Bruno Tackels: Les écritures de plateau. État des lieux.
Besançon: Les Solitaires Intempestifs 2015. ISBN 978-2-84681-441-6. 121 S. Preis: € 15,–.
Abstract
Das 20. Jahrhundert war die Zeit des Regietheaters, welches dem Publikum (klassische oder zeitgenössische) Texte durch die Vermittlung der Regie zugänglich machte. Das Theater des 21. Jahrhunderts wäre für Bruno Tackles folgendes: Text und Regie werden verschmolzen, ein 'Theaterstück' existiert noch nicht, wenn der Probenprozess beginnt. Bruno Tackels nennt diese Art, Theater zu machen, 'écriture de plateau', was sich (etwas schwerfällig) mit 'Schreibprozess auf der Probebühne' übersetzen ließe – und sich sowohl von Improvisation als auch von kollektiver Erarbeitung unterscheidet, da dieses Verfahren weder zum Ziel hat, beim Proben Texte zu erarbeiten, noch zwingend in einem Kollektiv entsteht.
Dieser Band ist der (vorläufige) Abschluss einer Reihe, die einigen dieser 'Probebühnenschriftsteller_innen' (wie Romeo Castellucci, François Tanguy und seiner Truppe 'Théâtre du Radeau', Anatoli Wassiljew, Rodrigo García, Pippo Delbono, Ariane Mnouchkine und ihrem 'Théâtre du Soleil') gewidmet ist, und ein Versuch einer vorläufigen Bilanz. Der Untertitel lautet 'état des lieux' – Bestandsaufnahme. Tackels will keine allgemeingültige Theorie erschaffen, sondern herausfinden, welche Gemeinsamkeiten diese Theaterschaffenden verbinden – und auch, ob er es rechtfertigen kann, sie alle unter einem, noch so weit gefassten Begriff zu vereinigen. Tackels versucht, nach Hans-Thies Lehmann zu theoretisieren und Hypothesen des Postdramatischen Theaters auf den Anfang des 21. Jahrhunderts anzuwenden. Die Fragen sind interessant, aber ich bin nicht sicher, ob Tackels sie immer überzeugend beantworten kann.
Der Ausdruck 'écritures de plateau' stammt nicht von Tackels selbst, sondern vom Autor Didier-Georges Gabily (1955–1996), der diesen Begriff auf den Arbeitsprozess Tanguys anwendete: Als 'écrivain de plateau' hätte er "cette volonté d'élucidation totale du monde à travers une œuvre de plateau" ("diesen Willen zur totalen Klärung der Welt durch ein Bühnenwerk" (übers. v. KS), S. 13). Neben dem Versuch einer Definition geht Tackels den historischen Aspekt seines Themas an: Er untersucht die beiden Komponenten Regie (als Bühnenpraxis) und Theater (als literarisches Genre) und analysiert, inwiefern sie zum Aufschwung der 'écritures de plateau' geführt haben. Ferner versucht er sich an einer Prognose hinsichtlich zukünftiger Schreibprozesse und -praktiken. Ein Kapitel ist den 'moralischen Kontroversen' gewidmet und bespricht die teils gewaltsamen Unterbrechungen von Aufführungen und Demonstrationen vor Theaterhäusern, insbesondere bei Theaterabenden Castelluccis und Garcías, innerhalb derer die Frage danach, was Theater darf und soll, aufgeworfen wird.
Was ist nun also die 'écriture de plateau'? Tackels nähert sich dieser Praxis zunächst durch Abgrenzung: Falls der Text von anderen übersetzt, gelesen und nachgespielt werden kann, trifft der Begriff nicht zu. Ein_e 'écrivain_e de plateau' ist also nicht Autor_in von Theaterstücken – aber auch nicht Regisseur_in, denn Tackels definiert Regie nicht als Beruf oder 'métier', mit allem, was dieser Begriff an solid-handwerklichen Komponenten beinhaltet. Das, was diese 'Schreibprozesse' von Regie im Sinn von Inszenierung unterscheidet, ist das Nichtvorhandensein eines (selbst geschriebenen oder fremden) Textes vor Probenbeginn – was aber nicht bei allen in der Publikation porträtierten Künstlerinnen und Künstlern der Fall ist.
Eine klare Definition dessen, was "un certain type d'écriture […] qui part du plateau, sous toutes ses formes, textuelle, plastique, sonore" ("eine gewisse Art zu schreiben, [die] von der Bühne ausgeht und die sich verschiedener Formen – Text, bildende Kunst, Ton – bedient", S. 13) ist, erschließt sich beim Lesen nicht sofort. Tackels räumt ein, dass die 'écrivain_e_s de plateau' keiner Schule, Ästhetik oder Avantgarde angehören. Er nennt auch gewisse Anhaltspunkte, die die 'écritures de plateau' charakterisieren, zum Beispiel die Benutzung der Technik. Theater hat zu jeder Zeit vom technischen Fortschritt profitiert; es liegt also nahe, dass das Theater des 21. Jahrhunderts von den Umwälzungen, die die numerische Revolution mit sich bringt, berührt wird. Eine andere Charakteristik ist die Verwendung nicht strikt dem Theater zugehöriger künstlerischer Ausdrucksweisen (Tanz, Musik, Zirkus, Marionetten, Video, usw.) auf der Bühne.
Neben Heiner Müller und dessen Verwendung von Text als Material das, wie im Film, geschnitten wird, findet Tackels in Walter Benjamin den ersten Theoretiker der 'écriture du plateau', wenn er über eine Hamlet-Inszenierung in London 1919 schreibt, in der der Protagonist im Frack – und nicht im historisierten Kostüm – auf die Bühne trat und damit ein neues Verständnis von Regie einleitete. Der Zwiespalt zwischen Werktreue und Modernisieren hält bis heute an – und Tackels bewegt sich auf der Seite der Modernisierung, auch wenn es ihm nicht darum geht, sich eindeutig zu positionieren. Alte Texte sollen stets neu hinterfragt werden; – dem Ausdruck des Modernisierens zieht Tackels übrigens das Wort 'réactivation' vor, im Sinne der erneuten Aktivierung eines Virus. Der Dialog mit den Klassikern muss weitergeführt werden, ohne dass man sich zum Sklaven des Textes macht – oder aber in einen Regie-Größenwahn verfällt: "Là où la mise en scène prétendait servir les pièces, alors qu'elles servaient plutôt, souvent, à certifier la signature de son auteur, l'écriture de plateau est plus modeste, mais également plus subversive, et pour tout dire iconoclaste." ("Da, wo die Regie vorgab, den Stücken zu dienen – wobei sie sich eher ihrer bediente, um der Regie den Status eines Autors zu garantieren –, ist die 'écriture de plateau' bescheidener, aber gleichzeitig auch subversiver und, offen gesagt, ikonoklastisch." S. 24)
Der Titel eines anderen Kapitels verlangt das Ende der Heiligsprechung des Textes: "Désacraliser le texte, enfin" (S. 51). Darin nimmt Tackels Anstoß daran, dass die (westliche) Theatertradition den gedruckten literarischen Text zum Zentrum macht; er meint, dass die größten Texte stets auf der Bühne für bestimmte Schauspieler_innen, geschrieben wurden. (Shakespeare, Goldoni und Molière – die ersten 'écrivains de plateau'?) Tackels zitiert Romeo Castellucci, der das Buch als "parallèlépipède de papier [qui] abrite le texte, certes, mais sous la forme d'un tombeau" ("Quader aus Papier, [der] dem Text Platz bietet, allerdings in der Form eines Grabmals", S. 56) bezeichnet. Die Arbeit der 'écrivain_e_s de plateau' sei es, diese Grabmäler wieder aufzubrechen. Das gilt auch für juristische Grabmäler: Bei der 'écriture de plateau' findet häufig 'Textrecycling' statt und die Schreibenden sind nicht mehr unbedingt die Besitzer_innen ihrer Texte. Die anstehende Debatte über Urheberrechte erscheint Tackles wesentlich: Digitale Literatur und Intertextualität werden auch die rechtliche Lage des Textes im Theater tiefgreifend verändern. Neue Fähigkeiten werden auch bei den Lese- und Sehgewohnheiten nötig sein, die Bühnenschreibenden werden 'Bühnenleser_innen' brauchen, denn "les écrivains de plateau partagent cette conviction que le spectacle ne s'achève que dans l'imagination de tous ceux qui y assistent" ("die 'écrivains de plateau' verbindet die Überzeugung, dass die Aufführung erst in den Köpfen all derer, die zuschauen, ihren Abschluss findet", S. 62). Dennoch werden bis jetzt alle Texte Rodrigo Garcías übersetzt und in Buchform herausgegeben – auch wenn dieser das als "amas de résidus (pour ceux qui aiment à entasser des ordures chez eux)" ("Anhäufung von Rückständen (für diejenigen, die gerne bei sich zuhause Abfall anhäufen)", S. 57) bezeichnet. García als Theaterschaffender, der in seinem Handeln weniger radikal ist als in seinen Worten? Er könnte, wie Jean-Michael Rabeux oder Jean-Marie Patte den Abdruck seiner Texte verweigern.
Andererseits begrüßt Tackels das Ende einer Zeit (dem 20. Jahrhundert), die vom Konflikt zwischen Text und Bühne geprägt war; einem Konflikt, der die Dichter_innen aus dem Theater ausschloss und mit einem Sieg der Regie endete. Regisseur_innen, die dem Publikum ihre Vision des Texts aufzwingen – Tackles vergleicht sie mit der Statue des Komturs –, haben einer neuen Generation von Künstler_innen, die auf der Bühne wie auf einer leeren Seite schreiben, Platz gemacht.
Genau da, im Versuch einer doppelten Abgrenzung dem Regietheater und der Texttreue gegenüber, rennt Tackels offene Türen ein. Die Frage, was man auf der Bühne zeigen darf und was nicht, durchzieht die ganze Kunstwelt; und die Umwälzungen, die das Theater heutzutage erlebt, gehen über die Frage des Textes hinaus. Ist es nicht eher so, dass das, was Tackels als 'écriture de plateau' bezeichnet, ganz einfach Theater ist, eine Form von Theater, die unserer Gegenwart entspricht? Tackels stellt gute Fragen, z. B. "comment dire, comment écrire (avec quels mots, quel type de mots) après le drame moderne"?("wie nach dem modernen Drama sprechen, wie schreiben (mit welchen Worten, welchem Worttyp)?", S. 92), aber seine Hypothesen laufen schließlich entweder auf eine Tautologie ('écritures de plateau' sind 'écritures de plateau' weil sie auf der Bühne entwickelt werden) hinaus, oder werden mit allen Einschränkungen und Nuancen so sehr abgeschwächt, dass er schließlich die Regie – der er kurz vorher den Berufsstand abgesprochen hat, und die totgesagt wird – als 'écriture de plateau' bezeichnet: "La mise en scène est clairement, déjà, une forme d'écriture de plateau" ("Die Regie ist ganz klar schon eine 'écriture de plateau'", S. 54).
Der Versuch, eine Theorie der 'écritures de plateau' zu entwickeln und Gemeinsamkeiten in den Arbeiten so verschiedener Persönlichkeiten wie Ariane Mnouchkine und Rodrigo García zu finden, bildet nur eine Ebene der Publikation ab. Der Subtext – und der eigentliche Einsatz Tackels' – ist der Kampf gegen die 'Gutenberg-Ära': Er will "en finir (vraiment, et radicalement) avec la tradition d'une théâtre dramatique de la mimesis" ("ein für allemal (wirklich und radikal) mit der Tradition eines dramatischen Theaters der Mimesis Schluss machen", S. 92). Diese 'Dramatikgläubigkeit' diagnostiziert er Olivier Py (Regisseur und Schriftsteller, der heute das Festival d'Avignon leitet), der 2005 in einem Artikel sagte: "Le théâtre peut-il encore se dire théâtre quand il va sans dire?" ("Kann sich das Theater noch Theater nennen, wenn es ohne das Sagen daherkommt?")[1] Tackles antwortet Py, indem er ein ganzes Buch schreibt und versucht, zu formulieren, was Theater heute sein könnte: Die 'écritures de plateau' – eine Rehabilitierung des Textes im Theater durch Einwanderung anderer Kunstformen. Ein höchst aktuelles und politisches Programm.
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[1] Olivier Py: "Avignon se débat entre les images et les mots", in: Le Monde, 29. 07. 2005, http://www.lemonde.fr/idees/article/2005/07/29/avignon-se-debat-entre-les-images-et-les-mots-par-olivier-py_676211_3232.html (28. 01. 2016).
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