Franco ‚Bifo’ Berardi: Helden. Über Massenmord und Suizid.

Berlin: Matthes & Seitz 2016. ISBN 978-3957572370. 282 S., Preis: 22,90€.

Autor/innen

  • Michaela Wünsch

Abstract

Menschlichkeit ist überbewertet.[1]

 

Franco Berardis Buch Helden. Über Massenmord und Suizid analysiert nicht nur die opferreichsten Amokläufe der letzten Jahre, sondern auch und vor allem die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die Berardi als „absoluten Kapitalismus“ bezeichnet und die er für diese suizidalen Massenmorde verantwortlich macht. Die neoliberalen kapitalistischen Verhältnisse, die von Simulation, Wettbewerb und Nihilismus geprägt sind, bringen Berardi zufolge Menschen – vor allem Männer – hervor, die nicht länger in der Lage sind Solidarität und Empathie zu entwickeln. Die Motivation für Massaker und Amokläufe von Einzeltätern wie Anders Breivik, Seung-Hui Cho und Eric Harris und Dylan Klebold sieht Berardi zudem in dem Streben nach medialem Ruhm und Identität. Das Verlangen nach Identität ist Berardi zufolge sowohl eine Krankheit als auch ein kulturelles Produkt, das auf die starre Zugehörigkeit zu Nation, Religion und Rasse beruht. Zudem zeichnen sich Täter wie Breivik durch Misogynie und Verherrlichung patriarchaler Familienwerte aus.

Neben diesem Phänomen des Massenmords widmet sich Berardi auch den massenhaften Selbstmorden von indischen Bauern, die in eine Spirale von Schulden und Verarmung durch Monsanto-Saatgut geraten sind oder den Selbstmorden chinesischer Arbeiter*innen bei Foxconn und Apple, bei denen die Selbstmordrate derartig zunahm, dass in neuen Arbeitsverträgen das Versprechen festgehalten wurde, keinen Selbstmord zu begehen. Das Leiden an den ökonomischen Verhältnissen ist demnach eine weitere Ursache für Suizid wie Massenmord. Dieses Leiden betrifft jedoch nicht nur die besonders ausgebeuteten Arbeiter*innen der ausgelagerten physischen Produktion, sondern auch die unter prekären Bedingungen kognitiven Dienstleister*innen der immateriellen Arbeit im Semio-Kapitalismus, des Teils des absoluten Kapitalismus, in dem es vor allem um die Produktion und den Tausch abstrakter Zeichen geht, die ununterbrochen die Aufmerksamkeit der Produzent*innen in Anspruch nimmt.

Berardi ist bekannt als politischer Aktivist und Intellektueller. Zuletzt erregte er Aufmerksamkeit mit dem Gedicht Auschwitz on the Beach, das er im Kontext einer Performance auf der documenta 14 vortragen wollte. In dem Gedicht vergleicht er die Abschottung Europas und das massenhafte Sterben an seinen Grenzen mit der Vernichtung der Juden durch die Nazis. Nach Protesten u. a. aus der jüdischen Gemeinde gegen diesen Vergleich, las Berardi das Gedicht zwar nicht vor, sein Inhalt wurde jedoch breit rezensiert und auch kritisiert.[2] Aus Protest gegen die europäische Abschottungspolitik trat Berardi im Jahr zuvor aus der Initiative DiEM 25 (Democracy in Europe Movement 2015) aus, woraufhin Yanis Varouvakis, ebenfalls Mitglied von DiEM 25, Berardis Austritt mit der Begründung ablehnte, dass Berardi mit seinem Protest für eine ‚wahre’ europäische Demokratie stünde, die die Mitglieder von DiEM 25 verteidigen.[3] Berardi trat bereits im Alter von 14 Jahren einer Jugendorganisation der kommunistischen Partei Italiens bei, war in der 1968er Jahre-Bewegung in Bologna aktiv, war Teil des freien Senders Radio Alice und des italienischen Operaismus und Weggefährte von Felix Guattari und Antonio Negri. Berardi verbindet in seinen zahlreichen Veröffentlichungen Kapitalismuskritik mit Medienaktivismus und Subjektivierungstheorien.

Der Prolog seines jüngsten Buches, der auf ein kurzes Vorwort zur deutschen Ausgabe folgt, beginnt mit dem Massaker, das James Holmes im Juli 2012 in einem Kino in Aurora während der Mitternachtsvorstellung von The Dark Knight Rises anrichtete. Zu der Zeit begann ich gerade einen zweijährigen Forschungsaufenthalt an der University of California Riverside, wo James Holmes seinen BA in Neurowissenschaften mit Bestnoten abgeschlossen hatte. Ich suchte mehrfach nach einer Erklärung auf der Webseite der Universität, die Trauer und Anteilnahme mit den Opfern ausdrückte, jedoch vergeblich. Freunde von der Universität teilten mir dann mit, dass dies nicht gemacht würde, um sich gegen mögliche Klagen zu schützen. Dieser Mangel an Empathie und Solidarität ist für Berardi eines der Kennzeichen des absoluten Kapitalismus' seit der Moderne.

Andere sind die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, die Deterritorialisierung der Produktion und der Zerfall der Sozialsysteme.

Berardi stützt sich in weiten Teilen seines Buchs auf Jean Baudrillard, was mich erstaunte, da ich ihn sehr lange nicht mehr zitiert gesehen habe. Berardi referiert auf Baudrillards „Semiologie der Simulation“ (S.40), die von einem Ende der Referentialität in der Ökonomie und Sprache ausgeht: „Zeichen werden gegen andere Zeichen getauscht, nicht gegen wirkliche Gegenstände.“ (S. 40) Wie Baudrillard nimmt Berardi gegenüber dieser Ersetzung der Realität durch die Simulation eine sehr kulturpessimistische, wenn nicht sogar medienfeindliche Haltung ein. Obwohl Berardi sich gegen die „allgemeine“ Auffassung richtet, dass der Inhalt von Videospielen verantwortlich für Amokläufe wie dem in Columbine ist, argumentiert er dennoch aus einer ähnlichen Perspektive: Es ist das Abtauchen in die digitale Welt an sich, „die uns körperlichen Lüsten und Qualen gegenüber unempfindlich macht“ und zu einer „Mutation des menschlichen Gehirns führt.“ (S. 64)

Als Beleg führt Berardi an, dass der Attentäter Holmes glaubte, in einem Film mitzuspielen.

Obwohl auch meiner Ansicht nach bei Massen- oder Serienmördern die Grenze zwischen Fiktion und Realität verschwimmt, zeichnen sich diese Täter jedoch gerade dadurch aus, Fantasien, Simulation und Fiktion zu Realität werden zu lassen, indem die sie mediale Ebene verlassen und ihre Fantasien physisch am Körper ausagieren. Und wenn es um den medialen Ruhm geht, ist das Angebot an Reality und Casting Shows groß genug, um ins Fernsehen zu kommen. Daher verfehlt Berardis ‚medienkritische’ Analyse meines Erachtens einen wesentlichen Aspekt des massenhaften Mordens.

Auch die Biologisierung gesellschaftlicher Entwicklungen erstaunt, da Berardi an anderer Stelle die Naturalisierung der menschlichen und ökonomischen Beziehungen der neoliberalen Ideologie zuschreibt. Diese beginne mit Adam Smiths Vorstellung der „unsichtbaren Hand“, die „den Markt fast wie eine Naturgewalt reguliere“ (S. 56), während sich der Humanismus und Sozialismus durch „eine Autonomie der Menschheit gegenüber dem völlig gnadenlosen Gesetz der Natur“ auszeichnete. (Ebd.)

„Die beiden Möglichkeiten, mit denen wir uns in Zukunft wohl konfrontiert sehen werden, sind deshalb diese: Entweder wird das Gehirn – gemäß des kompetitiven Prinzips (sic) der kapitalistischen Ökonomie – den Regeln der globalen Neuro-Maschine unterworfen werden, oder die autonome Potenzialität des General Intellect wird befreit werden.“ (S. 245, Hervh. im Original). Während Berardi sich mit dem Begriff des „General Intellect“ dezidiert auf Karl Marx bezieht, bleibt unklar auf welche Gehirnforschung oder anderen psychologischen und psychoanalytischen Konzepte er zurückgreift. So schreibt er von einem „gesellschaftlichen Gehirn“, das gezwungen sei, mit Traumata, Überbelastung und Diskonnektionen umzugehen, die das Unbewusste stören. Die Hirnforschung kennt jedoch kein Unbewusstes im psychoanalytischen Sinne, die wiederum ganz und gar nicht selbstverständlich mit der Hirnforschung in Einklang zu bringen ist. Als weiteren Term bringt Berardi die „Imagination“ als eine Fähigkeit ein, imaginäre Fragmente neu zusammenzusetzen und zu formulieren und damit die Möglichkeit, neue Formen, einen neuen Horizont und eine noch nicht gesehene Welt zu entwerfen. Während diese etwas krude Mischung neurowissenschaftlicher, psychologischer und utopischer Konzepte nicht sehr überzeugt, bietet Berardis wiederholte Forderung nach Solidarität, Freundschaft und letztlich die Rückkehr zu einem – wenn auch transhumanen – Humanismus eine Perspektive, dem dominanten Wettbewerbsdenken ethisch und politisch zu begegnen. Die Ethik hat jedoch nichts mit dem Verantwortungsbewusstsein zu tun, das Berardi zufolge die Politik von uns erwartet: „Die Politik will, dass wir verantwortungsbewusst handeln, mehr arbeiten, mehr kaufen, den Markt stimulieren.“ (S. 267) Dem entgegengesetzt plädiert Berardi dafür, die Teilnahme zu verweigern und sich der Verzweiflung hinzugeben, „dass man sich der Wahrheit der gegenwärtigen Lage bewusst ist.“ (S. 268)

Selbstverständlich sollte die Verzweiflung nicht in Selbstmordattentaten umgesetzt werden, dennoch lassen sich diese nicht ohne die massenhafte Verzweiflung verstehen, wie Berardi mit Bezug auf den Psychoanalytiker Fethi Benslama betont.[4] Diese Verzweiflung als Resultat kolonialistischer Ausbeutung und Enteignung paart sich im radikalen Islamismus mit einem Verlangen nach einem Ursprung und einer Wiederholung des Identischen.

Die „identitäre Obsession“ teilen die islamistischen Selbstmordattentäter mit nationalistischen, rassistischen und frauenfeindlichen Attentätern wie Breivik. Wenn Berardi das Streben nach Identität kritisiert, dann nicht in erster Linie im Sinne einer Identitätspolitik verschiedener Befreiungsbewegungen, sondern das vom Kapitalismus erzeugte Verlangen „nach einer Reterritorialisierung sowie die ununterbrochene Wiederkehr der Vergangenheit als einer nationalen Identität, einer ethnischen Identität und so weiter.“ (S. 151). Statt die Verzweiflung also mit einer Rückkehr zu einem vermeintlichen Ursprung zu verbinden, liegt die Antwort nach der Frage „was tun“ im absoluten Kapitalismus für Berardi in der ironischen Autonomie, einer „dystopischen Ironie (Dyst-Ironie)“, bei der es um die Unabhängigkeit des Geistes geht. (S. 268) Für Berardi liegt die Freiheit einer ironischen Autonomie in der Verweigerung von Teilnahme, Verantwortungsbewusstsein und Glauben an das gegenwärtige System. Die Ironie zeichnet sich durch eine grundlegende Skepsis aus. Mit der Forderung auch ihn nicht ernst zu nehmen, endet das Buch.

 

[1] Dies ist der Titel eines der Kapitel des besprochenen Buches. Diese Phrase stammt aus dem Manifest des Natürlichen Selektors von Pekka-Eric Auvinen, der 2007 neun Schüler in Finnland tötete, bevor er sich selbst erschoss. Er besaß auch ein T-Shirt mit der Aufschrift „Humanity is overrated“. Jedes der elf Kapitel des Buches ist mit einem derartigen Motiv überschrieben. Die Kapitel folgen diesen Motiven zum Suizid bzw. Massenmord und nicht einem jeweiligen Einzeltäter.

[2] Siehe u.a.: https://www.deutschlandfunkkultur.de/performance-auschwitz-on-the-beach-politisches-desaster.1013.de.html?dram:article_id=394009; http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/auschwitz-on-the-beach-bei-documenta-dann-macht-doch-politik-15168489.html; https://www.zeit.de/2017/35/documenta-kassel-auschwitz-on-the-beach-performance; ttps://www.nytimes.com/2017/08/23/arts/auschwitz-on-the-beach-documenta-14-controversy.html (zuletzt gesehen: 15.07.2018).

[3] https://www.opendemocracy.net/can-europe-make-it/yanis-varoufakis-franco-berardi/resignation-letter-from-franco-bifo-berardi-to-ya. (zuletzt gesehen: 15.07.2018).

[4] Fethi Benslama: Psychoanalyse des Islam. Berlin 2017.

Autor/innen-Biografie

Michaela Wünsch

Michaela Wünsch forscht zu Serialität, Film und Fernsehen, Psychoanalyse und Race und Gender. Sie hat in Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit zum Serienkiller als Medium des Unbewussten weißer Männlichkeit promoviert. Im Rahmen eines Marie-Curie Fellowships hat sie an der University of California und der Universität Potsdam zu transnationalen Serien geforscht.

Publikationen:

- „Die Weis(s)heit des Detektivs.“ In: Wissenssümpfe. Die Fernsehserie True Detective aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Hg. v. Mark Arenhövel, Anja Besand, Olaf Sanders. Springer 2017, S. 119-133.

- „Comedy, Repetition and Racial Stereotypes in Television.” In: CINERGIE. Il Cinema e le altri Arti. 9, 2016. (http://www.cinergie.it/?p=6101)

- „Techne, Mechane und Poeisis des Fernsehens.” In: Jahrbuch für Medienphilosophie, Band 2, Heft 1 (Feb. 2016), S. 183-206.

- „Trauma, Guilt, and Ethics in BeTipul and In Treatment. The Universalist Approach and (Jewish) Particularism of Psychoanalysis." In: Journal for Jewish Film and New Media, Fall 2015, Vol. 3.2, S. 119-141.

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Veröffentlicht

2018-11-15

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Rubrik

Medien