Wanda Strauven (Hg.), The Cinema of Attractions Reloaded.

Amsterdam: Amsterdam University Press 2006. (Film Culture in Transition) ISBN 90-5356-944-8. 464 S. Preis: € 50,99.

Autor/innen

  • Marlis Schmidt

Abstract

Als Tom Gunning in den 1980ern mit André Gaudreault an einem passenderen Begriff für das frühe Kino feilte, der das im Französischen ungeschickt klingende "le cinéma des premiers temps“ ersetzen sollte, entschied er sich für den von Eisenstein geprägten Begriff "Attraktion“.

Auf Konferenzen und in Essays stellten die beiden Wissenschaftler ihre Überlegungen zum cinema of attractions vor – mit durchschlagendem Erfolg. Der griffige Ausdruck und Gunnings bald geradezu populärer Text "The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde“ wurden von der noch jungen Filmwissenschaft gerne angenommen, die ihre Theorien und Meinungen zum frühen Film nach der Konferenz von Brighton 1978 teils radikal überdenken musste.

In diesem Essay zitierte Gunning Georges Méliès, der sich die Fabel seiner Filme mitunter erst zum Ende des Produktionsprozesses ausdachte und kommt unter anderem zu dem Schluss, dass die Bedeutung der Narrative der frühen "Films“ von der Wissenschaft überbewertet wurde. Diese beiden Formen, narrative und cinema of attractions, stehen seiner Auffassung nach einander jedoch nicht gegenüber. Nach 1906/07 verschwindet der Anteil der attractions mehr im "underground“ (S. 382), kommt in manchen Genres mehr zutage als in anderen, zum Beispiel im Musical. Den Anreiz zu vielen folgenden Artikeln lieferte Gunnings Anmerkung schon fast am Ende seines Textes, wonach auch im zeitgenössischen Film die Wurzeln des Jahrmarktes wieder spürbar seien, Gunning spricht von einem "Spielberg-Lucas-Coppola cinema of effects.“ Und fügt noch an: "But effects are tamed attractions.“ (S. 387)

Bei der Recherche für ihre Dissertation über Futurismus untersuchte die Filmwissenschaftlerin Wanda Strauven von der Universität Amsterdam auch Gunnings Konzept genauer, was sie in weiterer Folge dazu veranlasste, in Thomas Elsaessers Reihe Film Culture in Transition  eine Art 'Gedenkband’ zum zwanzigsten Geburtstag des cinema of attractions herauszugeben. Der Band gliedert sich in fünf Teile, die sich jeweils streng einer der Komponenten von Gunnings Essay-Titel "The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde“ widmen – mit der Avant-Garde befassen sich gleich zwei spannende Abschnitte. Jeder Teil besteht aus vier Essays von namhaften Autoren. Zusätzlich findet sich eine Sammlung von relevanten Texten am Ende des Bandes.

Im ersten Abschnitt, der folgerichtig "Theory Formation: The Cinema of Attractions“ übertitelt ist, kommt unter anderem Gunning selbst zu Wort und stellt seine Sichtweise auf Entstehung und Berechtigung seiner These dar. Es folgen Texte zahlreicher Kritiker, unter anderem auch von Charles Musser, der bereits bei einer Konferenz in Yale 1993 seinen Text "Rethinking Early Cinema: Cinema of Attractions and Narrativity“ präsentierte und seine konträre Sichtweise auf die Materie darlegte. Im vorliegenden Band entwickelt er ein komplexes System der Repräsentation von frühem Film, in dem er unter anderem Querverbindungen zur Malerei herstellt.

Strauvens Text "From 'Primitive Cinema’ to 'Marvelous’“, der sich erst ein wenig in Details zu verlieren scheint, liefert im zweiten Abschnitt des Buches („Attraction Theories and Terminologies: Early Film“) Ansätze zu den Zusammenhängen des frühen Films mit dem futuristischen Gedankengut. Durch ihre Analyse des Begriffes 'primitiv' und kritische Betrachtung des Films The Matrix (R: A. und L. Wachowski, 1999) kommt Strauven zu der Bemerkung: "The bullet time technique goes against 'classical’ narration: it slows down (or even stills) the natural speed, it transgresses the 180° rule; in short, it goes against the dominant film grammar. […] In that sense, The Matrix is absolutely primitive!“ (S. 112) – primitiv dient Strauven hier also als Gegenbegriff zur gängigen Norm.

Auch Eivind Røssaak untersucht in seinem Beitrag die unter der Bezeichnung bullet time effect durch die Gebrüder Wachowski bekannt gewordene Technik, mit der Michel Gondry bereits in den 1990ern u. a. in einem atemlos-konfusen Werbespot für Smirnoff experimentierte. Was die attractions betrifft, so ist er überzeugt davon, dass das zeitgenössische Kino seine Geschichte überdenken müsse. Schklowski zitierend, wonach Wahrnehmung, wenn sie zur Gewohnheit wird, automatisch erfolge, folgert Røssaak, dass die Bewegung alleine nicht mehr annähernd als Anziehungspunkt ausreiche. "[…] cinema has created new attractions and vital figures of sensation by borrowing the appearance of sculpture, painting and still photography, while at the same time retaining the appearance of cinema. This is the new cinema of attractions. It does not try to observe the limitations of a given medium in the way Lessing demanded. Rather, it lures to temporarily put cinema under erasure, that is, to completely arrest movement, so as to kick us even harder the next time.” (S. 334). Thomas Elsaesser untersucht die Bedeutung des Rube-Films, einer frühen Form des Film-im-Film; Alison McMahan stellt hochinteressante Homunculus-Theorien im frühen und im frühen pornografischen Film wie auch bei interaktiven Computerspielen ins Zentrum ihres Essays.

Ausgehend von Gunnings Konzept entwickeln die Autoren in The Cinema of Attractions Reloaded ihre Gedanken zur Filmgeschichte und einer Vielzahl an anderen Gegenständen auf teils mehr, teils weniger theoretischem Niveau. Mitunter kann der Leser sich schwer des Gedankens erwehren, dass Gunning seinen 1986 formulierten Text einer noch jungen Wissenschaft zu einer Zeit vorlegte, in der die Erforschung des tatsächlichen Filmmaterials noch äußerst schwierig war und dass es nun, zwanzig Jahre später, für die Autoren ein Leichtes ist, mit hochgezogenen Augenbrauen darauf zurück zu schauen. Gegensätzliche Theorien wurden entwickelt, die ebenso ihre Berechtigung haben, und doch konnte niemals gänzlich entkräftet werden, was Tom Gunning so treffend formuliert hat.

Dick Tomasovic schließlich, in seinem Beitrag, relativiert die kritischen Stimmen: "The particular nature [von Gunnings Text, Anm.] invites, of course, film theorists and historians to seize the concept and enlarge its definition, corrupt it in other corpuses and widen its field of application. The cinema of attractions becomes itself an attraction, whose swallowing power has nothing to envy to the character of Williamson’s famous The Big Swallow (1901).” (S. 310) Tomasovic untersucht die Bedeutung der Attraktion in Spider Man (R: Sam Raimi, 2002): wie bei vielen Hollywood-Produkten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Handlung nur der hauchzarte Faden ist, an dem sich Actionsequenzen aufreihen (wie dies auch Bruce Campbell, langjähriger Partner Sam Raimis und B-Movie-Star 2005 in einem Interview auf 'Canada AM' feststellte: "Now all A-movies are B-movies. If you get bitten by a radioactive spider, that’s a B-movie.”). Doch nicht nur Anleihen an das Jahrmarkts-Kino der frühen Tage zeigen sich, sondern Tomasovic konstatiert eine ganze Reihe an Interaktionen mit verschiedensten Unterhaltungssparten.

Einen Überblick zu schaffen über die Anwendungsgebiete des Begriffs attraction, dieses Ziel ist hier sicherlich erreicht worden. Die Beiträge von Germain Lacasse, André Gaudreault – dessen Text „Le cinéma des premiers temps: un défi à l’histoire du cinéma?“ von 1986 hier zum ersten Mal in englischer Übersetzung vorliegt und in der Materialsammlung neben Gunnings Essay und Charles Mussers kritischen Betrachtungen von 1994 versammelt ist – oder Vivian Sobchacks "'Cutting to the Quick’: Techne, Physis, and Poiesis and the Attractions of Slow Motion“, tragen ihren Teil dazu bei.

The Cinema of Attractions Reloaded vereint dichte Filmtheorie mit spannenden Streifzügen durch die Filmgeschichte. Dennoch ist die Publikation nicht nur für Freunde des frühen Kinos interessant, sondern beleuchtet auch Zusammenhänge mit der Avant-Garde, erläutert ebenso die Anwendung des Konzepts cinema of attractions auf die zeitgenössische Filmproduktion wie auch auf Computerspiele. Einige Abbildungen und Diagramme fehlen ebenso wenig wie ein ausführlicher Register-Teil. Eine Sammlung an hochinteressanten Essays, die auf komplexe Weise die vielen Facetten des frühen Films beleuchtet.

Autor/innen-Biografie

Marlis Schmidt

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft und der Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Seit 2006 Mitarbeiterin des Filmarchiv Austria. Diplomarbeit (2008): Filmprogramme. Vorläufer, Funktionen und Aufmachung von den Anfängen bis 1914. Ein erster Überblick.

Veröffentlicht

2009-11-17

Ausgabe

Rubrik

Film