Jens Eder / Britta Hartmann / Chris Tedjasukmana: Bewegungsbilder. Politische Videos in Sozialen Medien.

Berlin: Bertz und Fischer 2020. ISBN: 978-3-86505-750-1. 128 Seiten, 10 Abb., 10,00 €.

Autor/innen

  • Jan-Hendrik Müller

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-07

Abstract

Der rege Einsatz sozialer Medien für politische Mobilisierungen ließ sich auch im vergangenen Jahr 2020 vermehrt beobachten. Beispiele für das Wirken von Videos auf Facebook, Twitter und YouTube sind innerhalb eines sehr breiten politischen Spektrums zu finden: Von progressiven Protestbewegungen wie Black Lives Matter bis zu dem Pandemie-bedingten Erstarken verschwörungstheoretischer Gruppen wie Q-Anon oder der rechtsextremen Identitären Bewegung. Schon seit dem Arabischen Frühling 2011 wird in Feuilleton und Wissenschaft der Einsatz und Nutzen von Bildern im Internet für Formen des politischen Protests thematisiert. Eine differenzierte Betrachtungsweise der unterschiedlichen politischen Akteure und ihrer Mediennutzung zwischen manipulativer Propaganda und zivilgesellschaftlichem Aktivismus erfolgt in diesen Debatten oft nur partiell. Bewegungsbilder. Politische Videos in Sozialen Medien stellt im Hinblick auf die Prominenz des Themas eine schon länger überfällige Rahmung aus film- und medienwissenschaftlicher Perspektive im deutschsprachigen Raum dar. Denn konnte man in den letzten Jahren immer wieder Artikel und Publikation über Formen eines gegenwärtigen aber auch historischen Medienaktivismus finden, so fokussierten sich diese meist auf spezifische Fragestellungen und Phänomene (bspw. Snowdon 2020; Zutavern 2015) oder gaben als Sammelbände einen Blick auf mitunter sehr unterschiedliche Aspekte der Politiken des Dokumentarischen und insbesondere des Dokumentarfilms (bspw. Büttner/Öhner/Stölzl 2018; Hoffmann/Wottrich 2015).

Das von Jens Eder, Britta Hartmann und Chris Tedjasukmana veröffentlichte Buch gestaltet sich als eine nachvollziehbare und wohl abgestimmte Einführung in das Thema. Basierend auf dem Forschungsprojekt Aufmerksamkeitsstrategien des Videoaktivismus im Social Web werden grundlegende Fragen zur Bedeutung von politischen Videos in Sozialen Medien gestellt und Ähnlichkeiten sowie Unterschiede zu vorherigen politischen Film- und Videoaktivismen dargelegt. Zentral in dieser Auseinandersetzung ist dabei die Frage nach der Argumentation und dem Wirken der politischen Videos, wenn diese "[…] Zuschauer*innen emotional bewegen und sie zum Handeln motivieren" (S. 7). Insofern ist es nur folgerichtig, dass gleich zu Beginn die schon erwähnten eher sinisteren medienpolitischen Äußerungen aus den Bereichen des Neonazismus, des Terrors und der verschwörungstheoretischen Fakes als Untersuchungsgegenstand ausgeschlossen werden. Zwar arbeiten diese mit ähnlichen Kommunikationsstrategien und Plattformen wie die im Buch thematisieren Videoaktivist*innen, teilen jedoch, wie im fünften Kapitel sehr schön dargelegt wird (vgl. S. 91), keine demokratische Grundlage im Sinne einer Teilhabe an medienpolitischer Vielfalt. Dadurch wird gleich zu Beginn deutlich: Videoaktivismus wird hier in Anlehnung an den Begriff Gegenöffentlichkeit verstanden, welcher wiederum radikaldemokratischen Prinzipien folgt.

Auf die notwendige Definition von Bewegungsbildern als "[…] audiovisuelle Bewegtbilder aus sozialen Bewegungen, die Menschen emotional und politisch bewegen sollen" (S. 11), folgen im zweiten Kapitel Die Macht politischer Videos weitere Erläuterungen über die Funktionen und Medienkontexte des Videoaktivismus im Netz. Die gleich zu Beginn herausgestellten vier Katalysatoren politischen Handelns sind für das weitere Verständnis besonders hilfreich. Videos im Netz "handeln" demnach: epistemisch, appellativ, affektiv und performativ. Eine produktive Unterscheidung für die Analyse aktivistischer Videos, die ebenso auf die historischen Vorläufer im Dokumentarfilm und im militanten Kino angewendet werden könnte. Aktivistische Videos in den sozialen Medien passen die "politischen Praktiken der Dokumentation, Bildung, Kritik, Mobilisierung, Selbstdarstellung und Selbstermächtigung den gegenwärtigen Medienumgebungen an" (S. 19), so die These. Folglich unterteilen die Autor*innen trotz heterogener Formenvielfalt in fünf verschiedene Typen politischer Videos: Zeugenvideos, Webdocs, Vlogs, Mobilisierungsvideos und Kommunikationsguerilla-Videos. Das diese Typen im Gegensatz zu ihren Vorgängern stark mit dem "hybriden Mediensystem" des "Social Web" verbunden sind, und daher auf einer neuen "Logik des konnektiven Handelns" (S. 22) basieren, erscheint zunächst offensichtlich, ist jedoch für ein Verständnis der "emotionalen Involvierung" und der "psychologischen Gruppendynamiken" (S. 25) im Internet unverzichtbar. Der diagnostizierte kommunikative Umbruch durch soziale Medien ist daher besonders durch die Macht der Algorithmen strukturiert. Für die Wirksamkeit politischer Botschaften im Internet stellt sich die Frage, wie Aktivist*innen die bestehenden Plattformen nutzen, Schlupflöcher suchen, um mit und gegen den Plattform-Kapitalismus zu arbeiten. Das sich dabei politische Videos verselbstständigen können, zu Falschinformationen führen und ethische Probleme sowie Diffamierungen mit sich bringen, ist nur ein Aspekt der von den Autor*innen immer wieder betonten Fragilität der vielfältigen Mediensituation aktivistischer Videos im Netz.

Im dritten Kapitel wird auf die Geschichte des politischen Dokumentarfilms eingegangen. Für ein Verständnis politischer Medien im Netz sind für die Autor*innen besonders die "ästhetischen Standortbestimmungen" sowie "ethischen Positionierungen" vergangener Konzepte des politischen Films von Interesse. Das Kapitel eröffnet einen Blick auf politisches Filmemachen seit den 1930ern und definiert die Forderung nach Repräsentation und nach politischer Haltung als eines der Hauptziele der medienaktivistischen Vorläufer. Eingebettet in soziale Bewegungen agitieren insbesondere seit den 1960er Jahren politische Filme und setzen in ihrem Politikverständnis neben einer anklagenden Beweisführung ebenfalls auf Partizipation. Die, in Auseinandersetzung mit den 1968 an der DFFB entstandenen Filmen aufgestellte, Unterteilung zweier Pole einer politischen Filmästhetik in "ästhetische" und "politische" Linke erscheint aus filmhistorischer Perspektive etwas zu verkürzt. Das filmtheoretische Beziehungsgefüge zwischen den Vorkriegsavantgarden und der Filmpolitik um 1968 ist wohlmöglich komplexer zu betrachten – zumal die Diskussion um eine "ästhetische" oder "politische" Linke zunächst als eine Debatte über Filmkritik in der gleichnamigen deutschen Zeitschrift geführt wurde. Dennoch ist die Unterscheidung für ein Verständnis von politischen Filmemachens wichtig, da die Streitfrage um eine "Ästhetisierung der Politik" oder eine "Politisierung der Ästhetik" auch für die, das dritte Kapitel abschließende, Thematisierung des frühen Videoaktivismus einen immer noch schwelenden Konflikt innerhalb der Debatten um Filmpolitik darstellt.

Das vierte Kapitel befasst sich mit den affektiven Wirkungen politischer Videos. Der "Impact", also jenes Vermögen, Aufmerksamkeit bei gleichzeitiger Beeinflussung zu schaffen, steht dabei eng in Verbindung mit kollektiven Prozesses der Aushandlung und Aneignung. Videos wie das erwähnte "Zerstörung der CDU" des YouTubers Rezo können kurzzeitig eine breite mediale Öffentlichkeit erlangen. Die Aufmerksamkeitsökonomie von Videoplattformen lässt einen Großteil politischer Videos jedoch im "long tail" des Internet verschwinden. Der Kampf um Aufmerksamkeit wird daraufhin sehr plausibel im Kontext der deutschen Migrationsdebatte im Jahr 2015 analysiert. So verdeutlichen die Autor*innen, dass sich NGO’s für einen Erfolg ihrer politischen Videos im Netz auf ähnliche Kommunikationsstrategien wie Werbekampagnen stützen müssen. Kollektive Emotionen und Affekte treiben Debatten, Diskurse aber besonders auch die Verteilung der Aufmerksamkeit an. Die verschiedenen eingesetzten Kommunikationsstrategien im Netz werden in "Produktionsstrategien", "Gestaltungsstrategien" und "Verbreitungsstrategien" unterteilt (S. 76). Um Emotionen hervorzurufen und "sharebility" sowie "spreadability" zu erwirken, wird wiederum in die Gestaltungsstrategien Zeigen, Erzählen, Miterleben, Argumentieren und Symbolisieren unterschieden. Die Distribution der Videos hingegen ist eng an eine Interaktion mit der Öffentlichkeit geknüpft: von der für die "crowd production" entscheidende Adressierung der Zuseher*innen bis zum strategischen "seeding" durch ausgewählte Multiplikatoren und Verlinkungen. Es wird deutlich, dass für die politischen Videos im Netz das Vermögen, eine Öffentlichkeit zu finden, entscheidend für ihren Erfolg ist.

Das fünfte Kapitel thematisiert in Auseinandersetzung mit Hannah Arendts politischer Theorie, Jürgen Habermas und agonistischen Modellen der politischen Theorie den Begriff der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit der sozialen Medien ist von diversen Machtgefällen, Affekten und Kämpfen um Deutungsmacht geprägt. Zwar eröffnen die Plattformen direkte Kommunikationswege, müssen sich jedoch gleichzeitig den automatisierten Zensur-Algorithmen unterordnen und die Verwertung ihrer Daten akzeptieren. Videoaktivismus in den sozialen Medien ist so nur im fragilen Gefüge von politischen Handlungsspielräumen und technischen wie ökonomischen Abhängigkeiten zu verstehen. Mit dem Beispiel der Black Lives Matter-Bewegung werden die komplexen Zusammenhänge von hybriden Mediensystemen und veränderter Öffentlichkeit für Formen des Videoaktivismus und ihrer Forderung nach Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft abschließend analysiert.

Bewegungsbilder führt anhand medienwissenschaftlicher Fragestellungen durch ein vielfältiges und nicht immer eindeutig zu bewertendes Feld zeitgenössischer und historischer Beispiele medienpolitischer Mobilisierung. In einer übersichtlichen und sehr verständlichen Weise werden Problemfelder erörtert und wichtige Fragen gestellt, ohne jedoch alle zu beantworten. Hierin liegt auch das Potential des Buchs, welches besonders durch seine Begriffsarbeit als eine gelungene Grundlage für weitere Fallstudien und Analysen der vielfältigen Formen zeitgenössischer wie historischer Bewegungsbilder dienen kann.

 

Literatur:

Büttner, Elisabeth/Öhner, Vrääth/Stölzl, Lena: Sichtbar machen – Politiken des Dokumentarfilms. Berlin: Vorwerk 8 2018.

Hoffmann, Kay/Wottrich, Erika (Hg.): Protest, Film, Bewegung. Neue Wege des Dokumentarischen. München: Edition Text + Kritik 2015.

Snowdon, Peter: The People Are Not an Image. Vernacular Video After the Arab Spring. London: Verso 2020.

Zutavern, Julia: Politik des Bewegungsfilms. Marburg: Schüren 2015.

Autor/innen-Biografie

Jan-Hendrik Müller

Studium der Kulturwissenschaften, Theater- Film und Medienwissenschaft sowie Critical Studies an den Universitäten Klagenfurt und Wien, sowie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Seit 2019 nach langjähriger Mitarbeit im Filmarchiv Austria sowie der Filmsammlung des Österreichischen Filmmuseum Universitätsassistent (PraeDoc) an der Professur Theorie des Films am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften der Universität Wien. Forschungsinteressen sind politischer Essay- und Dokumentarfilm, Filmmuseen und Archive, wie Film an der Schnittstelle zur bildenden Kunst.

Aktuelle Publikationen:

Jan-Hendrik Müller: "(K)ein ganz normales Unternehmen. Die Kiba, sozialdemokratische Kinopolitik und das Erbe des Roten Wien." In: KINO WELT WIEN. Eine Kulturgeschichte städtischer Traumorte. Hg. v. Martina Zerovnik. Wien: Filmarchiv Austria 2020.

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Veröffentlicht

2021-05-20

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Film