Steffen Siegel: Fotogeschichte aus dem Geist des Fotobuchs.

Göttingen: Wallstein 2019. ISBN: 978-3-8353-3469-4. 88 S., 27 Abb., Preis: € 15,40.

Autor/innen

  • David Krems

Abstract

Manchmal legt der Titel eines Werkes sein Anliegen bereits recht unmissverständlich dar. Das vorliegende Büchlein von Steffen Siegel ist ein derartiger Fall. Der Autor widmet sich darin der Frage, in welcher Weise Fachpublikationen zum Thema der Fotografie die Geschichte des Mediums – bzw. dessen Wahrnehmung – mitbestimmt haben. Es ist dies also eine kleine Metageschichte der Geschichte der Fotografie, wobei speziell auf die Kategorie des Fotobuchs fokussiert wird, was gleichsam die Frage nach dem aufwirft, was die behandelten Publikationen ihrer damaligen Leserschaft denn tatsächlich zeigten.

Die Vorgehensweise Siegels ist historisch-chronologisch und beginnt bei den ersten Fachtexten, die bereits parallel zur Veröffentlichung der ersten fotografischen Bilder erschienen. Ausgangspunkt ist damit einmal mehr Louis Daguerres bekannte Präsentation seines fotografischen Verfahrens an der Pariser Akademie der Wissenschaften von 1839. Jene Zeit also, zu der sich neben Daguerre auch noch andere Pioniere darum bemühten, dem sich hier etablierenden neuen Medium den eigenen Stempel – und wenn möglich auch gleich Namen – aufzudrücken. Zu nennen sind neben Daguerre selbst auch noch dessen englischer Hauptkonkurrent William Henry Fox Talbot, der für dieses Wettrennen zu früh verstorbene Joseph Nicéphore Niépce und der glücklose, dabei aber gewitzte Hippolyte Bayard. Sie alle waren nicht nur Praktiker, sondern äußerten sich auch immer wieder in unterschiedlicher Form zu ihren Versuchen, wobei ihre Texte freilich noch nicht von monografischem Charakter waren, sondern als Berichte, Kommentare und Korrespondenzen erschienen. Über Daguerre, der durch die ihm zugesprochene Pension auch zu einer Publikation verpflichtet wurde, erfährt man etwa, dass er als Erfinder jener Verkopplung von historischen und technischen Hinweisen gelten darf, die für die ihm nachfolgenden Fachpublikationen so lange bestimmend sein sollten.

Als eines der ersten fotohistorischen Werke findet Josef Maria Eders Ausführliches Handbuch der Photographie Erwähnung. Das monumentale Werk erschien über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten (1884 bis 1932) in mehreren Ausgaben, deren letzte Fassung den stolzen Umfang von 8.411 Seiten erreichte. Siegel betont die besondere Position Eders Werk, das noch versucht hat, Fragen zu Geschichte, Technik und Ästhetik, die in Folge meist getrennt verhandelt werden sollten, in ein umfassendes Ganzes zu integrieren. Das Erscheinungsdatum der letzten Ausgabe von Eders Handbuch markiere somit auch einen Umbruch im Bereich der Fotografiegeschichtsschreibung: "In der Zeit um 1930 entfaltet sich mit der Bildgeschichte des Fotografischen ein neues Paradigma der Medienhistoriografie. Erst seither wird die dem Medium eigene Geschichtlichkeit als eine historisch differenzierte Bildästhetik erforscht. Am fotografischen Bild als Objekt und im fotografischen Bild als Darstellungsgegenstand werden fortan Antworten auf fotohistorische Fragen gesucht" (S. 8).

Spannend liest sich ein Abschnitt über Walter Benjamins als "feuilletonistische Skizze" bezeichnete Kleine Geschichte der Fotografie, die ursprünglich 1931 in der Literarischen Welt in drei Teilen erschienen war, ohne dabei besondere Wirkung zu erzielen (S. 24). (Was bei der Neuauflage 1963 bekanntermaßen umso intensiver geschah.) Siegel widmet sich in Folge drei Fotobüchern, mit denen sich Benjamin damals beschäftigt hat, wodurch er zumindest teilweise eine Frage beantwortet, die in Zusammenhang mit Der kleinen Geschichte der Fotografie immer wieder gestellt wird: "Auf welcher Basis hat Benjamin seine fotoästhetischen Thesen überhaupt entwickeln können?" (S. 26).

Gleichzeitig erfährt man, dass sich die gängige Form der damaligen Fotobücher stark am Dispositiv des Familienalbums orientierte und mit den damals im Bereich der illustrierten Magazine populären avantgardistischen Layouts nichts gemein hatte. Auch Hinweise wie den, dass Julia Margaret Cameron und David Octavius Hill die erste Fotografin bzw. der erste Fotograf waren, denen eigene monografische Studien gewidmet wurden, nimmt man gerne auf.

Die Geschichte wollte es, dass der hundertste Geburtstag der Fotografie durch die zugespitzte weltpolitische Lage belastet wurde. Wie sich das auf die Fotografiegeschichtsschreibung auswirkte, erläutert Siegel anhand Erich Stengers Die Photographie in Kultur und Technik (1938) bzw. der Übersetzung dieses von einem konservativen Nationalisten deutscher Provenienz verfassten Werkes ins Englische. Eine eingeklebte editorische Notiz, in der sich der Übersetzer für das Erscheinen des Buches geradezu rechtfertigt, lässt erahnen, mit welchem Makel die Herausgeberschaft eines derartigen Werkes belegt war. Ein Befund über die Ausgestaltung der damals erschienenen Werke – neben Erich Stenger wird William Shepperleys A History of Photography als für diese Zeit exemplarisch behandelt – fällt ambivalent aus: Zwar wird hier erstmals "das fotografische Bild als eine Quelle mit je eigener Materialität und Ästhetik ernst genommen", doch vermögen es die Autoren noch nicht, das festgefahrene Konzept einer Fotografiegeschichtsschreibung, die Texte und Bilder einfach nebeneinanderstellt, aufzubrechen (S. 62).

Das Verdienst, hier einen Schritt weiterzugehen, kam schließlich Beaumont Newhall zu. Den Bibliothekar des New Yorker Museum of Modern Art ereilte 1936 der Auftrag, eine Sonderausstellung zur Fotografie zusammenzustellen. Das Ergebnis wurde legendär: Im März 1937 eröffnete die nüchtern mit Photography, 1839 – 1937 betitelte Ausstellung. Begleitend erschien ein Katalog, der einiges von dem einlöste, was die Fotografiegeschichtsschreibung zuvor verabsäumt hatte. Mit dem laut Siegel eilig geschriebenem Ausstellungskatalog eines kuratorischen Novizen vollbrachte Newhall etwas für den Bereich des Fotobuches geradezu Revolutionäres: Er fand eine Form der "doppelten Darstellungsstrategie, die das Narrativ des Textes mit dem Archiv des Bildteils verknüpft" (S. 68). Die Wirkungsstärke der mittlerweile als Standardwerk anerkannten Publikation leite sich, so Siegel, denn auch maßgeblich von dieser formalen Ausgestaltung und weniger vom Inhalt ab. Worauf wohl auch der Umstand hindeutet, dass Newhalls Entwurf einer Fotografiegeschichte heute gemeinhin als recht konventionell gilt.

An der Person Newhalls verdeutlicht sich gleichzeitig, dass auch die Fotografiegeschichtsschreibung ihre ironischen Momente hat: Nach dem zweiten Weltkrieg verlor Newhall im Zuge interner Verwerfungen seine Stelle am Museum of Modern Art; sein Nachfolger wurde Edward Steichen. Aber gerade diesem Umstand ist es zu danken, dass Newhall mittels eines Stipendiums der Guggenheim Foundation unter dem nunmehrigen Titel The History of Photography from 1839 to the Present Day eine komplett überarbeitete – und neugestaltete – Neuauflage seines Werks vorlegen konnte, die in aktualisierten Fassungen bis 1981 (!) erscheinen sollte. Als letztes Werk streicht Siegel schließlich die zu Unrecht in Vergessenheit geratene Histoire de la photographie (1945) von Raymond Lécuyer heraus, mit der in Sachen Buchgestaltung ein bis heute unerreichter Maßstab gesetzt worden sei. Ein Befund, der sich angesichts der beigegebenen Abbildungen durchaus nachvollziehen lässt.

Steffen Siegels schmales Heftchen – rund achtzig Seiten, davon etwas mehr als dreißig Seiten Text – vollbringt großes: Anhand eines Close Readings ausgewählter Stellen ausgewählter Fotobücher, gibt der Text nicht nur Auskunft über die Fotografiegeschichtsschreibung, sondern befragt vor diesem Hintergrund zugleich das für die Medienwissenschaft bedeutende Verhältnis von Text und Bild, wodurch ein Zusammenhang zwischen Konventionen der Buchgestaltung und Paradigmen der Medienwissenschaft erfahrbar wird.

Die Lesefreude wird einzig durch den Umstand ein wenig getrübt, dass die zahlreichen Graustufenabbildungen nicht annähernd jenen Eindruck zu vermitteln vermögen, der dem Inhalt angemessen wäre. In fahlen Grauwerten reihen sich Reproduktionen historischer Buchumschläge an blasse Faksimiles. Betrachtet man allein die Abbildungen, könnte man einmal mehr glauben, die Geschichte der Fotografie sei eine fade, graue Angelegenheit. Farbabbildungen könnten hier Abhilfe schaffen, hätten den Preis aber natürlich in die Höhe getrieben. Und wenn schon! Welche Publikation wäre das schon wert, wenn nicht eine wie diese?

Autor/innen-Biografie

David Krems

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Promotion über Fototheorie. Arbeiten in verschiedenen Bereichen der Fotografie und des Films. Seit 2009 Medienarchivar und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Experimentalfilmemacher und Autor.

https://homepage.univie.ac.at/david.krems/

Publikationen:

- David Krems: Fast ein Wunder. Wien 2019 (Roman).

- David Krems: Inszenierungen des Fotografischen: Technik und Ästhetik im medialen Wechsel. Wien 2017 (Dissertation).

- David Krems: Falsches Licht. Wien 2017 (Roman).

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Veröffentlicht

2019-11-19

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft