Katja Müller-Helle: Zeitspeicher der Fotografie. Zukunftstbilder, 1860–1913.

Paderborn: Fink 2017. ISBN: 978-3-7705-6033-2. 295 S., 58 s/w Abb., Preis: € 39,90.

Autor/innen

  • David Krems

Abstract

Die von Michel Foucault geliehene Denkfigur eines Zeitspeichers, die ursprünglich Räume beschrieb, an denen materiell gespeichert ist, wie Kultur sich konstituiert, wird von der Autorin für ihre Untersuchung auf das fotografische Verfahren selbst bezogen. Als Zeitspeicher der Fotografie lassen sich demnach unterschiedliche Anordnungen begreifen, die allesamt etwas mit Fotografie zu tun haben, und die allesamt ein spezifisches Wissen generieren, das in die jeweilige Zukunft gerichtet ist. Die dabei untersuchten Materialien reichen von frühen fotografischen Apparaturen und deren Produkten bis hin zu literarischen Phantasien des 19. Jahrhunderts. Ihnen allen war gemein, dass sie einst Vorstellungen – wohl auch Visionen – über Fotografie eröffneten, die aus heutiger Perspektive nicht mehr denkbar sind. Ausgehend von der bekannten Annahme, dass neue mediale Technologien immer auch ein neues Bewusstsein hervorbringen, fragt die Autorin deshalb danach, "welche Möglichkeitsformen des Denkens über zeitliche Prozesse durch Fotografien und ihre Apparaturen freigesetzt werden" (S. 19). Solcherart versteht sich ihre Arbeit auch immer als ein Plädoyer für eine Geschichte der Visualisierungsformen von Zeit, die nicht der bekannten Darstellung einer teleologischen Entwicklungsgeschichte des Films folgt.

Fotografie – oder besser: das Fotografische – wird hier also nicht lediglich als eine Technik zum Fixieren eines Moments verstanden, sondern als eine Summe von Möglichkeiten, die in den jeweiligen Apparaturen und ihren Produkten (Bildern) angelegt ist und in eine Zukunft weist, die zu jenem historischen Moment, als die untersuchten Geräte aktuell waren, noch offen war, es nun aber längst nicht mehr ist, da sie ja bereits von der Gegenwart – oder auch schon wieder Vergangenheit – überschrieben worden ist. Anders ausgedrückt, geht es bei vielen der hier dargebotenen Ausführungen um das, was man sich von Fotografie einst erwarten oder auch erträumen hatte können.

Was hat man sich darunter nun konkret vorzustellen? Zwei Beispiele aus dem ersten Kapitel verdeutlichen diesen Ansatz: Katja Müller-Helle bringt hier etwa einen Verweis auf den Wandel in der Betrachtung des fotografischen Wirklichkeitsgehalts, der sich "von der Aufzeichnung des Flüchtigen im Modus der Gegenwart zum Aufgezeichneten als Abgeschiedenheit des Vergangenen" vollzogen habe und heute weite Teile der Theoriebildung dominiere (S. 29). Das sei ganz einfach deshalb der Fall, weil die frühen Kommentatoren der Fotografie noch über keinerlei Erfahrung mit historischen Aufnahmen verfügten. Als Siegfried Kracauer 1927 seinen berühmten Text Die Photographie schrieb, war das freilich bereits anders. An diesem einfachen Beispiel wird deutlich, was man allzu leicht übersieht: Die Theoriebildung vollzieht sich immer anhand eines konkreten historischen Entwicklungsstandes – und muss deshalb aus einem zeitlichen Abstand heraus neu hinterfragt werden. Genau das tut die Autorin auch immer wieder. Etwa dann, wenn sie unter Rückgriff auf Kracauers Theorie des Films nach den Anfängen einer Bewegungsfotografie sucht und dabei gleichzeitig die Grenze zwischen Fotografie und Film befragt. Begleitet wird der Abschnitt von Verweisen, die von William Henry Fox Talbot und Étienne-Jules Marey bis zu László Moholy-Nagy und Mary Ann Dorr reichen.

Als zweites Beispiel kann eine Gegenüberstellung dienen: Fotos mit einer Belichtungszeit mehrerer Jahre, wie sie Michael Wesely Ende der 1990er Jahre vom Potsdamer Platz geschaffen hat, treffen hier auf die berühmten Aufnahmen Louis Daguerres aus einer Frühzeit der Fotografiegeschichte: Das Nicht-Erfassen bewegter Objekte, das einst als defizitär beurteilt worden war, gereicht hier einem künstlerischen Vorhaben abenteuerlicher zeitlicher Dimensionen zum Erfolg. Eine Verschiebung, die deutlich macht, wie offen die Entwicklungsgeschichte eines neuen Mediums zu denken ist.

In drei übergeordneten Fallstudien werden unterschiedliche Kuriosa auf ihren Theoriegehalt hin abgeklopft: Eine kuriose Panoramakamera, mit der Auguste Chevallier schon um 1860 beeindruckende Rundumaufnahmen auf Glasplatten fixierte, dient als Ausgangspunkt für die Überlegung, wie ein Bewegungsbild aus dieser Zeit heraus denkbar wäre, "ohne den Film als Fluchtpunkt einer Entwicklungslinie festzusetzen, aus deren Logik heraus sich alles Vorhergehende nur als Vorform einer zu optimierenden Technik darstellt" (S. 62). Mit angelegt ist hier einmal mehr das Verhältnis zwischen Fotografie und Film, das die gesamte Arbeit begleitet. In einem weiteren Kapitel wird das Buch Lumen, das der Astronom Camille Flammarion Ende des 19. Jahrhunderts verfasst hat, und in dem die Fotografie als ein Vehikel für Zeitreisen dient, einer Analyse unterzogen, in der auch zahlreiche aus heutiger Perspektive kurios anmutende optische Instrumente (Chrono-Teleskop) und Transporttechniken (Ballonreisen, Brieftauben) behandelt werden. Ein abschließendes Kapitel widmet sich schließlich dem futuristischen Fotodynamismus der Brüder Bragaglia und macht deren künstlerische Konzeption als Rückgriff auf die Chronofotografien eines Marey und eine Verweigerung gegenüber dem damals neuen Film begreifbar.

Die mitunter etwas sprunghaften Einordnungsversuche pendeln zwischen technischen Beschreibungen einerseits, und der Bedeutung der beschriebenen Geräte für eine Theoriebildung, andererseits. Dabei jongliert die Autorin in oft schwindelerregendem Rhythmus Texte, die von fototheoretischer Basisliteratur über eine Vielzahl historischer Belege und Abstechern ins Fiktionale, bis hin zu aktueller Medientheorie reichen. Episoden, Verweise und Exkurse reihen sich so flott aneinander, dass man – durchaus fasziniert von diesem vielfältigen Panorama – oft nicht mehr genau weiß, welcher übergeordneten Fragestellung sich die Autorin nun denn eigentlich gerade widmet. Will man eine solche benennen, ließe sich für die gesamte Studie ein durchgängiges Thema herausstreichen: das Verhältnis zwischen der fotografischen Technik und den menschlichen Sinnen bzw. den sich daraus ergebenden Wechselwirkungen, da das eine stets das andere modelliert. Damit geht es immer auch um das, was Müller-Helle ein Zukunftswissen nennt, also etwas, was in den untersuchten Apparaten bereits angelegt ist, und das in unterschiedlicher Form erfahrbar wird: Einerseits in den Produkten (oftmals Bildern) der abenteuerlichen Maschinen – die im Kanon der Mediengeschichte oftmals gerade keinen prominenten Platz einnehmen – und andererseits in sprachlichen Metaphern und literarischen Fantasien.

Zeitspeicher der Fotografie fußt auf einer Dissertationsschrift (Humboldt Universität Berlin) mit vorgeschalteten Stationen am Graduiertenkolleg Sinne – Technik – Inszenierung der Universität Wien und an der Kollegforschergruppe BildEvidenz (Freie Universität Berlin). Man liest in jeder Zeile, dass sich die Autorin ein enormes Wissen angeeignet hat. Ein Wissen, das sich hier nun mit einem Mal bahnbricht und den Leser da und dort schon fordern kann. Das liegt zum Teil auch an einem sprachlichen Duktus, der darum bemüht scheint, auch den einfachsten Nebensatz noch akademisch klingen zu lassen. Dass sich die Autorin damit – zumal im Bereich der Kulturwissenschaften – in bester Gesellschaft befindet, mag diese Kritik mildern, verweist gleichzeitig aber auf ein viel größeres Problem.

Stören lassen sollte man sich davon jedoch nicht, denn wenn man so gelegentlich vielleicht auch einer Ausführung aufsitzt, der man nicht dieselbe Begeisterung abzuringen vermag, wie es die Sprache der Autorin nahelegt, dann springt man einfach weiter und landet mit Sicherheit bald bei einem anderen Beispiel, einer anderen Anekdote, die fesselt. So muss dieses Buch auch gar nicht notwendigerweise von vorne nach hinten gelesen werden. Angeregt von den vielen kuriosen Gerätschaften und Fantasien, die es präsentiert – und die sich alle einer linearen Lesart von Mediengeschichte verschließen – scheint es nur angebracht, auch die eigene Lektüre sprunghaft zu gestalten. Lohnend wird sie dann ganz von selbst.

Autor/innen-Biografie

David Krems

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Promotion über Fototheorie. Arbeiten in verschiedenen Bereichen der Fotografie und des Films. Seit 2009 Medienarchivar und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Experimentalfilmemacher und Autor.

https://homepage.univie.ac.at/david.krems/

Publikationen:

- David Krems: Fast ein Wunder. Wien 2019 (Roman).

- David Krems: Inszenierungen des Fotografischen: Technik und Ästhetik im medialen Wechsel. Wien 2017 (Dissertation).

- David Krems: Falsches Licht. Wien 2017 (Roman).

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Veröffentlicht

2019-11-19

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Rubrik

Medien