Volker Pantenburg: Aggregatzustände bewegter Bilder.
Berlin: August 2022. ISBN: 978-3-94136-095-2. 270 Seiten, 22,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-10Abstract
Das Kino befindet sich seit geraumer Zeit in einem Transformationsprozess. Digitalisierung, neue Aufnahme- und Abspielmedien sowie Plattformen bedingen die zahlreichen Entgrenzungen unterschiedlichster Existenzformen bewegter Bilder. Studien zu diesem "flüssigen" Zustand des Kinos, dessen "Remediation" (Bolter/Grusin) und "Relocation" (Casetti) finden sich in den letzten Jahren zuhauf. Unter dem vieldeutigen Begriff "Post-Cinema" werden zahlreiche Praxen des "verteilten Bildes" (Rothöhler) und Umdeutungen des Bild-Begriffs zwischen Filmkultur, Streaming und neuen Rezeptionsformen ausdifferenziert. Um den Blick am Spannungsverhältnis von Kino, Filmkunst und Museen zu schärfen, schränkt Volker Pantenburg gleich zu Beginn seiner Studie Aggregatzustände bewegter Bilder den Blick auf den Begriff "Post-Cinema" ein. Der "Pendelverkehr zwischen dem Kino als traditionellem Dispositiv des bewegten Bilds und dem Museum mit seiner spezifischen, immer wieder neu auszuhandelnden Konfiguration von Zeit und Raum" (S. 13), steht im Zentrum der Texte und eröffnet einen weitreichenden und erhellenden Blick auf die Geschichte und Gegenwart der nicht immer einfachen Konstellation von Black Box und White Cube. Mit diesem Fokus steckt Pantenburg ein Themenfeld ab, das einerseits in den Diskursen um Post-Cinema und dessen Konzentration auf Neue Medien und Games vernachlässigt scheint1, und bezieht sich andererseits auf gegenwärtige Diskussionen, die innerhalb Filminstitutionen, Museumssammlungen und Kunstkritik geführt werden. Das Buch eröffnet damit, abseits medientheoretischer Begriffsdiskussionen, einen wohltuenden Blick auf praktische wie theoretische Fragestellungen und thematisiert, inwiefern heutzutage aus unterschiedlichen filmwissenschaftlichen, kuratorischen und künstlerischen Perspektiven konzeptuell mit dem sich verändernden Dispositiv Kino umgegangen werden kann.
Das Buch unterteilt sich in drei Abschnitte: "I. Ökonomien von Aufmerksamkeit und Erfahrung", "II. Zum Bewegtbild zwischen Kino und Museum" und "III. Kuratorische Fragen". Bei den darin enthaltenden 17 Beiträgen handelt sich ausnahmslos um bereits veröffentlichte Texte aus einem Zeitraum von 2010 bis 2020. Vier Texte erscheinen erstmals in deutscher Übersetzung. Diese Anhäufung von Veröffentlichungen aus wissenschaftlichen Zeitschriften, Katalogen oder Internetplattformen hat variierende Textformen, -stile und -längen zur Folge. Vereinzelt neigen die Texte daher in der Verwendung der hervorgebrachten Argumente, Theoriebezüge und besprochenen Beispiele zu Wiederholungen. Das erste Kapitel vereint mit seinen drei theoretisch ausgerichteten Texten einige Debatten und Fragestellungen zum gegenwärtigen "Aggregatzustand" des Bewegtbildes. Die zehn Texte des zweiten Kapitels stellen in Form kritischer Text-Miniaturen eine Bandbreite an filmischen Arbeiten und kinematographischen Installationen im Kontext von Kino und Ausstellungsraum vor. Im abschließenden dritten Kapitel hingegen werden anhand von vier Texten kuratorische Fragen diskutiert und ein Ausblick auf mögliche Umgangsweisen mit zuvor in Theorie und Fallbeispielen erläuterten Problemstellungen gegeben.
Die vielfältigen Ökonomien von Aufmerksamkeit und Erfahrung werden im ersten Kapitel zum theoretischen Ausgangspunkt gesetzt, um den Strukturwandel des Kinos zu verstehen. Film begegnet uns mittlerweile an verschiedenen Orten und in ganz unterschiedlichen Konturen. Diese Entgrenzung des Kinos verfolgt Pantenburg in den folgenden Texten anhand zweier Bewegungen. Einerseits werden die Verschiebungen von Film zu Kunst bzw. Kino zu Ausstellungsraum betrachtet, andererseits die Loslösung des Filmischen vom Kino ins Private und dessen neuen Trägermedien. Genau diese Verschiebungen des Kinos führen zu neuen Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen von Bewegt-Bildern. Um eine historische Kontextualisierung dieser Transformationsprozesse bedacht, beschreibt Pantenburg die Veränderungen des Kinos in drei Etappen: 1. Expanded Cinema, 2. Museum als Erfahrungsraum und 3. der Flaneur als Typus des Museumsbesuchers. Der anti-institutionelle Impuls des Expanded Cinema der späten 1960er und 1970er Jahre ist Antrieb für die Migration des Kinos in andere Räume. Das Kino ist hier noch stark an den Analogfilm und an dessen verbindliche Zeitlichkeit in der Projektion gebunden. Die Konjunktur des Ausstellungskinos in den 1990er Jahren löst hingegen eine klar definierte Zeitspanne der Rezeption auf. Flexibilität, Beweglichkeit und Zerstreuung treten anstelle einer konzentrierten Rezeptionssituation. Diese Veränderung, von Pantenburg als "prekäre Dialektik von Aufmerksamkeit und Zerstreuung" (S. 33) bezeichnet, stellt ein Kernthema des ersten Kapitels dar. Obwohl der mobile Ausstellungsbesucher frei ist, "immer auch etwas anders sehen zu können" (S. 31), muss sogleich vor einer Überbewertung der Reflexionsfähigkeiten des Museumsbesuchers als kurzweiliger Flaneur gewarnt werden. Flexibilität heißt nicht zwangsläufig Reflexivität. Insbesondere wenn diese in sich ambivalenten Kategorien Teil unseres gegenwärtigen Medienalltags sind. Die Differenz von Kino als Ort eines "puristischen" analogen Experimentalfilms und dem Museum als Ort (häufig digitaler) Installationskunst verläuft demnach immer zwischen der Frage nach unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi (konzentriert oder flexibel) und divergenten Raum- und Zeiterfahrungen. Anhand Douglas Gordons Installation 24 Hour Psycho (bzw. Don DeLillos Lesart in seinem Roman Point Omega) verdeutlicht Pantenburg anschaulich, dass es im Oszillieren zwischen Konzentration und Zerstreuung immer um die Frage der eigenen Nutzung geht und mehrere mögliche Herangehensweisen an eine Film- oder Video-Installation existieren. Die Aufgabe der Filmwissenschaft müsse es daher sein, das komplizierte Verhältnis unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen zu identifizieren und zu kontextualisieren. Auch wenn dies nicht einfach erscheint denn, die "Proliferation von Filmen in die unterschiedlichsten Kanäle hat diese Fragen eher vervielfacht, als sie zu beantworten" (S. 70). Eine Kritik jener Konzepte, die die Mobilität der Rezipient*innen überschätzen, bleibt für Pantenburg jedoch unabdingbar: "Warum ein umherwandelnder Besucher reflektierter, kritischer oder alerter sein solle als ein Zuschauer in seinem Sessel, blieb entweder undeutlich oder verdankte sich einer problematischen Gleichsetzung von körperlicher mit gedanklicher oder reflexiver Aktivität" (S. 54).
Anhand von zehn unterschiedlichen Beispielen werden im zweiten Kapitel die zuvor ausgeführten Problemstellungen nochmal verdeutlicht. Die mitunter sehr kurzen Texte decken ein weites Feld unterschiedlicher künstlerischer Arbeiten und Zeiträume ab. Die gelungenen und plastischen Beschreibungen der Arbeiten ermöglichen es, den verhandelten Argumenten gut zu folgen. Dazu tragen ebenfalls die schon erwähnten Wiederholungen von Denkfiguren bei, die jedoch keinesfalls stören, sondern vielmehr eine Verortung der thematisch weitreichenden Fallbeispiele ermöglichen. So wird anhand Yvonne Rainers Filmen wie Journeys from Berlin/1971 (US/UK/DE 1980) und The man who envied women (US 1985) oder auch anhand Jean-Luc Godards Ausstellung "Voyage(s) en utopie" (2006) verdeutlicht, inwiefern die schon in Kapitel 1 angesprochenen Umbrüche im Avantgarde- und Experimentalfilm Rückschlüsse auf die veränderte Bedeutung von Bewegt-Bildern zulassen. Wie in Museen mit Projektionsdispositiven und Anordnungen von analogen wie digitalen Filmen umgegangen wird, kann hingegen anhand Sharon Lockarts Arbeiten und einer Ausstellung von Luis Recorder und Sandra Gibsons erfahren werden. Doch auch Möglichkeiten der Nutzung erweiterter kinematographischer Räume für Geschichte und Geschichtsforschung werden anhand Maya Schweizers Arbeiten oder Yael Bartanas Filmen erörtert. Die Texte sind sinnvoll angeordnet und bieten einen beispielhaften Überblick zu den zuvor ausgeführten Debatten. Das zweite Kapitel endet insofern konsequent. Nur wenige Filmemacher*innen widersetzen sich so beharrlich der Vereinnahmung durch digitale Distributionsimperative wie Robert Beavers. Dieser versteht das Kino als bestmöglichen Rezeptionsraum von analogem Film und sein Versuch, absolute Kontrolle über sein Werk zu behalten, lässt gegenwärtig eine unerhörte und sogleich verheißungsvolle These erahnen: Nicht alles muss permanent verfügbar sein.
Im dritten Kapitel werden nochmal vorherige Diskussionen aufgegriffen, um einen erweiterten Blick auf die zuvor skizzierte Dichotomie "Film/Modernismus" und "Video/Postmoderne" zu geben. Pantenburg stellt die Frage, "wie angesichts einer zunehmenden Hybridisierung von Medien und der Kopräsenz denkbar unterschiedlichster Bewegtbilder im Ausstellungsraum und im Alltag über die je eigentümlichen Formen und Bedingungen der Bilder nachgedacht werden kann" (S. 206). Hier verschränken sich kuratorische Fragestellungen zur Ausstellung und Projektion von Bewegtbild zwischen Kino und Museum mit archivarischen Praxisfragen im Umgang mit Sammlungen: Was passiert mit den Abspielgeräten alter Medien? Dient die Digitalisierung dem Zugang oder der Archivierung? Und was passiert mit den originären Trägermaterialien? Pantenburg schlägt hier ein Verständnis von Kuratieren vor, das im Wust der Bewegt-Bilder Kontext und Zusammenhänge liefern sollte: "Die kuratorische Aufgabe könnte sein, für genau das zu sorgen, was in der Migration durch die digitalen Plattformen verlorengeht; die Werke in ihren historischen, technologischen und sozialen Zusammenhängen zu präsentieren und für die Rahmenbedingungen zu sorgen, dies angemessen wahrnehmen zu können" (S. 214). Inwiefern dies scheitern kann, zeigt die Auseinandersetzung mit der Ausstellung "Zelluloid. Film ohne Kamera" in der Frankfurter Kunsthalle Schirn. Die angeführten Probleme von Film im Museumsraum (schlechter Ton, zu helle offene Räume und mittelmäßige Filmtransfers von DVD) sind aus Museumsbesuchen bekannt. "Wir haben diese Filme nicht, aber in der Projektion tun wir so, als hätten wir sie" (S. 248), schließt Pantenburg nicht ohne Polemik mit manch einer kuratorischen Entscheidung ab. So ist Aggregatzustände bewegter Bilder durchaus als ein Plädoyer zu lesen mit dem Imperativ, der Installation und der damit verbunden Mobilität, Flexibilität und Ästhetik des Nebeneinanders etwas mehr zu widerstehen. Das Kino sollte als kuratorischer Raum wieder stärker in den Fokus rücken um, "dem Magnetismus des Museums zu widerstehen und die Filme an ihrem angestammten Ort zu zeigen: im Kino. […] Dabei müsste der kuratorische Imperativ, ein Werk in seinen zeitlichen, räumlichen und medialen Anforderungen so angemessen wie möglich zu präsentieren, erst recht jetzt gelten, wo ein Großteil der Bilder des Kinos im Internet und auf zahllosen mobilen Geräten zirkuliert." (S. 254)
Aggregatzustände bewegter Bilder bietet eine verständliche und nachvollziehbare Sammlung an kritischen wie theoretischen Texten zum "flüssig" gewordenen Bewegt-Bild. Die Konzentration auf die Beziehung von Kino und Ausstellungsraum erscheint für eine Abgrenzung vom Begriff "Post-Cinema" nicht nur wichtig, sondern essentiell für die mit Hintergrundwissen gespickten Verortungen der Fallbeispiele und Debatten. Die Wandlung des Experimentalfilms vom Structural Film über Expanded Cinema und Ausstellungsfilm zu Clips auf YouTube bedarf insofern weiterer Untersuchungen. So ist das Buch auch als ein Appell an die Filmwissenschaft zu verstehen, nochmal genauer das eigene Verhältnis zur Geschichte experimenteller Filmpraxen in den Blick zu nehmen und sich nicht vor den Diskussionen in Museen, Kinematheken und Kunstkritik zu verschließen.
Anmerkungen:
1 Siehe bspw. Post-Cinema-Studien und deren Fokus auf die Übergänge von Kino, Neuen Medien und Games: Casetti, Franceso: The Lumiere Galaxy. 7 Key words for the cinema to come. New York: Columbia University Press 2015; oder: Denson, Shane/Leyda, Julia (Hg.): Post-Cinema: Theorizing 21st Century Film. Sussex: Reframe Books 2016.
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