Bernd Scheffer/Christine Stenzer (Hg.), Schriftfilme. Schrift als Bild in Bewegung.
Bielefeld: Aisthesis 2009. (Schrift und Bild in Bewegung 16). ISBN 978-3-89528-749-7. 247 S, Zahlreiche Abbildungen. Preis: € 24,80.
Abstract
"Das Ideal wäre natürlich – ihr Nichtvorhandensein! Aber solange der Film noch nicht die Entwicklungsstufe des rein bildhaften Ausdrucks erreicht hat und der Ergänzung und Erläuterung durch das Wort bedarf, sind die Bestrebungen der Fachleute ungemein zu begrüßen, die dahin zielen, die toten Buchstaben zu verlebendigen und sie so organisch mit der Bilderfolge zu verbinden […]." – so beklagt ein anonymer Verfasser in seinem Artikel "Auch die Schrift spielt mit!!" (In: Mein Film Nr. 108/1928, S. 13/14) die Untrennbarkeit von geschriebenem Wort und Film.
Der Medienwissenschaftler Bernd Scheffer stellte gemeinsam mit Christine Stenzer, die erst vor Kurzem ihre Dissertation zum Thema Schrift vorlegte, den Essayband Schriftfilme zusammen, der sich mit der Rolle der Schrift im Film befasst – von den Kindertagen der Kinematographie bis zu über das Internet verbreiteten Videoclips der Gegenwart. Dass das geschriebene Wort dabei nicht nur als Zwischen- oder Untertitel Informationslieferant sein, sondern auch eine der 'Hauptrollen' im Film übernehmen darf, wird in Werbe- und Kunstfilm, in Docu-Clip und Musikvideo nachgewiesen. Geortet wird kein Ende der 'Gutenberg-Galaxis', wie von Bolz prognostiziert, vielmehr ist Schrift nun animiert, in Bewegung geraten, allgegenwärtig.
"Schriftfilme nennen wir jene analog oder digital basierten Kurzfilme oder Filmteile aus künstlerischen Arbeiten, aus Spielfilmen, Werbespots, Musikvideos oder aus dem sog. 'TV Motion Design', in denen bewegte, animierte und grafisch auffällig gestaltete Schrift jeweils die 'Hauptrolle' spielt." (S. 7) Bernd Scheffer beobachtet eine Entwicklung von "kalten Schriftzeichen" zur 'coole(n)' Rekonstruktion und Dekonstruktion der vielfältigen Bilder und Schriften", von denen wir umgeben sind (S. 12). Was die Vorläufer von Schriftfilmen betrifft, so zitiert Scheffer die "gesamte Tradition von Schrift und Bild", die in ihrem Ursprung niemals getrennt waren, sondern eine "unauflösliche Einheit" darstellten (S. 16).
In seinem Einführungstext des ersten Abschnittes "Schriftfilme: historisch und systematisch" zählt er bedeutsame Künstler auf, die in ihren Arbeiten "Schrift in Bewegung" brachten, von David Lynch zu Yoko Ono, von Valie Export zu Bodo Hell, von Gerhard Rühm zu Man Ray, von Klee zu Picasso und von Lichtenstein zu Luhrmann spannt sich da der Bogen (S. 20/21).
Scheffer zitiert Norbert Bolz: "Die neuen Texte befreien sich vom Korsett der Buchform und der Autorität des Autors; sie verzweigen und vernetzen sich unbegrenzt, um endlich zu werden, was das lateinische Wort 'textum' meint: ein Gewebe. Die sogenannten Hypertexte brauchen keinen Autor, sondern einen Software-Designer. Und im Fluss der Daten wird das Genie überflüssig." (S. 29)
Co-Herausgeberin Christine Stenzer gibt einen historischen Überblick über die Verwendung von Schrift im Film. Im Stummfilm sicherte sie die 'narrative Kohärenz' in Form von Zwischentiteln, im Tonfilm finden sich Untertitel, um Übersetzungen zu liefern oder hörgeschädigten Zusehern die gesprochenen Inhalte zu vermitteln. Auch in Vor- und Abspann kommt Schrift zum Einsatz, Stenzer zitiert hier Victor E. Pordes, der Schrift als "starr und störend" empfindet und bezeichnet diese Einblendungen als "höchst un-filmisch" (S. 35) – ein Adjektiv, das man schwerlich mit einem 'rollenden' Abspann in Verbindung bringt.
Die frühesten, teils prominenten 'Auftritte' der Schrift im Film außer Acht lassend (wie etwa bei Lumières Ecriture à l'envers, 1896) beginnt Stenzers Text 1905 bei den unvermeidbaren Stationen, von Edwin S. Porters Filmen über die expressionistischen 'Standardwerke' Das Cabinet des Dr. Caligari und Der Golem, wie er in die Welt kam; Filme, auf die im vorliegenden Band noch mehrmals eingegangen werden wird. Vorbei an den Kunst-/Werbefilmen der 1930er Jahre, dem Lettrisme der 1940er, der mit unleserlichen oder unzusammenhängenden Graphismen spielt, spannt sich der Bogen zur Konkreten Poesie, mit der in den österreichischen 1950ern und 1960ern Gerhard Rühm, Marc Adrian und Kurt Kren experimentierten. Spätere Arbeiten fürs Fernsehen werden ebenfalls erwähnt, allen voran von Klaus Peter Dencker, der in einem eigenen Beitrag noch auf die Entstehung seiner TV-Filme wie starfighter eingeht.
Aus amerikanischen und europäischen Animationsfilmen streicht Stenzer diejenigen hervor, in denen Schrift der 'Hauptdarsteller' ist. Schließlich präsentiert die Autorin noch die besondere Rolle von Schrift in Videokunst und in kommerziellen Musik-Clips, mit dabei natürlich Bob Dylans viel zitierte Schrifttafeln im Subterranean Homesick Blues.
Harald Pulch, Filmproduzent und Professor an der Fachhochschule Mainz, stellt in seinem Beitrag einen Werbefilm vor, der 1925 von Produzenten Julius Pinschewer und Kameramann Guido Seeber für die im selben Jahr stattfindende Kino- und Photo-Ausstellung in Berlin erschaffen wurde. Minutiös und genau recherchiert beleuchtet Pulch die Idee hinter dem Film mit dem Namen Film, erklärt die Anspielungen auf bekannte Filme der Zeit, zeigt die interessantesten Kameratricks auf und bringt anschauliche Beispiele.
In seinem Essay "SchriftBild und Kalligramm: Schriftfilme der 60er und 70er Jahre" unterscheidet der Filmwissenschaftler Florian Krautkrämer "Narrationsstützende und Ornamentale Schrift" (S. 102/106). Als besonderes Beispiel für die erste Kategorie wird Hollis Framptons Poetic Justice angeführt, ein 30-minütiger Film, der in nur einer Einstellung nacheinander 240 Seiten eines Drehbuches zeigt. Die Schrift trägt hier tatsächlich die Erzählung – die Bilder finden im Kopf statt. Ornamental dagegen eher Peter Greenaways Dear Phone, der dem Zuseher abgefilmte handschriftliche Texte zeigt, die Streichungen und Bearbeitungen enthalten und zunehmend unleserlich werden. Die Schrift hat hier höchstens eine ergänzende Funktion zur Narration aus dem Off.
Interessant auch Kris Krois' Beitrag zum Docu Clip, einem Format, das sich im "World Wide Web aufgrund [seiner] spezifischen Kombination von Informationsvermittlung und Unterhaltung wachsender Beliebtheit" erfreut (S. 119). Ob der Zuseher sich gerne über ein schwierigeres Kochrezept, eine Fahrradreparatur oder die Zusammenhänge des Ersten Weltkrieges informieren möchte – ein Hantieren mit Lexika und Gebrauchsanweisungen ist überflüssig geworden, ebenso der Besuch einer Bibliothek, das Internet bietet, so Krois, eine unüberschaubare Fülle an kurzen Filmchen zu jedem beliebigen Thema. Der Autor analysiert Produktionsstandard, Stil, vermittelten Inhalt sowie Kommerzialität ausgewählter Clips und spürt der Verwendung von Schrift in kurzen Videos verschieden professioneller Autoren nach.
Im zweiten Abschnitt des Essaybandes, "Theorie-Rahmen", ist Mario Grizelj in seinem Text auf der Spur des Geisterhaften, einer "ars monstrosum" (S. 141), von Momenten der Grenzüberschreitung. Zu diesem Zweck untersucht er Das Cabinet des Dr. Caligari, Der Golem, wie er in die Welt kam und The Fall of the House of Usher auf 'geisterhaften' Schrifteinsatz.
"Eine Ästhetik der Überforderung" übertitelt Stephan Packard seinen Essay, der die Unlesbarkeit von Schrift, unter anderem in The Matrix analysiert. Rolf Sachsse befasst sich mit 3D-Schrift in Film, Computerspiel und Kunst sowie dem Zusammenhang von Dreidimensionalität und Dyslexie.
Den dritten und letzten Abschnitt, "Künstler, Projekte, Ausblick", eröffnet Klaus Peter Dencker. Wie bereits oben erwähnt, beschreibt er Motivation und Produktion seiner eigenen Schriftfilme starfighter, rausch und astronaut. Musikalisch wird es in Peter Göltenboths Beitrag, der die Vorbilder und den zeitlich sehr beschränkten Produktionsablauf des Musikvideos zu Nur ein Wort der deutschen Popband Wir sind Helden wiedergibt. Abschließend stellen Peter Friedrich Stephan und Claudius Lazzeroni ihr Projekt Raumstaben vor, das sich als Ziel die Entwicklung einer "Schrift nach der Schrift" gesetzt hat.
Schriftfilme ist eine Essaysammlung zu einem spannenden Thema – Schrift als Begleiter des Films beinahe von Anbeginn der Kinematographie an. Die Autoren, allesamt Fachleute auf ihrem Gebiet, beleuchten die verschiedenen Einsatzbereiche des geschriebenen Wortes, den Wandel, dem die Schrift im Film unterworfen ist, sie geben einen Ausblick auf einen neuen Umgang mit Autorenschaft, lebendig gewordene Buchstaben und einen neuen Modus der Übermittlung von Wissen. Einziger Wermutstropfen: ausgerechnet die schlampige Korrektur, die lieblose Gestaltung der Schrift.
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