Susan Lord/María Caridad Cumaná (Hg.): The Cinema of Sara Gómez. Reframing Revolution.
Bloomington: Indian University Press 2021. ISBN: 9780253057051. 440 Seiten, Preis: $ 40,00.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-10Abstract
Seit einigen Jahren trägt ein gesteigertes Interesse gegenüber bisher übersehenen Filmbewegungen und Filmemacher*innen des militanten und dekolonialen Kinos zur Veröffentlichung einer Vielzahl an Publikationen, Filmprogrammen und Forschungsprojekten bei. Die Beschäftigung mit dem kubanischen Kino der 1960er Jahre verlief dabei bisher über die bekannteren Regisseure und Gründungsmitglieder des post-revolutionären kubanischen Filminstituts‚ Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos (ICAIC) wie Thomás Gutiérrez Alea, Santiago Álvarez oder dem für sein Manifest Por un cine imperfecto bekannten Julio García Espinosa. Eine Anerkennung der Teilhabe von Filmemacherinnen an den filmpolitischen Umbrüchen des von Fernando Solanas und Octavio Getino 1968 verkündeten dritten Kinos findet erst seit wenigen Jahren statt. Regisseurinnen wie Sarah Maldoror, Safi Faye oder eben auch Sara Gómez wären hier als wichtige Vertreterinnen für eine Neubewertung der Geschichte des dekolonialen Kinos der 1960er und 1970er zu nennen. Der von Susan Lord und María Caridad Cumaná herausgegebene Sammelband The Cinema of Sara Gómez. Reframing Revolution versucht genau eine dieser filmhistorischen Lücken zu schließen.
Die Filme von Sara Gómez fanden zuletzt eine neue Öffentlichkeit durch die vom Arsenal – Institut für Film- und Videokunst angefertigte Restauration ihres einzigen Spielfilms: De Cierta Manera (1974). Ebenfalls widmeten sich zwei Retrospektiven auf den Festivals Il Cinema Ritrovato (2021) sowie wenig später auf derViennale (2021) den kürzeren Dokumentarfilmen von Gómez. Die Veröffentlichung der Ergebnisse des fast zehn Jahre andauernden Forschungsprojektes kam hier zum rechten Zeitpunkt. Das kompakte Werk der 1974 jung verstorbenen Regisseurin und Autorin Gómez, ist für die Herausgeberinnen Lord und Caridad Cumaná Ausgangspunkt für eine tiefgehende Beschäftigung mit dem kubanischen Kino und den zahlreichen Aktivitäten am ICAIC. Erstmalig wurden Texte von und zu Gómez ins Englische übersetzt. Im europäischen Kontext oft nur als Randfigur wahrgenommen – insbesondere durch eine Regieassistenz bei der Produktion von Agnès Vardas Salut le Cubains (1963) – wirft The Cinema of Sara Gómez einen Blick auf Gómez Filmarbeit zwischen Journalismus, Dokumentation und Spielfilm. Dabei hegt der Sammelband ein besonderes Interesse an den, im Zuge der politischen Umbrüche Kubas angestellten, Versuchen, das Kino als Instrument der Dekolonisierung zu nutzen. Diese politische Vereinnahmung des Kinos verläuft bei Gómez, wie Susan Lord in ihrer Einleitung feststellt, insbesondere entlang der Themen Gender und Race:
"The degree of self-reflexivity in her films is consistant with a radical, autoethnographic, feminist, and experimental cinema." (S.12).
Der Band gliedert sich in siebzehn sehr unterschiedliche Kapitel. Eher inhaltlich als nach Textgattung geordnet, montiert er filmwissenschaftliche Texte, diverse Interviews mit Gómez Zeitgenoss*innen, zahlreiche Dokumente (u.a. das Filmskript von De Cierta Manera) sowie einen filmtheoretischen Text von Gómez selbst. Das Buch ist dahingehend eine umfangreiche Materialsammlung, die trotz fehlendem Ordnungsprinzip einen durchaus eingängigen Einstieg in Gómez‘ Werk, ihre Arbeitsweise und das intellektuelle Umfeld des ICAIC ermöglicht. Der in den wissenschaftlichen Texten immer wieder unternommene Versuch Aktualität herzustellen, wird gerade in Susan Lords abschließendem Text durch den Vergleich von Gómez Filmen mit den jüngeren Arbeiten der kubanischen Regisseurin Gloria Rolando deutlich.
Die filmwissenschaftlichen und filmhistorischen Texte zu Gómez Werk nehmen teilweise sehr unterschiedliche Perspektiven ein. Während sich Victor Fowler Calzada sehr genau mit den Unterschieden des Skripts von De Cierta Manera und dem tatsächlich realisierten Film beschäftigt, befindet sich im Band ebenfalls ein allgemeinerer aber umso erhellender Beitrag von Joshua Malitsky über das ICAIC und die Produktion politischer Lehrfilme im Kuba der 1960er. Alan West-Duràn thematisiert hingegen ausführlich den Musikstil Rumba, der in allen von Gómez Filmen ein wiederkehrendes Motiv darstellt und dabei auch von der Bedeutung der afro-kubanischen Kultur für ihre Filme berichtet. Begleitet wird der Artikel ebenfalls von dem Wiederabdruck eines 1964 von Gómez für die Zeitschrift Cuba, Revista mensual produzierten Fotoessays mit dem Titel La Rumba. Trotz der teilweise sehr eklektischen thematischen Sprünge zwischen den Beiträgen, werden die in den Texten von Susan Lord, Ana Serra, Devyn Spence Benson und Odette Casamayor-Cisneros thematisierten politischen und filmästhetischen Positionen von Gómez eingehend ausgeführt. Die von Gómez verhandelten Themen, des auch nach der Revolution anhaltenden Rassismus, die Emanzipation von Frauen innerhalb einer Machismo-Kultur und die immense Bedeutung von Volksbildung für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Landbevölkerung, können verständlich anhand der Beiträge nachvollzogen werden.
Die Interviews mit Mitarbeiter*innen von Gómez bereichern den Band um eine biographische Perspektive. Wirken diese mitunter etwas anekdotisch, so sind sie dennoch eine sinnvolle Erweiterung der filmhistorischen Ausführungen. Insbesondere die Interviews mit dem Kameramann Luis García Mesa und dem Editor Iván Arocha Montes de Oca bieten, durch ihre Kontextualisierung der Arbeit am ICAIC und der Reflexion über die oft nicht immer einfachen materiellen Bedingungen in der Produktion der Filme, eine spannende Perspektive auf die kubanische Filmproduktion der 1960er Jahre. Beide Gespräche verweisen auch auf konservatorische Fragen der Filmarchivierung und die generelle Bedeutung des 16mm-Filmformats für die Produktionen des dekolonialen und militanten Kinos. Das Gespräch mit der kubanischen Schriftstellerin Inés María Martiatu Terry eröffnet hingegen einen Blick auf Sara Gómez afro-kubanische Herkunft und ihre Ausbildung während der Revolution in den späten 1950ern. Der Band schließt mit einem 1967 von Marguerite Duras geführten Interview mit Sara Gómez. Ein weiteres Mal zeigt sich die frührevolutionäre Überzeugung von Gómez an der Umsetzung einer neuen egalitären Gesellschaft beteiligt zu sein: "Revolution has confronted us with the responsibility of our intelligence, our commitment as thinking beings. In the case of women, this change is manifested in providing us a security – a kind of self-sufficiency that we did not possess before." (S. 400).
Dieser zeitbedingte revolutionäre Duktus ist wenig überraschend und ebenfalls in den von Gómez verfassten Dokumenten wiederzufinden. Trotzdem sind es gerade diese Materialien – abseits der sehr schönen im Band abgedruckten Fotografien aus dem Archiv des ICAIC – die für eine filmwissenschaftliche Recherche zum politischen Dokumentarfilm und den Strategien des militanten Kinos nützlich sind. In Sara Gómez Pamphlet "We have a vast Public" (im Original: "Los documentalistas y su convicciones") 1970 in der kubanischen Zeitschrift Pensamiento Critico veröffentlicht, wird deutlich, inwieweit sie das Kino als eine agitative Form politischer Pädagogik versteht. Ähnlich zum Agit-Prop des frühen sowjetischen Films geht es Gómez um die Verbindung von Ästhetik und Politik. Dafür müssen sich Filmemacher*innen jedoch eindeutig politisch verorten. Sie schreibt: "The cinema, for us, will inevitably be biased; it will be determined by awareness; it will be the result of a determined attitude when we confront our problems, when we confront the necessity of decolonizing ourselves politically and ideologically, and of freeing ourselves of traditional values whether economic, ethical, or aesthetic." (S. 32). Die ideologischen Implikationen dieser Aussagen, mögen zuweilen befremden, verdeutlichen jedoch gerade als historische Quellen, inwiefern die Filme des dekolonialen und militanten Kinos durch ihre politisch-polemische Aussagefunktion so ausdrucksstark auftreten konnten. Diese politische Entschiedenheit tritt ein weiteres Mal in dem abgedruckten Skript zum Spielfilm De Cierta Manera auf. In den zahlreichen Regieanweisungen wird deutlich, inwiefern dokumentarische und fiktionale Formen sich im Film durchdringen und dadurch an einem "unterhaltenden"aber eben auch "didaktisch wertvollen" Film mitschreiben. Gómez bezeichnet diese Form auch als "didactic documentary", " […] the intent will be to make it clear, informative and entertaining without allowing these qualities to limit its theoretical rigor. " (S. 155).
Mit The Cinema of Sara Gómez. Reframing Revolution wird eine wichtige Neubewertung der Geschichte des kubanischen Kinos vorgenommen. Durch die zahlreichen Referenzen zu Goméz Wegbegleiter*innen, ihrer Arbeit am ICAIC und den vielfältigen Zugängen zu ihrem Werk, kann der Band – auch im Hinblick auf die entstandenen Restaurierungen ihrer Filme – als Beitrag zu einer noch ausstehenden Geschichte des militanten Kinos verstanden werden. Die Vergegenwärtigung anderer vergessener Filmemacher*innen des 20. Jahrhunderts könnte ausgehend von The Cinema of Sara Gómez weitergedacht werden.
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