Volker Pantenburg (Hg.): Gerhard Friedl. Ein Arbeitsbuch.

Wien: FilmmuseumSynemaPublikationen 2019. ISBN: 978-3-901644-78-8. 272 S., Preis: € 22,00.

Autor/innen

  • Jan-Hendrik Müller

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-1-11

Abstract

Die Arbeiten des 2009 verstorbenen Filmemachers Gerhard Benedikt Friedl sind Ausnahmeerscheinungen im österreichischen Dokumentarfilm. Oft übersehen und gerade wegen ihrer ganz eigenen Form und Ästhetik nicht einfach einzuordnen, treffen sich seine Filme wie Knittelfeld (1997) oder Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikt begangen? (2004) an den Schnittstellen von Essay, Dokumentarfilm und Fiktion. "Termitenkino" nannte dies Alexander Horwath in Referenz an den US-amerikanischen Filmkritiker Manny Farber (vgl. S. 37). Geschichte, Politik, Ökonomie und Landschaft werden in Friedls Filmen bearbeitet und mittels eines präzisen Einsatzes von Bild- und Tonmontagen umgegraben. So ist es bemerkenswert, dass sich das vom Österreichischen Filmmuseum und Synema unter Redaktion von Volker Pantenburg herausgegebene Gerhard Friedl – Ein Arbeitsbuch dem oft zu bemängelnden Hang zu interpretatorischen Monografien entzieht und Friedls Werk als eine Materialsammlung präsentiert.

Diese Sammlung besitzt als biografisches wie filmhistorisches Format viele Vorteile. Sie schafft es, durch die Kompilation von Interviews, Exposés, Schriftwechseln und den journalistischen Texten Friedls nicht nur einen Einblick in seine sehr eigenwillige Idee vom Filmemachen zu geben, sondern darüber hinaus Friedls wenn auch nur kurze Entwicklung von seinen ersten Filmen als Studierender an der Hochschule für Film und Fernsehen in München bis zu seinen späten Projektentwürfen, zu skizzieren. Die nur zum Teil fertiggestellten Projekte Friedls verweisen auf mögliche Film- und Videoarbeiten an der Grenze zur bildenden Kunst und äußern ebenfalls Friedls wachsendes Interesse am Spielfilm. Besonders die Kritiken und Essays Friedls sind von einer Haltung geprägt, die Dokumentarfilm als Prozess eines Denkens in Bildern versteht. Diese theoretische Ausrichtung Friedls, die auch in seinen Filmen immer an einer Lücke, an dem Dazwischen der Bild- und Tonebenen, interessiert ist, verdeutlicht sich in dieser Materialsammlung. Das Buch ist damit ein wirkliches "Arbeitsbuch", welches die Möglichkeit bietet, sich mit Friedls Werk und Bilddenken eingehend zu befassen und darüber hinaus dazu auffordert, mit den formulierten Ideen und Begriffen weiterzuarbeiten.

Während seines Studiums der Philosophie in Wien schrieb Gerhard Friedl für den Falter. Diese frühen Filmkritiken sind oft von einer etwas ungelenken und doch philosophisch geschulten Fahrigkeit. Im Hang zum Theoretisieren, in einem gezielt lässigen Stil des Auslassens, sowie einem vereinzelten Fall ins Polemische, wirken die Texte manchmal etwas zu gewollt kritisch. Trotzdem merkt man, wie Friedl versucht, den besprochenen Filmen eine Sozialkritik abzuringen. Inwiefern kann Film Ausdruck einer sozialen Realität sein, könnte die Frage lauten, welche sich anhand von Friedls Ausstellungstexten und Artikeln für die Zeitschrift Camera Austria entfaltet. In der Auseinandersetzung mit US-amerikanischer Dokumentarfotografie zeigt sich einerseits Friedls Interesse an einer Vermittlung dokumentarischer wie fiktionaler Elemente als Strategien der Repräsentation des Wirklichen. Hier äußert sich seine sehr spezifische Auffassung des Dokumentarischen als "dokumentarische Fiktion" (S. 47). In der Auseinandersetzung mit den Fotografien Jeff Walls kann man andererseits ein weiteres Motiv seiner späteren Filme entdecken: ein Interesse an künstlerischen Arbeitsprozessen, sowie gegenüber der Frage, inwiefern Kunst dem Verständnis von Arbeit etwas hinzufügen kann. Dabei äußert sich Friedls Überzeugung, dass die Produktion von Kunst "[…] den utopischen Aspekt im Gegenwärtigen umkreist" (S. 53). Auch in der im Magazin vierte hilfe. Illustrierte Theorie für das Dienstleistungsproletariat erschienenen Rezension "Arbeit und ihre Nation" versucht Friedl, in Auseinandersetzung mit Harun Farocki und Jean-Luc Godard Bilder von Arbeit zu hinterfragen. Es wird deutlich, dass Friedl Fotografie und Film generell als ein "Ver-orten" versteht. In dem Text "Vordergrund macht Bild gesund" formuliert Friedl etwa eine kleine Filmtheorie des Hintergrunds im dokumentarischen Film, der laut Friedl zwischen zwei Polen verlaufe: einerseits als Eroberung oder Diebstahl von Bildern des Wirklichen und andererseits als Rückschreiten in die Vergangenheit. Der Hintergrund bleibe so entweder ein unbeachtetes Hinten oder eine Reserve des Nicht-Erinnerten; des Nicht-Erzählten (S. 67). Diese von Friedl etwas krude Überlegung zum Verhältnis von Bildvorder- und Bildhintergrund – von Einstellung und Kamera – wird vielleicht erst richtig in der Auseinandersetzung mit seinen Filmen verständlich.

Die Beschäftigung mit Friedls filmischen Arbeiten macht zunächst den Einfluss seines Studiums in München deutlich – insbesondere jenen der Seminare Helmut Färbers, welchem Friedl 2007 einen Text widmete. In "Ein Herangehen von Helmut Färber" schreibt Friedl von einer besonderen Prägung, die von Färbers Seminaren ausgegangen sei, welche sich auch in der Betrachtung seiner konkreten Arbeit am Film zeigt: "Kamera und Schneidetisch haben eine gegenseitige Zugehörigkeit." (S. 75) Dabei geht es besonders um ein von Färber gelerntes Sicheinlassen auf die Bilder, darum, diese als konkrete Dinge oder Gegenstände wahrzunehmen und aus ihnen eine Kritik der Bilder oder besser eine Kritik mit Bildern abzuleiten. "Es ist Teil der Vereinbarung, sich auf das Sichtbare einzulassen. Das Sichtbare meint hier beides. Die Dinge, die in der Welt sind; die Dinge, die wir im Kino sehen." (S. 76)

Der Wunsch, jene kritischen Potentiale der Bilder herauszuarbeiten, oder anders formuliert: die Idee einer mit Bildern vollführten Kritik, wird, jenseits von Friedls ersten Arbeiten MDW (1992) und AVID (1994), insbesondere in Knittelfeld sichtbar. Es zeigt sich eine Tendenz zu strenger Bildkomposition, welche sich nicht nur in dem im Arbeitsbuch veröffentlichten Drehbuch zu Knittelfeld schon andeutet, sondern die darüber hinaus durch das Gespräch mit Friedls damaligem Kameramann Rudolf Barmettler deutlich wird. Überaus produktiv für eine filmtheoretische Auseinandersetzung mit Friedls Filmen erscheinen auch Barmettlers Aussagen zum Kameraschwenk, der in Friedls Filmästhetik ab Knittelfeld eine besondere Rolle einnimmt.

Denn trotz einer eher als chaotisch beschriebenen Produktionsweise schien Friedl sehr genau zu wissen, wie seine Filme eine Einstellung vorzunehmen haben – auch wenn er nicht immer in der Lage war, dies zu kommunizieren, wie es die damalige Produktionsassistentin Ivette Löcker im Interview beschreibt. Diskussionen über die Position der Kamera, die Einstellung, Länge und das Ziel des Kameraschwenks waren ein mühsamer Prozess in der Arbeit an Friedls Filmen (vgl. S. 121). Dass sich das Produktionsteam dabei vereinzelt als Landvermesser*innen ausgeben musste, um fehlende Drehgenehmigungen zu rechtfertigen, scheint in Anbetracht der Filme und ihrer die Orte abtastenden Bilder eine passende Anekdote. Das "Ver-orten" und "Ver-messen" durch den Einsatz von Schwenks zeugt von der Fähigkeit der Kamera, "dass man mit einer Bewegung etwas zusammenbringt" (S. 127) – eine "Anti-Montage" im Raum, die es erlaube, verschiedene räumliche Situationen in einer Einstellung sichtbar zu machen. Der Schwenk gebe dem Schauplatz etwas Sequenzielles, so Friedl: "Ein Schwenk ist interessant, weil er fast eine Form von Schriftlichkeit hat" (S. 141) – eine Operation, die im Vorfeld einer Planung, einer "Lektüre des Ortes", bedarf. Man könne nur filmen, "[…] was man verstanden hat. Man muss Orte beobachten, sehen, wo die Leute herkommen, wo sie hingehen, wie schnell sie es machen, und warum langsam zu anderen Zeiten" (S. 142).

Der Arbeitstitel des Amerongen-Projekts, "Tote Arbeit", verdeutlicht das schon zuvor beschriebene Interesse an Bildern von Arbeit und Ökonomie. Ausgehend von der Geschichte der Industriellen-Familie Flick möchte Friedl laut Projektbeschreibung Orte der Wirtschaft, der Schwerindustrie und des Finanzkapitals in assoziativen Bildern sichtbar machen, wobei Friedl den Film hier als Ausdruck eines Spannungsverhältnisses sieht, "das Sichtbare […] als eine Äußerung des Unsichtbaren zu begreifen" (S. 158). Anhand der für das Arbeitsbuch zusammengetragenen Materialen zu Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikt begangen? ergibt sich noch ein weiteres wichtiges Moment in Friedls Werk: das stetige Auseinander- und Zusammenfallen von Bild und Ton – von lakonischem Kommentar und komponierten Schwenkmontagen. In einem Brief an den WDR-Filmredakteur Werner Dütsch, welcher nach Knittelfeld auf Friedl aufmerksam wurde, bezeichnet Friedl das Verhältnis von Bild und Ton für Zuschauer*innen als scheinbar zufällig oder beliebig. Gerade darin liegt das Konzept in Friedls Arbeit mit Ton: in der Herstellung von "singulären, nicht-linearen Momenten" (S. 138).

Die E-Mails zum Film zeugen von einem schwierigen Produktionsprozess. Rudolf Barmettler verließ das Projekt kurz nach Beginn – Friedl drehte selbst weiter, teilweise mit Kamera-Assistent Frank Stürmer, und auch der Schnitt dauerte länger als geplant. Nach mehreren Fristverlängerungen der Abgabe beim WDR erschien der Film dann aber doch. Bemerkenswert ist ein E-Mail, das Friedl 2006 nach einer Diskussionsveranstaltung zum Thema "Dokumentarische Positionen" an Nicolas Wackerbarth schickte. Hier bezieht sich Friedl auf Walter Benjamins Idee einer operativen Literatur – einer Literatur, die politisch einem Zweck bzw. einer Wirkung verpflichtet ist. Dieses Konzept des Operativen – eines spezifischen strategischen Einsatzes des Films – sieht Friedl in Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikt begangen? verwirklicht. Gerade durch die Arbeit mit Techniken der Verschiebung und der Assoziation entstehe so ein operatives Gefüge, das jedoch auch ein "produktives Publikum" (S. 196) benötige. Friedls Vorstellung eines operativen, handelnden Films erinnert stark an den von Harun Farocki in den frühen 2000er Jahren für zweckgebundene maschinelle Bildproduktion entworfenen Begriff der "operativen Bilder".

In den zusammen mit der Künstlerin Laura Horelli erarbeiteten Projekten The Frontier Owners (2009) und Shedding Details (2008) äußert sich, nach einer gemeinsamen Residenz in den USA, ein ambivalentes Verhältnis von Gerhard Friedl zur Bildenden Kunst. Einerseits schien er angezogen von der theoretischen, recherchebasierten Arbeitsweise, gleichzeitig zeugt insbesondere das im Buch geführte Interview mit Horelli von einer Unsicherheit und Ablehnung gegenüber den Präsentationsmöglichkeiten von Film und Video in der Bildenden Kunst, wie ebenfalls eine gescheiterte Vorführung von Shedding Details auf der Venedig-Biennale 2009 zeigt. Die Skripte und Notizen zu den zwei unvollendeten Filmprojekten Panik von 94 (2005–2008) und Buffalo, New York (ab 2008) bieten wiederum thematische Anschlüsse an Friedls vorherige Arbeiten. Die intensiven historischen Recherchen zu Arbeitskämpfen, industrieller Produktion und den Verstrickungen von Politik und Wirtschaft erscheinen als vielversprechende Projektentwürfe. Die sehr spezifische Suche nach passenden Bildern von Orten – dem "Ver-orten" – wird hier nochmal besonders deutlich. Die den Band begleitenden Produktionsfotografien und zusammengesetzten Schwenks aus Friedls Filmen geben von dieser Suche nach Bildern einen besonders gelungenen und anschaulichen Eindruck.

Für eine gegenwärtige filmwissenschaftliche Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Dokumentarfilm und experimentellen Erzählformen stellt das Arbeitsbuch nicht nur eine "Materialbiografie" zur Verfügung, sondern es ist darüber hinaus eine wichtige Fallstudie für die Identifikation einer Tendenz im Dokumentarfilm, die, mit Harun Farocki gesprochen, die Bilder achtet, indem man sie anstrengt. Hier bietet sich ein Anschluss der Praxis Friedls an Theorien zum politischen Landschaftsfilm, sowie dem auch durch Jacques Rancières Filmtexte populär gewordenen Begriff der "dokumentarischen Fiktion" an. Dabei ist die Stärke des Buchs gerade, dass diese theoretischen Interpretationen ausbleiben und durch die Versammlung der Materialien eingehend gezeigt wird, wie man Filmtheorie und Filmwissenschaft auch ausgehend von der Praxis des Filmemachens selbst denken kann.

Autor/innen-Biografie

Jan-Hendrik Müller

Studium der Kulturwissenschaften, Theater- Film und Medienwissenschaft sowie Critical Studies an den Universitäten Klagenfurt und Wien, sowie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Seit 2019 nach langjähriger Mitarbeit im Filmarchiv Austria sowie der Filmsammlung des Österreichischen Filmmuseum Universitätsassistent (PraeDoc) an der Professur Theorie des Films am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften der Universität Wien. Forschungsinteressen sind politischer Essay- und Dokumentarfilm, Filmmuseen und Archive, wie Film an der Schnittstelle zur bildenden Kunst.

Aktuelle Publikationen:

Jan-Hendrik Müller: "(K)ein ganz normales Unternehmen. Die Kiba, sozialdemokratische Kinopolitik und das Erbe des Roten Wien." In: KINO WELT WIEN: Eine Kulturgeschichte städtischer Traumorte. Hg. v. Martina Zerovnik. Wien 2020.

Downloads

Veröffentlicht

2020-05-25

Ausgabe

Rubrik

Film