Raphaëlle Doyon/Guy Freixe (Hg.): Les collectifs dans les arts vivants depuis 1980.
Lavérune: éditions L'Entretemps 2014. ISBN 978-2-35539-178-1. 319 S. Preis: € 16,75.
Abstract
Was den sechziger und siebziger Jahren die Theatergemeinschaften, sind der heutigen darstellenden Kunst, so scheint es, die Kollektive. Wie ging die historische Entwicklung von den einen zu den anderen vor sich? Welches sind die Modelle, die zeitgenössische Kollektive inspirieren? Was unterscheidet ein Kollektiv von einer freien Gruppe? Der von Raphaëlle Doyon und Guy Freixe herausgegebene Sammelband versucht, diese Fragen zu beantworten.
Als Kollektiv zu arbeiten, ist nicht nur eine ideologisch-politische Entscheidung, sondern auch eine mögliche Lösung für wirtschaftliches Überleben – der erste Buchabschnitt widmet sich entsprechend, manchmal etwas zahlenlastig, dieser wirtschaftlichen Frage. Im französischen Theater gibt es keine festen Ensembles, die Theatermacher_innen arbeiten in der freien Szene, die aus Theater'gruppen' (oft von nur einer oder zwei Personen) besteht, die gemeinnützige Vereine sind und so weder einer öffentlich Institution noch den Privattheatern angehören. Diese Gruppen, für die in der Regel nur eine Person künstlerisch – und oft auch administrativ – verantwortlich ist, produzieren ihre Stücke selbst und versuchen, sie im professionellen Theater zu vertreiben.
Sich als Kollektiv zu organisieren, hat nun den Vorteil, finanzielle Risiken und außerkünstlerische Arbeit zu teilen. Erstaunlicherweise, wie Philippe Henry in seinem Beitrag feststellt, seien jedoch die wenigsten Kollektive nach dem Modell einer Scop (Société Coopérative Ouvrière de Production), einer Genossenschaft organisiert, meistens agierten auch sie als Verein.
Die folgenden Kapitel porträtieren einzelne Kollektive und fragen nach deren Motivation, sich so zu organisieren. Die Frage nach der Stellung der Regisseur_innen ist ein weiterer zentraler Punkt: Ein Grund, ein Kollektiv zu gründen, ist laut Doyon der Wunsch der Schauspieler_innen, nicht mehr nur Interpret_innen, sondern gleichberechtigte kreative Künstler_innen zu sein. Verschiedene Beiträge erwähnen Beispiele, die eher dem Tanz (Krystel Khoury über den Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui) oder der Videoinstallation (Romain Fohr über das Kollektiv BERLIN) zuzuordnen sind oder schauen über Sprach- und Landesgrenzen hinaus. Joanna Pawelczyk widmet sich in ihrem Text der Komuna Otwock/Warszawa, einer polnischen Gruppe, die seit 1989 besteht, aus der anarchistischen Punk-Rock-Szene stammt und deren Projekte weniger mit Theater als mit Erziehung und Sozialarbeit zu tun haben. Marcus Borja untersucht am Beispiel der brasilianischen Truppe Teatro da Vertigem des Regisseurs Antônio Araújo das kollaborative Stückschreiben und vergleicht es mit der gemeinsamen Stückentwicklung der Sechziger- und Siebzigerjahre.
Esther Gouarné zeichnet die Entwicklung des flämischen Theaters und der besonderen Situation in Belgien nach: Dort bedeutete der Niedergang des politischen Theaters nicht zugleich einen künstlerischen Niedergang, sondern eine späte Avantgarde, die neue Formen entwickelte. Diese führte 1989 zur Gründung des Kollektivs tg STAN (NL: Toneelspelergezelschap Stop Thinking About Names), das seit Ende der Neunzigerjahre regelmäßig auch in Frankreich in prestigeträchtigen Theatern gastiert. Die Tatsache, dass tg STAN zwar eine radikale Vision von Theater hat (die Schauspieler_innen tragen Alltagskleidung, wer nicht in einer Szene spielt, bleibt auf der Bühne, usw.), aber Texte des Repertoires spielt (auch auf Französisch), hat vielleicht, so Gouarné, zu Beginn dazu beigetragen, dass das Publikum in Frankreich nicht allzu verunsichert war. Heute berufen sich viele Kollektive auf die flämische Truppe, wie z. B. L'Avantage du doute, deren Mitglieder sich nach einem Workshop mit tg STAN-Gründungsmitglied Frank Vercruyssen zusammengetan haben, oder BERLIN, dessen Mitglieder an der Schauspielschule von Antwerpen studiert haben – wo einige Mitglieder von tg STAN zuerst lernten und jetzt auch lehren.
Der letzte Abschnitt enthält Abschriften der Gespräche, die Doyon und Freixe mit Mitgliedern der Kollektive Les Chiens de Navarre, L'Avantage du doute und DRAO geführt haben. Sie sind ein Teil des Quellenmaterials, das in den übrigen Beiträgen kritisch und wissenschaftlich reflektiert wird – aber es ist interessant, diese Aussagen auch ungefiltert lesen zu können.
Welches sind nun also die Charakteristiken, die ein Kollektiv definieren? Doyon konstatiert, dass ihre Mitglieder der Gesellschaft nicht radikal den Rücken zukehren, wie das um 1968 oft der Fall gewesen sei, sondern Teil einer soziokulturellen Elite sind, die ein System ablehnt, welches sie schließlich doch anerkannt hat. Ihre Aktionsweise ist nicht direkt politisch, sondern hinterfragt den heutigen institutionellen Theaterbetrieb (welcher sich aber gut damit abfindet, wenn man einen Blick in die Programme der Theater und Festivals wirft: Die Kollektive sind gut vertreten). Ihr Kreationsprozess ist oft dadurch charakterisiert, dass bei den Proben (manchmal auch bei den Vorstellungen) kein Text vorliegt, und dass Themen und Texte bei monate- oder jahrelangen Proben hauptsächlich in langen Diskussionen entwickelt werden. Die Wichtigkeit des Miteinanderredens wird von allen Kollektiven unterstrichen. Dabei wird nicht durch Mehrheitsentscheide ein Kompromiss gesucht, sondern im Gegenteil der Dissens gefördert. Das Spiel schwankt zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Improvisation und Illusion der Improvisation. Es geht auch nicht um Einfühlung in eine 'Rolle'; die Schauspieler_innen spielen sich selbst (oft tragen die 'Figuren' die Vornamen der Schauspieler_innen) oder formen eine Rolle nach ihrer eigenen Persönlichkeit.
Was die Organisation betrifft, sind die Aufgaben innerhalb des Kollektivs vielfältig verteilt – was ansonsten als Zeichen von wirtschaftlicher Unsicherheit und Amateurismus angesehen ist, hier aber positiv belegt wird –, den festen Willen, die Schauspieler_innen ins Zentrum der Theaterarbeit zu rücken und eine Produktion nicht automatisch mit dem Namen einer/eines Regisseur_in gleichzusetzen. Die Unterschrift, die ein Kunstwerk – im 20. Jahrhundert auch in der Regie – authentifiziert und überhaupt erst dazu macht, wird von den Kollektiven in Frage gestellt: Der Bekanntheit – dem re'nom'mée – wird der Name entzogen (daher auch: 'Stop Thinking about Names'). Auch wenn einige Kollektive eine_n Regisseur_in haben, wird diese Funktion selten so genannt: Jean-Christophe Meurisse (Les Chiens de Navarre) etwa wird vom Schauspieler und Chiens-Mitglied Maxence Tual als Schnittmeister bezeichnet; seine Aufgabe ist es nicht, bei den Proben seine Vision eines Stücks zu festigen, sondern die Vorstellungen zu 'deperfektionieren', damit das Improvisationsdispositiv auch noch nach Dutzenden von Aufführungen funktionieren kann.
Ob dies auch mit einem Ende der Regie gleichzusetzen ist, stellt Freixe in seinem Beitrag ''Den Regisseur abschaffen?'' in Frage. Regie war und ist auch eine Frage der Macht. Viele Kollektive kennzeichne ein starker Individualismus, der jede die Freiheit der Schauspieler_innen beschneidende Autorität zurückweise. Freixe fragt sich, ob diese Situation nicht ein Pyrrhussieg ist und vergleicht die zeitgenössischen Kollektive mit dem Theâtre du Soleil, bei dem er die Unerlässlichkeit eines Blicks von außen hervorhebt, um zu vermeiden, dass das Spiel der Schauspieler_innen in eine postmodern-autoreferentielle Unverbindlichkeit abgleitet. Die Ablehnung jeglicher Hierarchien und Werturteile führe sonst dazu, dass die Schauspieler_innen nur sich selber spielten, und dass sich ihr Spiel, über längere Zeit verfolgt, nicht mehr erneuere und verbessere.
Doyon hingegen steht dieser Entwicklung optimistisch gegenüber; sie sieht in dieser neuen gemeinsamen Unterschrift und der damit einhergehenden Auflösung der Figur des 'Chefs' eine Chance für das französische Theater des 21. Jahrhunderts, auch gerade, was die Gleichheit zwischen Männern und Frauen betrifft: Die großen Rollen des Repertoiretheaters sind meist Männerrollen, während es mehr Schauspielerinnen als Schauspieler gibt. Mehr Kollektive, die für und mit ihren Mitgliedern Stücke entwickeln, führten zu mehr Frauen auf der Bühne und zu einer größeren Gleichberechtigung in vielen Theaterberufen. Dazu sei noch bemerkt, dass Doyon ihre Beiträge geschlechtergerecht schreibt – was in Frankreich auch heute noch selten genug ist und deshalb einer Erwähnung wert ist.
Man kann dem Kollektivtrend kritisch oder optimistisch gegenüberstehen – jedenfalls macht die Lektüre dieses Buches Lust auf Theaterexperimente, als Theatermacher_in oder Zuschauer_in. Und für Akademiker_innen stellt es eine grundlegende Frage, die im Beitrag von Baptiste Pizzinat explizit angesprochen wird: ''In einer Welt, in der die kollektive Mobilisierung immer schwieriger wird – die akademische Welt bildet da keineswegs eine Ausnahme – [ist] Zusammenarbeit heute nicht mehr ein Luxus. Es ist vielleicht die einzige Methode, die sich uns anbietet, um die sozialen, materiellen und zeitlichen Bedingungen wiederzufinden, die es ermöglichen, Forschung zu betreiben, die diesen Namen verdient, die fähig ist, immer wieder erneut Teil der Polis zu sein und auch dessen, was man gemeinhin, sicher viel zu überstürzt, als öffentlichen Raum bezeichnet'' (übers. v. K.S., S. 76).
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