Renate Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe.

Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2002. ISBN 3-476-01817-2. 425 S. Preis: € 41,10/sfr 64,--.

Autor/innen

  • Beate Hochholdinger-Reiterer

Abstract

2000 erschien bei Metzler mit dem Sammelband Gender-Studien. Eine Einführung , hg. von Christina von Braun und Inge Stephan, eine erste deutschsprachige Bestandsaufnahme der mittlerweile nahezu unüberschaubar gewordenen Geschlechterforschung.

Außerdem widmet sich der Metzler-Verlag seit Jahren erfolgreich der Publikation gelungener kultur- und literaturwissenschaftlicher Lexika (vgl. z. B. Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945 , hg. v. Ralf Schnell oder Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe , hg. v. Ansgar Nünning).

Was lag also näher, so scheint es, wiederum erstmals im deutschsprachigen Raum ein Lexikon zum Themenkomplex Genderforschung/Gender Studies vorzulegen? Das von Renate Kroll, Professorin für Interdisziplinäre Frauenforschung in der Romanistik an der Universität Siegen, herausgegebene Metzler Lexikon Gender Studies, Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe ist als längst fällige Orientierungshilfe im weit verzweigten und kontroversiell diskutierten Forschungsfeld gedacht. Um es gleich vorwegzunehmen: Auch diese Publikation löst ihre hohen Ansprüche durchaus ein und kann als absolut gelungen bezeichnet werden.

In ihrem Vorwort skizziert die Herausgeberin die wesentlichsten historischen Grundpfeiler, die zur allmählichen Ausbildung der Genderforschung beigetragen haben, und bietet eine präzise und konzise Definition derselben, die auf der Annahme basiert, "daß das Geschlecht eine sozio-kulturelle Konstruktion ( gender ) und vom biologischen Geschlecht ( sex ) zu unterscheiden ist bzw. daß auch der vermeintlich natürliche Körper ( sex ) eine kulturelle Konstruktion, d.h. (erst) aus der gender -Perspektive konstruiert ist. Essentialistische Bestimmungen des 'Wesens' eines Geschlechts werden demgegenüber aus den (biologischen) Geschlechtsmerkmalen bzw. der 'Natur' der Frau oder des Mannes abgeleitet. Als historisch wandelbare, gesellschaftlich-kulturelle, zugleich semiotische und soziokulturelle Kategorie meint gender die Bedeutung(en), die eine Kultur der Unterscheidung zwischen Mann und Frau zuschreibt. Gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen einer Geschlechterdifferenz, wie sie Sozialisation und symbolische Ordnung dem biologischen Geschlecht auferlegen, haben zu hierarchischen, asymmetrischen Geschlechterverhältnissen geführt; sie funktionieren nach den jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Deshalb steht gender auch im Zusammenhang mit anderen hierarchischen Kategorien wie 'Rasse', 'Gesellschaftsklasse', 'Ethnie' und 'sexueller Orientierung'."

Die verschiedenen Strömungen wie Frauenforschung, Women's Studies, Männerforschung, feministische Wissenschaft, Geschlechterforschung/Gender Studies, Queer Theory, Gay and Lesbian Studies – bisweilen in ihren Ausrichtungen und Schwerpunktsetzungen nicht mehr einfach voneinander zu trennen – sind heute im weiteren Zusammenhang der Kulturwissenschaften, des Multikulturalismus und der so genannten Postmoderne zu sehen.

Die derzeitige Forschungssituation ist von divergierenden Ansätzen, differenzierten Begrifflichkeiten und bisweilen verwirrendem Theorien- und Methodenpluralismus geprägt. Konstant bleibt die Grundannahme, "daß gender mehr ist als nur ein Forschungsaspekt unter anderen", was zwangsläufig zu einer Revision des Wissenschaftsverständnisses geführt hat. Gender gilt als "eine Kategorie, die Kultur und Gesellschaft nicht nur prägt (und durch sie geprägt wird), sondern auch als eine Kategorie, die die gesellschaftliche Logik und kulturelle Bedeutungsstiftung organisiert." Von daher sind für erfolgreiche Genderforschung wissenschaftliche Vernetzung und Interdisziplinarität unabdingbare Voraussetzungen.

Das Lexikon spiegelt den aktuellen Forschungsstand wider und beleuchtet den Zusammenhang zwischen den Gender - und Kulturwissenschaften, stellt aber auch Bezüge zu Poststrukturalismus, Dekonstruktion, New Historicism, Postkolonialismus und Multikulturalismus her. Die Wahl der Einträge, Herzstück und Maßstab jedes Lexikons, umfasst – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – wissenschaftliche Disziplinen und deren Beitrag zur bzw. Umgang mit der Genderforschung, Begrifflichkeiten, Theorien, Methoden, geografische Besonderheiten, Institutionen wie Frauenuniversitäten, Frauenverlage, Fachzeitschriften usw., die von der internationalen Frauenbewegung, der Frauenforschung bzw. den Gender Studies initiiert worden sind, und Personen von internationaler Bedeutung. Die Entscheidung fiel dahingehend, nur Artikel über Personen, Theoretiker/innen und Wissenschaftler/innen zu veröffentlichen, die internationale Aufmerksamkeit gewonnen haben. Man wolle mit dem Lexikon zum gegenwärtigen Zeitpunkt "noch keine Kanonisierung des deutschen theoretischen und begrifflichen Beitrags vornehmen." Diese Entscheidung ist ebenso geschickt wie notwendig, würden doch wohl andernfalls viele der Beiträger/innen auch als "Eintrag", somit als Schreibende und Beschriebene in ein und demselben Lexikon wiederkehren.

Einzelne Felder und Themen sind – wie schon in den anderen, bereits erwähnten Metzler-Lexika – durch Querverweise verknüpft und ermöglichen dadurch einen in Zeiten allgemeiner Verlinkung nahezu "altmodischen" Lese genuss. Man erkennt wieder einmal, dass es durchaus Sinn macht, auch heute noch Lexika in gedruckter, nicht nur in digitalisierter Form zu konsumieren. Zusammenhänge und Widersprüche werden bzw. bleiben in gedruckten Publikationen deutlicher, sie bleiben bestehen, sichtbar.

Die einzelnen Lexikonartikel sind einheitlich und stringent aufgebaut. Sie führen "von allgemeinen, umfangreichen Einträgen zu speziellen und kürzeren Begriffsartikeln". Nach der Definition des Gegenstands folgen die Darstellung des Kontextes bzw. Geltungsbereichs, ein historischer Abriss, die Skizze der aktuellen Problemlage, Kritik und Literaturangaben. Solcherart gelingt es, den Begriff gender und sein umfassendes Forschungsfeld in den Stichwörtern des Lexikons "begriffsgeschichtlich und funktionsspezifisch" zu differenzieren. Es geht also nicht nur um "ideengeschichtliche Begriffe", sondern um den Versuch, "nebeneinander existierende (und zum Teil durchaus heterogene) Denkansätze einzubeziehen und auf verwandte wie auf konträre Konzepte zu verweisen." Nur dadurch kann es gelingen, Zusammenhänge herzustellen, auf Veränderungen und Entwicklungen hinzuweisen.

Zusätzlich zu den Literaturangaben jedes Lexikonartikels enthält der Band auch eine umfassende weiterführende Bibliografie, in der vor allem die für die Genderforschung relevanten Nachschlagewerke, Handbücher, Bibliografien, (Fach-)Zeitschriften und Internet-Adressen sowie die Titel der Standardwerke, auf die in den einzelnen Beiträgen immer wieder verwiesen wird, erfasst sind.

Der Erfolg des Lexikons ist selbstverständlich vor allem der geglückten Auswahl der mehr als 90 Autor/innen geschuldet, da sich die einzelnen Einträge im Großen und Ganzen trotz der gebotenen Kürze durch differenzierte, umfassende und klar verständliche Definitionen auszeichnen. Ab und an passieren – auch in einem derartig vorbildlich redigierten Werk – kleine Missgeschicke, so z. B. ausgerechnet im Eintrag zum Thema Essentialismus , wo sex als "natürliches [!]" und gender als "soziales" Geschlecht übersetzt wurde (eine bedauerlicherweise stark um sich greifende, bedeutungsverengende, wenn nicht sogar verfehlende Definition des ins Deutsche nur durch Hilfskonstruktionen übersetzbaren Begriffs).

Dass unter dem Eintrag Theater/Theaterwissenschaft ausschließlich feministische Theaterpraxis und feministische Theaterwissenschaft erläutert werden, verwundert nicht, existiert doch für unser Fach – gerade im deutschsprachigen Raum – eine die aktuellen Erkenntnisse der Genderforschung reflektierende Forschungs"tradition" nicht. Warum aber in diesem Eintrag nicht einmal in den Literaturhinweisen Bezug auf die deutschsprachige feministische Theaterwissenschaft (Renate Möhrmann zählt da wohl eindeutig zu den Pionierinnen) genommen wurde, erklärt sich wohl kaum durch die für die Auswahl von Personenartikeln auferlegte Reduktion.

In ihrem Vorwort verweist Renate Kroll darauf, dass sich noch bei der Endredaktion neue Begriffe, Ergänzungen bzw. Kürzungen ergeben haben. In diesem Sinn ist dem Lexikon eine baldige erweiterte zweite Auflage zu wünschen.

Sowohl für Einsteiger/innen als auch für Fortgeschrittene bietet das Metzler Lexikon Gender Studies, Geschlechterforschung umfassende Orientierungshilfen und vielfache Anregungen für die eigene Forschung.

Autor/innen-Biografie

Beate Hochholdinger-Reiterer

Studium der Theaterwissenschaft und Deutschen Philologie an der Universität Wien. 1997-1998: Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kommission für literarische Gebrauchsformen (Österreichische Akademie der Wissenschaften). Mai 1998 bis Juni 1999: Vertragsassistentin, seit Juli 1999 Universitätsassistentin, seit Mai 2006 Assistenzprofessorin am Wiener Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Seit Oktober 2008: Elise Richter-Stelle (FWF) für das Habilitationsprojekt "Die Kostümierung der Geschlechter in deutschsprachigen Schauspieltheorien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts."

Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Schauspieltheorien (18. Jh.), Genderforschung, Dramatik des 19. und 20. Jahrhunderts, österreichische Gegenwartsdramatik. 

 

Publikationen:

Beate Hochholdinger-Reiterer, "Zu den Anfängen einer Theoretisierung von Schauspielkunst im deutschsprachigen Raum," Maske und Kothurn, 54/Heft 4 (2008), S. 107-119.

–, "'Mich hat Film immer mehr interessiert. 'Zur 'Malina'-Verfilmung nach dem Drehbuch von Elfriede Jelinek, " in: Pia Janke (Hg.): Elfriede Jelinek: "Ich will kein Theater". Mediale Überschreitungen. Diskurse.Kontexte.Impulse 3, Wien: Praesens 2007, S. 343-364.

–, "'1941. Alles äußerst heiter!': Zur Komik in Elfriede Jelineks 'Burgtheater. Posse mit Gesang'", in: Hilde Haider-Pregler, Brigitte Marschall, Monika Meister, Angelika Beckmann und Patric Blaser (Hg.), Komik: Ästhetik. Theorien. Vermittlungsstrategien. Maske und Kothurn 51/H. 4, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2006, S. 447-456.

–, "'doppeltes Vergnügen – doppelter Reiz': Gender und Theater(wissenschaft). Schauspieltheorien als Beispiel." Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft Universität Wien (Hg.), Theater Kunst Wissenschaft: Festschrift für Wolfgang Greisenegger zum 66. Geburtstag, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2004, S. 199-209.

–/Birgit Peter (Hg.), Burgtheater: Mythos – Eros – Imago. Maske und Kothurn, 50/Heft 2 (2004).

Veröffentlicht

2005-04-12

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft

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