Sonja Witte: Symptome der Kulturindustrie. Dynamiken des Spiels und des Unheimlichen in Filmtheorien und ästhetischem Material.
Bielefeld: transcript 2018. ISBN: 978-3-8376-3877-6. 414 S., Preis: € 44,99.
Abstract
Sonja Witte unternimmt in ihrer Studie eine symptomatische Lektüre von filmischem, künstlerischem und kultur- und filmtheoretischem Material mit einem Fokus auf das Spielerische und Unheimliche.
So umfangreich der Titel des Buches von Sonja Witte ist, das auf einer Dissertation an der Universität Bremen beruht, so umfangreich ist das Buch mit 410 Seiten selbst. Die Autorin ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der IPU, der International Psychoanalytic University in Berlin. Entsprechend ist die Untersuchung psychoanalytisch ausgerichtet.
Witte verbindet dabei die Psychoanalyse mit der Kritischen Theorie Adornos. Sie bezeichnet ihre Untersuchung selbst als eine psychoanalytisch-kulturtheoretische Analyse von spielerischen und unheimlichen Momenten in der Kulturindustrie am Beispiel psychoanalytischer Filmtheorien. Dabei richtet sich ihr Erkenntnisinteresse nicht nur auf Produktionen der Kulturindustrie, sondern auch auf den wissenschaftlichen Diskurs über diese Produktionen, der, so die Autorin mit Bezug auf Insa Härtel, nicht einfach artikuliert werden, "sondern selbst Symptom einer gesellschaftlichen Konstellation bilden kann" (S. 11). Als Ziel ihrer Arbeit beschreibt Witte nicht eine Psychoanalyse der Kulturindustrie, sondern "eine Herausarbeitung von konflikthaften, in sich gebrochenen Verschränkungen von unbewussten Dynamiken und kulturellen Prozessen, wie sie sich in psychoanalytischen Filmtheorien niederschlagen" (S. 12). Dabei begreift sie die Psychoanalyse als einen Denkraum, der die Erkenntnis bereithält, wie Subjekt und Gesellschaft konflikthaft und prekär miteinander verstrickt sind. Hier sieht Witte Parallelen zwischen Freuds Psychoanalyse und Adornos Kritischer Theorie. Beide Ansätze gehen weder davon aus, dass Subjekt und Gesellschaft getrennt sind, noch werden sie als Einheit vorausgesetzt. Denn fälschlicherweise sei die Kritische Theorie Adornos und der Frankfurter Schule als kulturpessimistisch in die Richtung gedeutet worden, dass die Kulturindustrie tatsächlich das Bewusstsein und Unbewusste der Subjekte kontrolliere.
Wittes Verständnis von Kulturindustrie unterscheidet sich von diesen Lesarten grundlegend. Sie legt den Fokus auf die Konflikthaftigkeit unbewusster Prozesse und auf die Lücken im Prozess der Integration des Subjekts in die Gesellschaft. Unter Kulturindustrie versteht sie eine "Dimension der Vergesellschaftung"[1] (S. 27), die die Dynamiken im Verhältnis von kulturellen Objekten und Konsument*innen betrifft. Kulturindustrielle Objekte umfassen dabei sowohl Mainstream-Kinofilme, zeitgenössische Kunst, sowie die (Kultur-)Kritik derselben. Nach Witte gibt es kein außerhalb der Kulturindustrie, denn gerade das "Unterlaufen von Grenzziehungen" (S. 28) sei ihr wesentliches Merkmal.
Andere zentrale Begriffe des Buches sind die des theoretischen Symptoms, des Spiels und des Unheimlichen. Über die gängige, auf Freud basierende Definition des Unheimlichen als Wiederkehr des Verdrängten, vormals Heimischen, geht Witte hinaus, indem sie das Unheimliche mit einer konstitutiven Entfremdung verbindet. Zudem folgt sie Lilli Gasts Annahme, das Unheimliche sei als eine Kluft zu denken, "in der in bedrohlicher Weise Grenzziehungen" verwischen (S. 345) und der Tod die Szene betritt bzw. eine Unschärfe zwischen Leben und Tod in Erscheinung tritt. Entfremdung wird als ein Gewahr-Werden verstanden, dem Tod ausgeliefert zu sein, aber auch sich möglicherweise im Medium Film zu verlieren, in einen regressiven Urzustand zurückzufallen, den die Autorin mit dem Todestrieb verbindet. Das Unheimliche weist nach Witte zudem auf das Nicht-Integrierbare in der Übersetzung hin. Unter Übersetzung versteht die Autorin im Anschluss an Jean Laplanche eine allgemeine Symbolisierungstätigkeit des Menschen, die prinzipiell scheitert, weil sie unvollständig bleiben muss. Der Überschuss, das Nicht-Symbolisierbare weise zum einen auf das Unheimliche hin und treibe zum anderen den kulturindustriellen Übersetzungsprozess als Rest oder Abfall an. Übersetzung beinhaltet auch die psychoanalytische Theorie und ihre Deutungen der Übersetzung, sowie Wittes Arbeit selbst, wie sie in der Einführung bemerkt.
Bei ihrer Verwendung des Spielbegriffs bezieht Witte sich auf die wichtigste zeitgenössische Spieltheorie Johan Huizingas und seinen Begriff des heiligen Ernstes, den sie im Anschluss an Robert Pfaller mit der freudschen Triebtheorie verbindet. Pfaller schließt sich Huizingas These an, dass "die Kultur im Spiel begründet sei" (S. 17) und verbindet diese mit Octave Mannonis Konzept der ästhetischen Illusion. Pfaller entwickelt daraus eine Theorie des kulturellen Genießens, in der das Wissen um den Als-ob-Charakter des Spiels auf einem Überschuss des Genießens beruht.
Unter theoretischen Symptomen, ein weiteres zentrales Konzept der Arbeit, versteht Witte "sprachliche Kristallisationspunkte" im wissenschaftlichen Denken, die eine "Bühne unbewusster Dynamiken der Kulturindustrie darstellen" (S. 26). Sie folgt dem psychoanalytischen Verständnis des Symptoms als Verdichtung und Produkt der Verschiebung von scheinbaren, aber überdeterminierten Nebensächlichkeiten. Witte bezeichnet diese auch als 'Abhub', ein Wort, das Freud in der zweiten der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse benutzt,[2] das aber selten rezipiert wird. Witte bezieht sich jedoch auf die Rezeption dieses Wortes, das die Überreste bezeichnet, nachdem eine Tafel abgewischt wurde, durch Jutta Prasse und Insa Härtel. Während Freud 'Abhub' für jene unscheinbaren Phänomene benutzt, die von den anderen Wissenschaften unbeachtet bleiben, als zu geringfügig bewertet oder verworfen werden, verwendet auch Adorno das Wort, um die Psychoanalyse von den positivistischen Wissenschaften abzugrenzen.
Nachdem Witte in der Einleitung in diese theoretischen Grundlagen und zentralen Begriffe ihrer Arbeit einführt, ist der Hauptteil des Buches in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden unter dem Titel "Grenzüberschreitende Spiele" zum einen Filmtheorien aus dem Zeitraum zwischen 1946 und 1961 behandelt, vor allem diejenigen Frankreichs im Kontext der Zeitschriften Cahier du Cinema, Positif und Revue internationale de filmologie und Autoren wie Gilbert Cohen-Séat, Christian Metz, Etienne Souriau oder Albert Michotte van den Berck. Zum anderen zeigt Witte anhand der künstlerischen Arbeiten Santiago Sierras grenzüberschreitende Aspekte des Spiels. Sierras drastische Arbeiten werden als eine antispielerische Haltung gelesen, da er Realität nicht nur darstellt, sondern auch teilweise herstellt und zugleich den (realen) Warencharakter der Kunst demonstriert, etwa wenn er Arbeiter dafür bezahlt, eine Wand in einem Neigungswinkel von sechzig Grad zu halten. Während Sierra gegen das Spielerische rebelliert, verzeichnet Witte allgemein keinen Angriff, aber ein zeitgenössisches Verschwinden des Spiels, das angesichts der großen Verbreitung konkreter Spiele auf Mobiltelefonen und anderen elektronischen Medien meiner Ansicht nach nicht ganz nachvollziehbar ist. Allerdings ist Witte zuzustimmen, wenn er mit Robert Pfaller von einem "Abdrängen des Spiels in neue Intimräume" (S. 59) schreibt, da diese Spiele zwar oft im öffentlichen Raum gespielt werden, aber selten in Interaktion mit anderen Subjekten, bzw. sogar einer Abschottung von diesen dienen, insbesondere Spiele auf Mobiltelefonen.
Ein Kapitel widmet die Autorin dem italienischem psychoanalytischem Filmtheoretiker Cesare Musatti, der in Deutschland bislang wenig rezipiert wurde. Witte untersucht anhand der beiden Texte Kino und Psychoanalyse (1949) und Die psychischen Prozesse, die vom Kino in Gang gesetzt werden (1952) das Motiv der Grenzüberschreitung und die Unterscheidung zwischen filmischer und alltäglicher Realität, die Musatti vornimmt. Wie einleitend beschrieben, arbeitet Witte dabei ein Textsymptom heraus, das bei Musatti in der Formulierung "Mehr als nur, aber nicht Zuviel" besteht und sich nach Witte "als Kristallisation von unbewussten Dynamiken des Spiels erweist" (S. 116). Das 'Mehr als nur' bezieht sich auf die Möglichkeit der Realitätsflucht, die das Kino mehr als andere Künste biete und befriedige. 'Als nur' bezieht sich darauf, dass zumindest erwachsenen Zuschauer*innen bewusst ist, dass es sich bei der filmischen Realität 'nur' um einen Film handelt. Das kindliche Publikum verkörpert dagegen ein 'Zuviel', da es diese Grenzziehung noch nicht vollziehen kann.
Im zweiten Teil beschäftigt sich die Autorin mit Texten der Apparatustheorie, die zwischen 1968 und 1972 veröffentlicht wurden. Die Apparatustheorie war zu der Zeit die bestimmende Filmtheorie, die Psychoanalyse mit Ideologiekritik verbunden hat, um Filmanalyse zu betreiben. In diesem Teil konzentriert sich Witte auf das Motiv des Bruchs, von dem aus die Wirkung des Unheimlichen analysiert wird. Insbesondere widmet sie sich der Figuration dieses Motivs anhand des Aufsatzes Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks (1975) von Jean-Louis Baudry. Das theoretische Symptom, das sie bei Baudry herausarbeitet, ist die Formulierung des 'quasi'. Obwohl Baudry einerseits vertritt, dass das Kinopublikum bruchlos in den Kino-Apparat eingeschlossen wird, vergleichbar mit der später medientheoretischen Vorstellung der Immersion, relativiert Baudry diese totale Geschlossenheit andererseits durch die Formulierung des 'quasi', die jedoch von Baudry zur Seite geschoben und zum Abhub werden. Dem Publikum sei es quasi unmöglich, sich vom Kinoapparat zu lösen, dessen Realitätseindruck quasi halluzinatorisch sei. Indem Baudry diese Interpretation abbricht, taucht das Unheimliche als Rest eines Übersetzungsprozesses auf.
Witte untersucht die "Quasi-heimlichen" Reste und Brüche der Grenzziehungen zwischen Realität und Halluzination anhand des Films Die fabelhafte Welt der Amélie (FR 2001) und den Filmprojekten der Künstlergruppe Die tödliche Doris. Abschließend fasst Witte ihre wichtigsten Thesen zusammen und widmet sich von Adorno ausgehend der Stellung des Subjekts in der massenkulturellen Gesellschaft bzw. dem möglichen Verschwinden des Subjekts in dieser und einer vermeintlichen Vorrangstellung des Objekts. Beides wird insofern hinterfragt, als dass sich die Erfahrung des Vorrangs des Objekts nur als ein der Erfahrung Entzogenes zeigt und damit auf die Nicht-Identität von Subjekt und Gesellschaft verweist. Mit diesen Überlegungen schließt Witte ihr Buch ab.
Interessant an dem Buch ist meiner Ansicht nach die neuerliche Verknüpfung von Kritischer Theorie und Psychoanalyse und die Zurückweisung einer kulturpessimistischen Lesart Adornos, sowie die symptomatische Lektüre nicht nur filmischen Materials, sondern auch deren Analyse und Kritik. Besonders positiv fällt auch die Reflexion der eigenen Vorgehensweise der Autorin auf, die damit auch ihre eigene Untersuchung inhärent kritisch hinterfragt.
[1] Sonja Witte zitiert in ihrem Verständnis Heinz Steinert: Kulturindustrie. Münster 2008, S. 9.
[2] Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke XI. Frankfurt a. M. 1999, S. 20.
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