Jo Ractliffe: Photographs 1980s - now.
Göttingen: Steidl 2020. ISBN: 978-3-95829-698-5. 470 Seiten, 95,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2021-2-13Abstract
Anlässlich des sechzigsten Geburtstages der südafrikanischen Fotografin erschien der vorliegende Bildband, der - soviel darf vorab verraten sein - keine alltägliche Publikation ist: mehr als 400 Seiten, edle Aufmachung, schweres Papier, höchste Bildqualität. Schon allein die Ausführung des Buches deutet also darauf hin, dass man es hier mit einer besonderen Künstlerin zu tun hat. Doch ist das auch ein bisschen so etwas wie eine falsche Fährte, denn jener Ecke, in die man jemanden stellen möchte, dem ein derartiger Band gewidmet wird, haftet der Geruch der alten Meister an. Und dieser Geruch passt so überhaupt nicht zu einer Fotografin wie Jo Ractliffe. Versucht man sich ihr zuallererst allein über ihre Bilder zu nähern – denn genau das ist es, was ein derartiger Bildband ja nahelegt – steht man vor einer ebenso langen wie intensiven Herausforderung. Einer Herausforderung, der ganz notwendigerweise auch etwas Produktives anhaftet, denn Ractliffes Aufnahmen und Werkkomplexe erschließen sich in aller Regel nicht von selbst. Ihre Aufnahmen eignen sich nicht für seichte Kontemplation und oberflächliche Betrachtung. Es bedarf stets einer zusätzlichen Vertiefung, einer weitergehenden Auseinandersetzung mit dem behandelten Thema. Eine ungewöhnliche Haltung für eine Fotografin, die einer Richtung zugerechnet wird, in der es oft genug um reißerische Bilder, spektakuläre Motive und visuelle Zuspitzung geht. Nicht zuletzt deshalb galt Jo Ractliffe lange Zeit als Künstlerin abseits des Mainstreams, war eher Liebkind der Fotokritik als international bekannte Fotografin. Die vorliegende Publikation lädt nun dazu ein, sich eingehend – und in der gebotenen Ruhe – mit ihrem umfangreichen und vielfältigen Werk auseinanderzusetzen.
Doch wo beginnt man nun am besten mit einer derartigen Auseinandersetzung? Das Buch legt eine chronologische Betrachtung nahe. Eine Einladung, der man nicht zwingend folgen muss. So lohnt es sich etwa, den umgekehrten Weg zu beschreiten und sich den dicken Band von hinten nach vorne zu erarbeiten. Solcherart stößt man nämlich auf unterschiedliche Materialien, die dabei helfen, die hier versammelten Arbeiten einzuordnen. Allen voran ist das ein ausführlicher Auszug aus einem langen Gespräch mit Artur Walther (Walther Collection). Daneben steht der fiktive, auf einigen Fotografien Ractliffes fußende Text 'Rendezvous: A Fiction' des nigerianischen Schriftstellers Emmanuel Iduma sowie ein Essay von Matthew S. Witkovsky über Arbeiten der Fotografin, die sich dem Motiv des motorisierten Fahrens verschrieben haben. Hier lässt sich eine erste Brücke zu einem wichtigen Werkkomplex schlagen. Für Vlakplass: 2 June 1999 (drive-by shooting) hat die Fotografin aus dem fahrenden Auto heraus einen Ort dokumentiert, der für die Geschichte Südafrikas von zentraler Bedeutung ist: Das Gelände, auf dem die C1 Geheimpolizei unter dem Kommando des als 'Prime Evil' bekannten Eugene de Kock ihre systematischen Menschenrechtsverbrechen beging. Bei Ractcliffe erscheint dieser Ort in durchgehender Belichtung eines schwarz-weißen Mittelformatstreifens, fotografiert mit einer billigen Plastikkamera der Marke Holga. Die oft unscharfen, ineinander übergehenden Bilder des visuell schwer fassbaren C1 Headquarters stehen hier als Metapher für unvorstellbare im Namen der Apartheid begangene Verbrechen, aufgenommen am Tag der zweiten demokratischen Wahlen Südafrikas. 'I was stunned by the banality of that facade, the failure of that place to live up to the image it evoked in my imagination.' Immer wieder wirken die Aufnahmen Ractliffes wie ein bewusstes Statement gegen jene Gefälligkeit, die den allzu deutlichen Bildern des Fotojournalismus so oft anhaften.
'I am at war with the obvious', hat der Fotograf William Eggelston sein künstlerisches Konzept einmal zusammengefasst. Es scheint so, als hätte sich Jo Ractliffe dieses Motto für ihre dokumentarische Fotografie zum Vorbild genommen. Thematisch mag der Unterschied zuallererst beachtlich wirken, doch wenn man Ractliffes Referenzen, die neben Fotograf*innen wie Joseph Koudelka, Manuel Álvarez Bravo und Robert Frank auch Namen von Künstler*innen wie John Heartfield, John Baldessari und Ed Ruscha umfassen, wird klar, dass dem hier vorliegenden Werk mit althergebrachten Kategorisierungen nur schwerlich beizukommen ist. Man müsse die konkrete Gewalt nicht zeigen, habe Ractliffe etwa in Auseinandersetzung mit den Collagen Heatfields gelernt und auch Eisensteins Montagetheorie könne beim fotografischen Arbeiten helfen (vgl. S. 400). Etwa wenn es darum gehe, das Zusammenwirken von Bildern zu begreifen. Eine Komponente, die für Ractliffes Fotografien von großer Bedeutung ist. So sind ihre Fotos schwer zu isolieren, stehen sie doch fast immer in einem größeren Zusammenhang.
Ractliffe geht es bei ihren Projekten zuallererst um die Sache selbst, erst danach werden die eingesetzten Mittel relevant. Als ihr Anfang der 90er-Jahre die Fotoausrüstung gestohlen wird, greift sie kurzerhand zu einer Diana (eine weitere Plastikkamera, die ernsthaften Fotograf*innen bestenfalls als Spielzeug gilt). Die niedrige optische Qualität der Plastiklinse verleiht den Mittelformataufnahmen einen traumhaften Charakter, der Ractliffe geeignet erscheint, das sich nach der Endhaftung Nelson Mandelas in einem radikalen Umbruch befindende Land zu dokumentieren. Bis 1995 entsteht so die Serie reShooting Diana, deren atmosphärische Fotos sich inmitten dieses hochwertigen Bildbands wie Fremdkörper ausnehmen.
In einem mit dem Titel 'Aftermath' überschriebenen Kapitel beschäftigt sich Ractliffe mit den Nachwirkungen europäischer Kolonialpolitik. Im Mittelpunkt steht Angolas Bürgerkrieg, der das Land seit der Entlassung aus portugiesischer Herrschaft (1975) bis 2002 nicht zur Ruhe kommen ließ und stark von der Weltlage des Kalten Krieges befeuert wurde. 2007 bereiste Ractliffe zum ersten Mal Angola. Ein Land, das für sie zuvor ein geradezu abstrakter Ort war, an den Freunde und Geschwister gesendet wurden, um ihren Militärdienst abzuleisten. Für Terreno Ocupado (2007) nähert sich die Fotografin dem Land auf den Spuren des polnischen Autors Ryszard Kapuściński. Dabei ist sie sich ihrer schwierigen Rolle durchaus bewusst: 'I was very aware of being a stranger, photographing a place not mine' (S. 181). Eine Haltung, die man den Bildern deutlich ansieht: karge Landschaften mit Zivilisationsgerümpel und allen möglichen Verlassenschaften, Panoramen von improvisierten Baracken-Siedlungen, kaum Menschen. Alles in quadratischen Mittelformataufnahmen, alles schwarz-weiß. Noch entschlossener sind die Aufnahmen des Folgeprojekts As Terras do Fim do Mundo (2009-10). Ractliffe: 'I was intrested in exploring the idea of landscape as pathology' (S. 215). Hier gibt es demnach nur noch vollkommen menschenleere Landschaften. Nur ein einziges Foto weicht von diesem Konzept ab: Es zeigt den Soldaten einer Entminungseinheit, der in seinem Schutzanzug wie ein Außerirdischer wirkt.
Abgeschlossen wird das Thema Angola von der Serie The Borderlands (2011-13), für die Ractliffe ausgewählte Orte innerhalb der südafrikanischen Grenzen dokumentiert, die für die Kolonialgeschichte, den Krieg in Angola und die Zeit der Apartheid von Bedeutung waren. Hier sieht man plötzlich auch wieder Menschen. Die Fotografin, die ein grundsätzliches Bedenken beim Ablichten von Menschen formuliert, das sich aus einem Unbehagen gegenüber der Aneignung des Abbildes der Porträtierten speist (vgl. S. 407), ist für diese Arbeit über ihren Schatten gesprungen, denn schließlich geht es hier auch um Fragen der Restitution. 'To avoid photographing people would mean to evacuate them from their homes and their land once again' (S. 253). Dieser im Kapitel 'Aftermath' zusammengefasste dreiteilige Werkkomplex zeigt eine Fotografin auf der Höhe ihres Könnens. Der Kontrast zu den oben genannten, früheren Arbeiten, die ihre Wirkung noch ganz bewusst aus einem spontanen Gestus in Verbindung mit niedriger Bildqualität zogen, könnte stärker kaum sein.
An anderer Stelle verdeutlicht sich dann ein aktuelles Dilemma dokumentarischer Fotografie. Im Zuge der Arbeiten zu Borderlands hat Ractliffe in der Gegend von Schmidtsdrift auch Indigene in ihrer traditionellen Kleidung vor einer selbstgebauten Hütte fotografiert. Mit großem Unbehagen, wie sie erläutert. Da die Porträtierten dies jedoch ausdrücklich so wünschten, hat sie schließlich gegen alle Bedenken diese Art Fotos gemacht, die mit einem Mal die gesamte Problematik um den 'Edlen Wilden' als Objekt eines kolonialen Blickes wachrufen. Zu sehen bekommt man diese Aufnahmen allerdings nur als Miniaturen im erläuternden Teil (S. 408). Doch auch diese Entscheidung vermag nicht vollends zu überzeugen, lässt sie die solcherart Porträtierten doch als etwas erscheinen, das man verstecken müsse. Dabei wurde der Wunsch nach dieser Art von Sichtbarkeit ganz ausdrücklich artikuliert. Wem steht es also zu, diesen Wunsch zu verweigern oder nachträglich in einen opportun erscheinenden Rahmen zu drängen? Die Frage nach visueller Selbstbestimmung scheint auch hier noch nicht abschließend ausverhandelt. Dabei wäre so viel Vorsicht vielleicht gar nicht nötig gewesen. Hätte man die Fotos in ganz gewöhnlicher Größe abgebildet und der Diskussion darum etwas mehr Raum gegeben, niemand wäre auf die Idee gekommen, sie als Produkte einer unreflektierten Bildpraxis eizuordnen. Schon gar nicht, wo der 400 Seiten starke Kontext eine derart klare Sprache spricht.
Das hier erstmals in einem Band versammelte Œuvre Ractliffes ist vielfältig und bemerkenswert. Ihr Zugang ist kein niederschwelliger und mag da und dort sogar etwas sperrig wirken. Es ist der Beleg einer Dokumentaristin, die sich den ausgetretenen Pfaden eines Genres zugunsten einer Handschrift verweigert, die sie deutlich von den gefälligen Bilderwelten ihrer Kolleg*innen abhebt. 'I wanted more than documentary, but still an anchor to the real…', formuliert sie ihren Zugang an einer Stelle des Gespräches mit Artur Walther (S. 401). Der wichtige südafrikanische Fotograf David Goldblatt – dem dieser Band auch teilweise gewidmet ist – hat es mit einer Serie über Minenarbeiter (On the Mines, 1973) zu internationaler Bekanntheit gebracht. Eineinhalb Jahrzehnte später stellt Jo Ractliffe ihre erste bedeutende Serie aus: Das stark ästhetisierte Projekt Nadir zeigt zurückgelassene Hunde portugiesischer Kolonialherren inmitten postapokalyptisch anmutender Landschaften. Es sind fiktive Fotomontagen, die auf authentischen Aufnahmen von Müllhalden in der Nähe Cape Towns fußen. Fünf Jahre später kommt es zum Ende der Apartheid und zu Südafrikas ersten demokratischen Wahlen. Es gibt viele Möglichkeiten, mit Fotografie etwas über die Geschichte eines Landes zu erzählen. 'My […] struggle was with the photographic conventions of the time', erzählt Ractliffe über diese Zeit des Umbruchs. 'I didn’t fit the mode of social documentary, its direct political adress. I sought a different language, a certain poetics' (S. 13). Publikationen wie die vorliegende lassen hoffen, dass auch etwas von dieser anderen Sprache in Erinnerung bleiben wird.
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