Lima Sayed: Weiße Helden im Film. Der »White Savior Complex« – Rassismus und Weißsein im US-Kino der 2000er Jahre.

Bielefeld: transcript 2019. ISBN: 978-3-8376-4873-7. 344 S., Preis: € 44,99.

Autor/innen

  • Michaela Wünsch

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-1-12

Abstract

Lima Sayeds 2017 im Fach Amerikanistik eingereichte und 2019 veröffentlichte Dissertation widmet sich dem Rassismus im US-amerikanischen Film des vermeintlich 'post-rassistischen' Jahrzehnts der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Sayed argumentiert, dass auch nach 2008 nicht-Weiße US-Bürger*innen[1] nach wie vor institutionell benachteiligt würden und sich dieser Rassismus auch im Film niederschlage. Filmische Texte begreift die Autorin dabei als "Ausdrucksfläche gesellschaftlich zirkulierender Annahmen, Einstellungen und Tendenzen" (S. 9), die soziokulturelle Praktiken, Werte und Probleme freizulegen vermögen, aber auch selbst erschaffen. Sayed analysiert beispielhaft die amerikanischen Filme Crash (2004), Monster’s Ball (2001), Gran Torino (2008) und The Visitor (2007) im Hinblick auf "Repräsentationen der Identitätsstiftung" (S. 11) und um ihre Frage zu beantworten, inwiefern sich die Darstellung einer post racial society im Film gewandelt hat oder ob diese "lediglich unter anderen Vorzeichen stattfinde[t]" (ebd.). Sayed hat insbesondere diese Filme ausgewählt, weil sie sich inhaltlich mit "Begegnungen rassisch*[2] differenter Bevölkerungsgruppen befassen sowie [die] zum Teil konflikthafte Auseinandersetzung zwischen ihnen" (ebd.) spiegeln.

Hier wird schon deutlich, dass sich Sayed vor allem mit den Narrativen der Filme und weniger mit deren Ästhetik beschäftigt. Als theoretische Grundlagen dienen daher auch eher soziologisch ausgerichtete Theorien zu Rassismus, kollektiver Identität und Nation, die sich gemäß Sayed in Narrativen, Mythen und Fantasien äußern würden. Dabei gibt die Autorin im Theorie-Kapitel (S. 36-125) einen ausführlichen Überblick zur Rassismusforschung, der exzellent als studentische Einführung in Rassismustheorien, wie auch als Sensibilisierung für Rassismen in der Sprache dienen könnte: Sie differenziert zwischen Stereotypenforschung, Studien zu Ethnizität, Critical Race Studies und Whiteness Studies, wobei sie die Stereotypenforschung dafür kritisiert, dass sie auf kognitive Prozesse und zwischenmenschliche Interaktionen beschränkt bleibt und "tiefergehende Bedeutungen von gesellschaftlich zirkulierenden Bedeutungen um Rasse* sowie Rassismus nicht" erklärt (S. 21). Auch von dem Begriff der Ethnizität grenzt sich die Autorin ab, denn dieser bezöge sich meist nur auf Nicht-Weiße, und würde so eine ethnische Andersheit markieren.

Die Studie widmet sich anschließend explizit dieser vermeintlichen Mehrheit und Norm von Weißsein in den USA, bzw. der Whiteness als Analysekategorie und "herrschende gesellschaftliche Positionalität" (S. 68), wie sie von afro-amerikanischen Intellektuellen wie Langston Hughes, W.E.B. du Bois, Toni Morrison und bell hooks bereits entwickelt wurde. Allerdings lässt sich für eine medien- bzw. filmwissenschaftliche Publikation ein gewisses Ungleichgewicht zwischen tendenziell soziologisch ausgerichteten Theorien, die die ersten hundert Seiten des Buches füllen, und der Beschäftigung mit Film feststellen. Obwohl Sayed in einem filmtheoretisch orientierten Kapitel vereinfachende Methoden kritisiert, nach denen Filme Stereotypen lediglich bedienen und verstärken, indem eine komplexe Realität in standardisierte Muster übertragen wird, arbeitet sie auch selbst mit der Analyse filmischer Stereotype. Sie stellt heraus, dass im US-Film Weiße Schauspieler*innen dominieren würden, die lange als 'blackface' sogar noch die Rollen Schwarzer (und auch jüdischer, lateinamerikanischer, asiatischer) Charaktere übernommen hätten, während man heute im Grunde weiterhin von Schwarzen Schauspieler*innen als 'blackface' sprechen müsse, da ihre Verkörperung nicht 'authentisch' sei, "sondern lediglich der Vorstellung von Weißen über rassifizierte Andere" (S. 106) entspreche. Auch in ihrer Analyse der stereotypen Darstellung von Schwarzen in Filmen kritisiert Sayed lediglich, dass diese ein Bild von Afro-Amerikaner*innen als arm oder kriminell produzieren würden. Dies entspricht jedoch durchaus oft der Realität (auch wenn die rassistischen Ursachen von Armut und Kriminalisierung nicht thematisiert werden). Auch eine vermeintlich andere Repräsentation, wie die im Buch erwähnte Cosby-Show, ist nicht minder stereotyp, wenn auch hier etwas 'positiver' besetzt. Insgesamt wirkt dieser hegemoniale Diskurs in Sayeds Darstellung absolut und hermetisch.

In den einzelnen Filmanalysen bietet Sayed hingegen eine sehr differenzierte Lektüre. In Bezug auf den Film Crash resümiert sie, dass dieser nur auf den ersten Blick einzigartige und facettenreiche Individuen und verschiedene Formen von Rassismus zeige. Genauer betrachtet impliziere der Film jedoch, dass "alle ein wenig rassistisch seien und von Rassismus betroffen, d. h. auch Weiße. Somit werde eine kritische Auseinandersetzung mit institutionellen und strukturellen Seiten von Rassismus [...] erschwert. Das Politische wird psychologiert" (S. 135f). Sayed untersucht dann, wie diese Verlagerung vom Politischen ins Persönliche im Detail vollzogen wird: beispielsweise indem die Sprachbeiträge von Nicht-Weißen kürzer seien und es daher wenig Raum für ihre Perspektive gäbe – "stattdessen wird die Wahrnehmungswelt der weißen Figuren in aller Ausführlichkeit verhandelt, und so folglich privilegiert" (S. 143). Meiner Meinung nach wird jedoch der strukturell verankerte Rassismus in Crash nicht vollkommen ignoriert, sondern auch kritisiert, denn in den Dialogen werden wortwörtlich Masseninhaftierung, eine rassistisch voreingenommene Justiz, fehlende Chancen und vernachlässigte Schulen (vgl. S. 142) benannt. Wenn die Weißen Charaktere in Crash diese Ungleichheit dem fehlenden Fleiß von Schwarzen zuschreiben, wird dies auch als Weißer rassistischer Diskurs demaskiert, weil in Crash auch beruflich erfolgreiche Schwarze jederzeit von Polizisten erniedrigt, geschlagen und sogar getötet werden.

Marc Forsters Film Monster’s Ball wird von Sayed ebenfalls für die Psychologisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse kritisiert, indem die Beschränkung der Handlungsfähigkeit auf der Seite der Schwarzen als Hilflosigkeit und Abhängigkeit von einem 'Weißen Retter' gezeichnet wird. Das Narrativ verdecke dabei nicht nur die Geschichte rassistischer Strukturen, sondern bestätige sie unter dem "Deckmantel einer romantischen Liebesbeziehung" (S. 197).

Auch die männliche Weiße Retterfigur in Clint Eastwoods Gran Torino, dem nächsten analysierten Film, werde zunächst als extrem rassistisch dargestellt, baue im Laufe des Films aber Beziehungen zu Nicht-Weißen auf, in diesem Fall eingewanderte Hmong, die im Vietnam-Krieg mehrheitlich an der Seite der US-Amerikaner*innen kämpften, zu denen auch der Hauptcharakter Walt Kowalski, gespielt von Clint Eastwood, gehört. Sayed schlussfolgert daher, dass in diesem Film zwar Rassismus teilweise kritisiert wird, meist jedoch auf spielerische, ironische Weise. Letztendlich vermittele der Film, dass Probleme "nur mit einer Rückbesinnung zu einer patriarchalen Ordnung gelöst werden können" (S. 228) und "künftige Generationen in den USA nur mit althergebrachten, materiellen Werten eine hoffnungsvolle Zukunft zu haben scheinen – Werte[n], die durch das weiße Männlichkeitsbild etabliert worden sind" (S. 230) und die auch Thao, ein junger Hmong übernimmt, um sich in die US-amerikanische Gesellschaft zu integrieren.

Auch an dem vierten Film, den Sayed analysiert, The Visitor (2007), kritisiert sie die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der nicht-Weißen Charaktere: Die Hauptfigur ist ein alternder Weißer Mann, der durch die Begegnung mit rassisch* Anderen aus der eigenen Lethargie gerissen wird. Die 'Anderen' sind der Syrer Tarek und die Senegalesin Zainab, die keine gültigen Aufenthaltspapiere haben. Tarek wird deshalb im Laufe des Films verhaftet und abgeschoben, Zainab bleibt ohne Papiere in den USA. Dass die Folgen dieser Restriktionen jedoch wenig ausführlich gezeigt werden, wie das soziale und psychische Leben des Weißen Protagonisten, kann mit Sayed tatsächlich als Fortsetzung einer hegemonialen Whiteness gelesen werden.

Im vierten und vorletzten Kapitel werden die Analyseergebnisse unter verschiedenen Stichpunkten zusammengefasst: Phantasie von Gleichwertigkeit, Weiße Norm und Nicht-Weiße Divergenz, Subjektivität und Objektivität, Handlungsspielräume und Bewegungsfreiheiten, Leid und die Verhandlung von Problemen, sowie eine Weiße Figur im Mittelpunkt (vgl. S. 262) sind die Kategorien, die Sayed aus ihren Analysen subsummiert. Im Fazit wird noch einmal auf die Ausgangsfragestellung eingegangen und festgestellt, dass obwohl weniger rassistische "Entwicklungen zu verzeichnen sind" (S. 276), die untersuchten Filme sich dadurch auszeichnen würden, dass sie "simultan positive und negative Anteile hinsichtlich der Verhandlung von Rassismus enthalten" (ebd.). Dieses Nebeneinander von progressiven und reaktionären Tendenzen begreift Sayed als symptomatisch für die zeitgenössische gesellschaftliche Verhandlung von Rasse* und Rassismus in den USA. Dazu gehöre auch, dass Nicht-Weiße nicht als eigenständige Individuen, sondern als Vertreter*innen einer ethnisierten Gruppe dargestellt werden, während Weiße außerhalb von rassischen* Zuschreibungen stehen, also eine universelle Norm repräsentieren.

Insgesamt entspricht der Titel des Buchs nicht exakt seinem Inhalt: Obwohl Weiße Männlichkeit als Untersuchungsgegenstand angegeben wird, gibt es in den einzelnen Analysen eher einen Vergleich der Repräsentation von Schwarzen und Weißen Figuren.

 

[1] Im Unterschied zu Lima Sayed schreibe ich Weiß und Schwarz groß, um sie als politische und nicht hautfarbenorientierte oder biologische Kategorien zu kennzeichnen. Außerdem verwende ich eine geschlechtergerechte Sprache, auf die Sayed verzichtet, “um eine breitere Leserschaft anzusprechen“ und die Lesbarkeit zu vereinfachen. (S. 7)

[2] Sayed benutzt das Sternchen, um auf den Konstruktionscharakter hinzuweisen.

Autor/innen-Biografie

Michaela Wünsch

Michaela Wünsch forscht und lehrt zu psychoanalytischen Themen, Sexualität, Gender und Race in den Medien, derzeit an der Universität zu Köln. Sie hat in Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit zum Serienkiller als Medium des Unbewussten weißer Männlichkeit promoviert und arbeitet zudem als Psychoanalytikerin in eigener Praxis und bei b_books in Berlin.

Aktuelle Publikationen:

Michaela Wünsch: "Zwischen Minority und Mainstream. 'Jüdische Sitcoms' vor und nach dem Qualitätsfernsehen". In: Before Quality. Hg. v. Lukas Förster/Thomas Morsch/Nikolaus Perneczky. Münster 2019, S. 218-235.

–: "Serialität und Intertextualität". In: Handbuch Filmtheorie. Hg. v. Bernhard Groß/Thomas Morsch. Wiesbaden 2017 [2020 in print] (Online: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-658-09514-7_33-1.pdf).

- Übersetzung (gemeinsam mit Christoph Sökler) von: Alenka Zupančič: Was ist Sex? Psychoanalyse und Ontologie. Wien 2020.

- Rezension zu: Timo Storck/Svenja Taubner (Hg.): Von Game of Thrones bis The Walking Dead. Interpretation von Kultur in Serie. rezens.tfm 2019/2.

–: "Materialismus in der Lacan'schen Psychoanalyse". In: Wessen Wissen? Künste. Materialität. Situiertheit. Hg. v. Kathrin Busch/Christina Dörfling/Kathrin Peters u. a. Paderborn 2018, S. 31–45.

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Veröffentlicht

2020-05-25

Ausgabe

Rubrik

Film