Lothar Ehrlich und Georg Schmidt (Hg.), Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext.

Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008. ISBN 978-3-412-20113-5. 299 S. Preis: € 35,90.

Autor/innen

  • Beate Hochholdinger-Reiterer

Abstract

Anlässlich des 200. Todestages von Anna Amalia und des 250. Geburtstages des Großherzogs Carl August wurde von der Klassik Stiftung Weimar und dem Sonderforschungsbereich (SFB) 'Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800' der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2007 eine interdisziplinäre Tagung veranstaltet, die sowohl "die internen und externen Zusammenhänge von Politik, Gesellschaft und Kultur [...] als auch einzelne künstlerische und wissenschaftliche Leistungen" (S. 8) des Ereignisraumes Weimar-Jena um 1800 thematisierte.

Wurde in der nationalen Wissenschaft des späten 19. und auch des 20. Jahrhunderts die 'Weimarer Klassik' ausschließlich als singuläre literarische Periode aufgefasst, so geht der innovative Ansatz sowohl des SFB als auch der Klassik Stiftung Weimar davon aus, dass es sich bei 'der Klassik' um ein höchst komplexes kulturgeschichtliches Phänomen handelt, "um eine solitäre Verdichtung und Aufgipfelung der Wissenschaften und Literatur von globaler Geltung und Wirkungsmacht, sowohl in der Residenzstadt Weimar als auch in der benachbarten Universitätsstadt Jena." (S. 8) Diese "integrative Grundposition" geht auf Goethes 1825 formulierte Einschätzung zurück, wonach er "Jena und Weimar wie zwey Enden einer großen Stadt anzusehen habe, welche im schönsten Sinne geistig vereint, eins ohne das andere nicht bestehen könnten." (S. 8)

Georg Schmidt legt in seinem Beitrag "Das Ereignis Weimar-Jena und das Alte Reich" daher auch die methodischen Vorzüge des 'Ereignisbegriffs' dar. Seit den 1780er Jahren verbarg sich hinter "der Chiffre Weimar" die Doppelstadt Weimar-Jena "mit der ganzen Vielfalt ihres geistigen und literarisch-ästhetischen Potentials", nicht "die Normierung eines bestimmten Stils oder Geschmacks" stand im Vordergrund, "sondern die Ausrichtung auf dieses Zentrum kommunikativer Verdichtung, das kulturelle Höchstleistungen provozierte." (S. 31) Überdies lässt sich das 'Ereignis Weimar-Jena' als "ein Laboratorium" verstehen, in dem u. a. "neue Nations- und Staatsideen kreiert wurden." (S. 32)

Die Tagungsschwerpunkte bestimmen auch die Gliederung des von Lothar Ehrlich und Georg Schmidt herausgegebenen Sammelbandes. Trotz der interdisziplinären Ausrichtung dominieren germanistische und historische Beiträge. Den Anfang machen Analysen der historischen Zeitumstände, in denen wesentliche politische Einschnitte, wie das Ende des Alten Reichs oder die empfindliche Niederlage des preußisch-sächsischen Heeres gegen die napoleonischen Truppen 1806, stets mit Blick auf die damit einhergehenden Auswirkungen auf Gesellschaft und Kultur dargestellt werden. So kann beispielsweise Gerhard Müller in seinem Beitrag "Kultur als Politik in Sachsen-Weimar-Eisenach" zeigen, dass sich der Ruf Weimars und das internationale Ansehen seiner Dichter und Literaten nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt 1806 "als unschätzbares politisches Kapital" erwiesen haben und dass mit Hilfe der von den Dichtern und Intellektuellen über Jahre aufgebauten "personellen Beziehungs- und Kommunikationsnetze" (S. 67) der drohende Untergang des Herzogtums abgewendet werden konnte. "Die Kultur ersetzte in dieser besonderen historischen Situation gleichsam die Politik, genauer gesagt das, was man damals unter Staatspolitik verstand, das Handeln der Regenten, Regierungen und Diplomaten. Daß Weimar in der Krisensituation von 1806 in der Lage war, auf ein solches Potential zurückzugreifen, war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung." (S. 67)

Ein weiterer Schwerpunkt des Bandes widmet sich Interpretationen von wissenschaftlichen und künstlerischen Werken. So liest etwa Ernst Osterkamp Goethes Alterswerk sowohl inhaltlich als auch formal als eine "Poesie der Einsamkeit" (S. 106), die nach Schillers Tod als Ergebnis von Goethes Strategie zur aktiven Bewältigung des Verlustes zu verstehen sei. Die formale Radikalität der späten Werke sei, so Osterkamp, erst durch die gewählte Einsamkeit, durch den Rückzug auf 'das Innere' möglich geworden. Goethe habe darin keinerlei Konzessionen an den Zeitgeist und die Publikumserwartungen mehr gemacht.

Wie ertragreich die Erschließung unbeachtet gebliebener Quellen stets sein kann, zeigt Cornelia Brockmann in ihrem Beitrag zum "Repertoire der Weimarer Hofkonzerte", für den sie den umfangreichen 'Katalog über Noten für Instrumentalmusik um 1750' auswertet. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht könnten im Katalog verzeichnete Musikalien, die nachweislich in den Zwischenakten des Weimarer Theaters verwendet wurden, weitere Hinweise auf die Aufführungspraxis am lange Zeit unter Goethes Leitung stehenden Hoftheater geben. Die Analyse des Katalogs legt die Vermutung nahe, dass im Bereich der Musik "die Vernetzungen zwischen Wien und Weimar weitaus intensiver waren, als bisher angenommen" wurde. (S. 125) Nicht von ungefähr findet sich im Sammelband daher auch ein eigener Beitrag zum "Ereignis Wien um 1800 – Dichtung und Musik von der Aufklärung zum Biedermeier". Leider erweist sich der von Herbert Zeman verfasste Aufsatz, sowohl was den Zugriff auf die dargestellte Thematik als auch was die verwendete Sekundärliteratur betrifft, als äußerst selbstreferentiell. Während die Herausgeber des Bandes einen klar reflektierten, jeglichem Epochendenken kritisch begegnenden Zugang zum 'Ereignisbegriff' offenlegen, vermisst man in diesem Beitrag über Wien Analoges.

Ein großer Schwerpunkt des Sammelbandes ist Beiträgen zu deutschen und europäischen Konstellationen in Bezug auf Weimar-Jena gewidmet. Paul Raabe gibt Einblick in "Herzogin Anna Amalias Lebenshintergrund", indem er das von Sammelleidenschaft, kulturellen Interessen und vor allem von einer hervorstechenden Buchkultur geprägte kulturelle Umfeld der in Wolfenbüttel und Braunschweig aufgewachsenen späteren Regentin skizziert, während Walter Schmitz mit seinem anregenden Beitrag "Stadtbilder und Funktionen der Stadt: Dresden – Weimar um 1800" die neuesten Tendenzen der Stadtforschung reflektiert. So lässt sich nachweisen, wie sich unter der Regierung Carl Augusts Weimar gemeinsam mit Jena "zum Zentrum einer modernen Kultur von Bildung und Wissenschaft, deren Medium die Schrift ist" (S. 167), entwickelt. "Es zeigt sich eben, daß sich in der medialen Karte die Größenverhältnisse durchaus anders gestalten können, als nach den üblichen Maßstäben der Parameter von Politik – Wirtschaftskraft und gesellschaftlichem Einfluß – zu erwarten wäre. In der 'süßen Anarchie' der Medienlandschaft Deutschlands ist Weimar tatsächlich ein Hauptort." (S. 168)

Dass in den Untersuchungen der internationalen Beziehungen des Ereignisraumes Weimar-Jena um 1800 zwei Texte Frankreich gewidmet sind, verwundert freilich nicht. Roland Krebs unterstreicht die zentrale Bedeutung Wilhelm von Humboldts "als Mittler zwischen Paris und Weimar". Während seines Paris-Aufenthaltes (1797-1801) habe Humboldt seine Mittlerfunktion in doppelter Weise erfüllt, " indem er einerseits die Pariser Intellektuellen mit der deutschen kritischen und idealistischen Philosophie und ihrer neuen Poesie bekannt zu machen versuchte, andererseits, indem er den Weimarern Auskünfte über die französische Dramatik und Schauspielkunst bot." (S. 230)

In seinem amüsant zu lesenden Beitrag "Wie im 19. Jahrhundert der deutsche Geist den englischen gerettet hat" führt Terence J. Reed die Ursprünge und Auswirkungen der großen Vorurteile der Briten gegenüber den Deutschen vor: Schillers Räuber hielt man für zu revolutionär, Goethes Stella für moralisch verwerflich. "Suspekt an den Deutschen waren nicht nur die vermeintlichen moralischen und politischen Tendenzen, sondern auch ihre nationale Vorliebe für Ideen." (S. 236) Dennoch gab es stets Bestrebungen einzelner britischer Schriftsteller, die Vorzüge der deutschen Literatur und der von Humboldt eingeleiteten pädagogischen Reformen für England zu nutzen. Die allererste Goethe-Biografie wurde von einem Engländer, George Henry Lewes, verfasst und 1859 publiziert, zweifellos "für einige Deutsche ein Affront", aber "ein Markstein in der Akzeptanz Goethes und der deutschen Kultur in England" (S. 243).

In den Beiträgen Franziska Schedewies über "Die privaten politischen Briefe Carl Augusts und Maria Pavlovna, 1805-1815" und Joachim von Puttkamers über die "Ungarischen Hintergründe einer diplomatischen Episode" wird die Figur des Herzogs aus ungewohnter Perspektive beleuchtet. So lässt sich aus den Briefen Carl Augusts an seine Schwiegertochter Maria Pavlovna, die Schwester der russischen Zaren Alexander, deren Funktionalisierung als informelle "Diplomatin zwischen Weimar und St. Petersburg" (S. 247) ablesen.

Der Blick auf die Hintergründe bzw. das Interesse, ausgerechnet Carl August die ungarische Königskrone anzutragen, wiewohl in der Forschung nur als Marginalie behandelt, ermöglicht es, "den Horizont europäischer Diplomatie aus den Kommunikationsgeflechten der Epoche zu rekonstruieren" und "die Stellung mindermächtiger Fürstentümer im Vorfeld der großen europäischen Umbrüche um 1800 auszuloten" (S. 265). Auch im Rahmen dieser Untersuchung zeigt sich die um 1800 an Weimar-Jena wahrgenommene enge Verflochtenheit von Politik und Kultur. In seiner Rekonstruktion "der politischen Vorstellungswelt der Verschwörer" kann Puttkamer zeigen, inwiefern Weimar kurzzeitig "zur Projektionsfläche hochfliegender ungarischer Erwartungen geworden" war, "die den Schutz ständischer Freiheiten mit dem Programm nationalkultureller Erneuerung verband" (S. 277). Darüber hinaus lässt die "ungarische Episode [...] das Potential mindermächtiger deutscher Fürsten aufscheinen, neben ihren politischen Beziehungen auch das kulturelle Ansehen ihrer Höfe nicht nur innerhalb Deutschlands nutzbar zu machen, sondern auch außerhalb Deutschlands zu wirklich souveränen Monarchen aufzusteigen" (S. 277).

Lothar Ehrlichs Beitrag über die Erforschung und Rezeption der 'deutschen Klassik' in der DDR, vor allem die Darstellung und Einschätzung der höfischen Gesellschaft und ihrer Repräsentanten Anna Amalia und Carl August als "reaktionär" und "im Widerspruch zur Herausbildung der progressiven klassischen deutschen Literatur" (S. 291) stehend, beschließt den Sammelband. Obwohl in Weimar umfangreiches Material lagerte, gab es in der DDR auch in den 1980er Jahren noch keine quellenorientierte Erforschung des höfischen Umfelds und seiner Protagonisten. Erst im Wendejahr 1989 erfolgte ein von Wolfenbüttel ausgehender erster nachhaltiger Impuls "für eine quellengestützte wissenschaftliche Beschäftigung mit Anna Amalia" (S. 293) in den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG). "Erstmals wurde der Forschungshorizont der Weimarer Institution, der bislang allein auf die klassische deutsche Literatur und Kultur (ohne die höfische Dimension) beschränkt geblieben war, aufgebrochen und erweitert durch das Interesse an der ihre Entstehung fördernde[n] Tätigkeit der Fürstin Anna Amalia" (S. 294).

Die Lektüre des vorliegenden Sammelbandes ist aufgrund der nahezu durchgängig hohen Qualität der Beiträge, der Hinweise auf noch unerschlossene Quellen und der in zahlreichen Texten aufgeworfenen Neuperspektivierungen von Fragestellungen äußerst anregend. Mag auf den ersten Blick die Zusammenstellung der Texte willkürlich erscheinen, so vermittelt sich gerade aufgrund der unterschiedlichen thematischen und methodischen Zugänge die Komplexität des Ereignisraumes Weimar-Jena. Ohne immer direkt aufeinander zu verweisen, erschließen sich vielfach innere Bezüge zwischen den einzelnen Beiträgen. Dass diese Vernetzungen nicht redundant, sondern aufschlussreich sind, spricht für die gelungene thematische Streuung und erweist überdies, wie methodisch gewinnbringend die Wahl des 'Ereignisbegriffs' sein kann.

Autor/innen-Biografie

Beate Hochholdinger-Reiterer

Studium der Theaterwissenschaft und Deutschen Philologie an der Universität Wien. 1997-1998: Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kommission für literarische Gebrauchsformen (Österreichische Akademie der Wissenschaften). Mai 1998 bis Juni 1999: Vertragsassistentin, seit Juli 1999 Universitätsassistentin, seit Mai 2006 Assistenzprofessorin am Wiener Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Seit Oktober 2008: Elise Richter-Stelle (FWF) für das Habilitationsprojekt "Die Kostümierung der Geschlechter in deutschsprachigen Schauspieltheorien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts."

Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Schauspieltheorien (18. Jh.), Genderforschung, Dramatik des 19. und 20. Jahrhunderts, österreichische Gegenwartsdramatik. 

 

Publikationen:

Beate Hochholdinger-Reiterer, "Zu den Anfängen einer Theoretisierung von Schauspielkunst im deutschsprachigen Raum," Maske und Kothurn, 54/Heft 4 (2008), S. 107-119.

–, "'Mich hat Film immer mehr interessiert. 'Zur 'Malina'-Verfilmung nach dem Drehbuch von Elfriede Jelinek, " in: Pia Janke (Hg.): Elfriede Jelinek: "Ich will kein Theater". Mediale Überschreitungen. Diskurse.Kontexte.Impulse 3, Wien: Praesens 2007, S. 343-364.

–, "'1941. Alles äußerst heiter!': Zur Komik in Elfriede Jelineks 'Burgtheater. Posse mit Gesang'", in: Hilde Haider-Pregler, Brigitte Marschall, Monika Meister, Angelika Beckmann und Patric Blaser (Hg.), Komik: Ästhetik. Theorien. Vermittlungsstrategien. Maske und Kothurn 51/H. 4, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2006, S. 447-456.

–, "'doppeltes Vergnügen – doppelter Reiz': Gender und Theater(wissenschaft). Schauspieltheorien als Beispiel." Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft Universität Wien (Hg.), Theater Kunst Wissenschaft: Festschrift für Wolfgang Greisenegger zum 66. Geburtstag, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2004, S. 199-209.

–/Birgit Peter (Hg.), Burgtheater: Mythos – Eros – Imago. Maske und Kothurn, 50/Heft 2 (2004).

Veröffentlicht

2009-11-17

Ausgabe

Rubrik

Theater

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