenen Theaterproduktionen, die in ihrer direkten Wechselwirkung mit den kulturpolitischen Entwicklungen besprochen werden. Neben Dramentexten und Sekundärliteratur fließen Theaterkritiken und eigene Notizen Gissenwehrers, die im Verlauf seines Studiums in Peking entstanden sind, in die Analysen ein.

Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die Rede von Mao Zedong im Mai 1942, die als 'Rede auf dem Yan’an-Forum über Literatur und Kunst' in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Das traditionelle Theater wurde für beendet erklärt und ein Neuanfang im Zeichen der Parteipropaganda bestimmt: "Ganz im Sinne des Großen Vorsitzenden hatten die Machthaber das Instrument Theater organisatorisch total unter ihre Kontrolle gebracht. Nun konnten sie sichergehen, dass es kein Wort mehr geben würde und keine Geste, die nicht in ihr Konzept passte." (S. 11) Tatsächlich waren zehn Jahre später von den ursprünglich über 100.000 verschiedenen Theatergruppen nur mehr 3.300 übrig.

Michael Gissenwehrer bleibt es den LeserInnen nicht schuldig, seinen Untersuchungen einen Überblick über die mehr als zweitausendjährige Geschichte des chinesischen Theaters voranzustellen. Die im Westen wohl bekannteste Form, die Pekingoper, entwickelte sich erst in den 1830er Jahren. Ein psychologisch-realistischer Schauspielstil war China lange Zeit fremd. Er gelangte erst zu Beginn des 20. Jahrhundert von Europa über Japan nach China, wo man ihn als huaju, Sprechtheater, bezeichnete, und schon ab den 1920er Jahren auch zu Zwecken der Parteipropaganda einsetzte.

Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 gestalteten zwei monumentale Ikonen – ein Standbild von Mao Zedong aus weißem Stein – in zwei Varianten die Zentren (oder die 'Mitte'; gemäß chinesischer Philosophie Symbol für das Ganze) von Städten, Fabriken, Kasernen, Krankenhäusern, Universitäten, etc. Variante eins zeigt einen 'stehenden Mao Zedong mit hängenden Armen', die zweite ist ein 'stehender Mao Zedong mit nach vor gestreckten rechten Arm in Verbindung mit der nach links-vor offenen rechten Hand'. Bei der Analyse des besonderen Aufbaus dieser Figurationen und der durch den gestreckten Arm markierten Raumrichtung(en) greift Gissenwehrer das von Rudolf von Laban entwickelte Konzept der Kinesphäre auf. Für seine Untersuchungen schlägt er vor, in einer gedachten Raumkugel um den Körper einen Würfel mit seinen Dimensional-, Diagonal- und Diametralpunkten einzuzeichnen, wobei sich Kugel und Würfel auf einen gemeinsamen Mittelpunkt beziehen. Ausgehend von der These, dass im chinesischen Propagandatheater mit der Mao-Statue vergleichbare Bühnenstandbilder ausgemacht werden können, zeigt Gissenwehrers Studie, "wie die Theaterfiguren dem Auftrag zur Propaganda nachkommen, indem sie sich als Standbilder im mao-kosmologisch strukturierten Raum verhalten, dadurch die neue Weltenordnung zur Schau stellen, in ihr Orientierung geben und, indem sie sich zwischen den Fixpunkten – und auf sie bezogen – bewegen, ein Spiel zu Stande bringen zwischen archaisch-mythischen Dimensionen und Lächerlichkeit." (S. 52) Den größten Teil von Gissenwehrers produktionsästhetischen Auseinandersetzungen und theatersemiotischen Untersuchungen der 15 Aufführungen nimmt die Analyse isolierter Standbilder ein. Sehr detailliert untersucht er die durch zahlreiche Screenshots aus Videoaufzeichnungen illustrierten Figuren in Hinblick auf ihre besondere Raumrichtung, die Nutzung der Kinesphäre und die Verbindung von Armposition und Handformung. Gesten und sprachliche Repliken werden parallel analysiert .

Der zeitliche Rahmen des im vorliegenden Buch diskutierten Propagandatheaters ist über 47 Jahre gespannt. Während dieser Zeit wurden in China unter anderem 1958 der 'Große Sprung Vorwärts' und 1965 die 'Große Proletarische Kulturrevolution' verkündet. Gissenwehrer ruft Erinnerungen an die Ursprünge des chinesischen Theaters hervor, wenn er Mao Zedong als den Herren der 'Mitte' bezeichnet, der bis zu seinem Tod 1976 „an des Schamanen statt“ agierte (S. 254) und das Theater in ein politisches Ritual verwandelte, welches Bühnenstandbildern eine zentrale Propagandafunktion zudachte: "Standbilder sind durch ihre Figuration, die Dauer des Angehaltenseins, ihre Akzentuierung häufig durch einen Musikakkord oder den Rhythmus, ihre Hervorhebung durch Verfolgerlicht, durch eine mögliche begleitende sprachliche Phrase in einer auffallenden paralinguistischen Form, ihre Position in einer dramaturgisch entscheidenden Situation etc. sehr einprägsam, sie bieten ihre Information nicht nur an, sie drängen sie förmlich auf." (S. 158)

Nach Mao Zedongs Tod versprach sein Nachfolger Deng Xiaoping den Literatur- und Kunstschaffenden zwar mehr Eigenverantwortung und weniger Kontrolle durch die Partei. Gissenwehrers Untersuchungen zeigen allerdings, dass erst Mitte der 1980er Jahre ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen war, der das Theater zu einem Instrument der Reflexion und Kritik der Wirklichkeit werden ließ. Ein Neuanfang auf allen Ausdrucksebenen schien nach einer langen Zeit der Funktion des Theaters als Propagandainstrument notwendig zu sein. Etablierte Dramatiker, Regisseure und Schauspieler nahmen in zunehmendem Maße kritische Positionen gegenüber den politischen Entwicklungen ein und brachten die Standbilder zum Bröckeln; das Scheitern des Theaters in seiner Funktion als politisches Ritual war unaufhaltbar.

In Michael Gissenwehrers Habilitationsschrift über Chinas Propagandatheater 1942-1989 bilden die produktionsästhetische Auseinandersetzung mit Theatertexten und deren szenische Umsetzung den Kern der Arbeit; dazu verwendet der Autor umfangreiche chinesische Sekundärliteratur. Darüber hinaus geht es Gissenwehrer aber ebenso um den historischen Kontext: er betrachtet die Inszenierungen nicht isoliert, sondern verknüpft die ästhetische Ebene mit einer politischen, indem er Verbindungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen und kulturpolitischen Maßnahmen der kommunistischen Machthaber herstellt. Auf diese Weise gelingt es ihm, europäischen LeserInnen einen fundierten Überblick über Inhalt, Form und Inszenierungsstil ausgewählter Theaterproduktionen aus 47 Jahren Propagandatheater in China im Wechselspiel mit dem die Kulturlandschaft bestimmenden jeweiligen gesellschafts- und kulturpolitischen Bezugsrahmen zu präsentieren. Letztlich sind es aber vor allem Gissenwehrers eigenhändige Recherchen und Beobachtungen vor Ort in den 1980er Jahren, welche der Arbeit eine sehr persönliche Note verleihen und sie zu einem besonderen und wertvollen Beitrag für ein europäisches Verständis der fast fünfzigjährigen Geschichte des chinesischen Propagandatheaters machen.

Autor/innen-Biografie

Daniela Pillgrab

hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Italianistik in Wien und Bologna studiert. 2007–2010 Kollegiatin im Initiativkolleg "Sinne-Technik-Inszenierung: Medien und Wahrnehmung", Universität Wien. Dissertation zum Thema Körper inszenieren nach Sozialistischem Realismus und Peking Oper: Mei Lanfang in der Sowjetunion. Danach zwei Semester wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Beijing Normal University, China, School of Arts and Communication. Seit Jänner 2012 Hertha-Firnberg-Stelle (FWF) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien. Aktuelles Forschungsprojekt: Body Images in Performing Arts in the Age of Globalization.

Forschungsschwerpunkte: Theater-, Tanz- und Performancetheorien, Körperkonzepte, Theaterpraktiken in Ostasien, Kunst im Sozialismus.

Publikationen:

(Auswahl)

-: "Subjekt und Objekt zugleich. Gedanken zum 'geteilten' Körper in der Peking Oper." In: Theater und Subjektkonstitution, hrsg. v. Friedemann Kreuder/Michael Bachmann/Julia Pfahl/Dorothea Volz. Bielefeld: Transcript 2012. (in print)

–: "Animation Films in China" (mit Xiao Yongliang). In: Chinese Cinema/Cinéma Chinois. ASIEXPO Edition. Lyon 2012. (in print)

-/Christine Ehardt/Marina Rauchenbacher/Barbara Alge (Hg.): Inszenierung von "Weiblichkeit". Zur Konstruktion von Körperbilden in der Kunst, Wien 2011.

–: "Zwischen Bewegung und Stillstand. Fünf Überlegungen zur Pose in der Peking Oper". In: Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung. Maske und Kothurn, Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft, hrsg. v. Klemens Gruber/Monika Meister/Claus Pias/Frank Stern. Wien 2010, S. 77–90.

Veröffentlicht

2009-11-17

Ausgabe

Rubrik

Theater