Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne.

Berlin: Suhrkamp 2020. ISBN: 978-3-518-29894-7. 709 S., Preis: € 34,00.

Autor/innen

  • Theresa Eisele

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-2-05

Abstract

Die Studie Das hybride Subjekt von Andreas Reckwitz ist nicht neu, sie wurde 2006 erstmals veröffentlicht und zählt seitdem zu den grundlegenden Beiträgen über westliche Subjektivierungsprozesse. Nun, 14 Jahre später, hat Reckwitz – Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität in Berlin – eine überarbeitete Neuauflage bei Suhrkamp veröffentlicht. Sie justiert Formalia und Begrifflichkeiten, nimmt einige Kürzungen vor, behält aber wesentliche Argumentationsmuster bei; weswegen sich auch die Frage stellt, was die Studie eineinhalb Jahrzehnte nach ihrer Erstveröffentlichung neu oder grundlegend zu Forschungsdebatten beizutragen hat und ob bzw. wie deren Erkenntnisse bis heute gültig sowie auch für die theaterwissenschaftliche Forschung fruchtbar sind – eine Relektüre.

2006 wie 2020 ist Reckwitz' Studie zu einer Theorie moderner Subjektkulturen umfangreich. Trotz einiger Kürzungen umfasst die Neuauflage 700 Seiten, auf denen der Autor eine Zeitspanne vom 18. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit durchmisst und dabei das unternimmt, was er selbst eine "Tour de Force durch die Kultur- und Sozialgeschichte des Westens" (Klappentext) nennt. Leitend ist die Frage nach der historischen Variabilität des modernen Subjekts sowie nach den "kulturellen Strukturen" (S. 9), Codes und Wissensordnungen, in denen sich Subjekte ausbilden, halten und verändern. Hierfür teilt Reckwitz die Moderne in drei Phasen, in denen sich je eigene Subjektformen als hegemonial herausgeschält hätten: Während die bürgerliche Moderne ein moralisch-souveränes Subjekt hervorbringt, skizziert die Studie für die organisiert-industrielle Moderne des frühen 20. Jahrhunderts ein Angestelltensubjekt, das wiederum in der Post- bzw. Spätmoderne vom kreativ-konsumtorischen Subjekt abgelöst wird.

Diese Dreiteilung strukturiert den Aufbau des Buchs, das chronologisch die Moderne voranschreitet. Zugleich verwehrt sich Reckwitz gegen eine teleologische Lesart seiner Studie, nimmt Rückbezüge sowie Querverweise zwischen den verschiedenen Subjektformen vor und interessiert sich zudem für "jene Strukturmerkmale des Vergangenen, welche auch in der Gegenwart" – etwa durch Wiederaneignung oder Abgrenzung – bedeutend sind (S. 11). Er weist immer wieder auf Brüche sowie Kontinuitäten der Subjektivierung hin und betreibt so eine Soziologie aus historisch informierter Perspektive. So ist die Studie etwa von der Überzeugung getragen, dass Merkmale des romantischen und bürgerlichen Subjekts auch unsere Gegenwart prägen; aktuelle Subjektivierungsmechanismen also nur mit Hilfe von historischer Expertise umfassend zu greifen sind. Im Detail beschreibt Reckwitz die Transformationen des Subjekts – vom "Charakter" über die "Persönlichkeit" zum "Selbst" (S. 28) – anhand von (sozialer) Praktik als einem geregelten Verhalten, das Wissen birgt und von Subjekten körperlich ausagiert sowie verinnerlicht wird ("embodied knowledge", S. 51). Konkret macht er drei Orte aus, an denen diese Praktiken im Zusammenspiel mit Diskursen und materialen Kulturen prägend werden: die Sphäre der Arbeit, der Intimität sowie die Technologien des Selbst.

Im Kapitel zur "Bürgerlichen Moderne und Romantik" dekliniert der Autor diese Praktiken und ihre subjektivierende Wirkung erstmals ausführlich durch. Er definiert Bürgerlichkeit wiederum aus praxeologischer Perspektive als ein "Netzwerk miteinander verknüpfter sozial-kultureller Praktiken" (S. 112) und fragt dann, wie sich anhand von Arbeits-, Ehe- oder Lesepraktiken eine frühbürgerliche Subjektordnung herausbildete. Reckwitz positioniert dabei bürgerliche und romantische Subjektkulturen als konkurrierende Versionen eines modernen Subjekts. Während Bürgerlichkeit eng mit Moral und Kontrolle über den eigenen Körper verknüpft sei, strebe ein romantisches Subjekt nach ästhetischer Entfaltung, Individualität und Expressivität. Beide grenzten sich gleichfalls von aristokratischen, proletarischen und kolonialen Lebensweisen ab.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts wird so ein Subjekt dominant, das "psychologisch-emphatische Innerlichkeit" (S. 157) pflegt und sich zugleich nach außen als "homo clausus" (Norbert Elias) modelliert. Unter anderem in den Praktiken der Ehe, Freundschaft und Liebe beschreibt Reckwitz die grundlegenden Merkmale eines bürgerlichen Subjekts als empfindsam, moralisch und zivilisiert, benennt aber gleichzeitig dessen Friktionen, etwa in punkto Geschlechtlichkeit. So zeigt sich die bürgerlich-aufgeklärte Freundschaft des 18. Jahrhunderts tendenziell geschlechtsindifferent, während parallel die Naturalisierung zweier Geschlechter diskursiv verfestigt und im Lauf des 19. Jahrhunderts biologisch fundiert wird. Im Umgang mit Zeit, Körper und Arbeit grenzt sich die bürgerliche Kultur von aristokratischen Lebensweisen ab, die als exzessiv und künstlich wahrgenommen werden; begehrt aber zugleich die souveräne Körper- und Selbstbeherrschung frühneuzeitlicher Adelskultur.

So begibt sich Reckwitz bereits in den ersten Kapiteln auf die Suche nach hegemonialen Subjektformen der europäischen Moderne, fokussiert aber insbesondere auf deren Friktionen und – wie es der Buchtitel verspricht – Hybriditäten. Er interessiert sich für größere Strukturmerkmale des "Subjekts" als Typisierung eines "social characters" (S. 55), zeigt durch die detailreiche praxeologische Analyse aber, dass die Moderne "dem Subjekt keine definitive Form gibt" (S. 274). Gerade das macht die Studie spannungsreich im positiven Sinn: Sie schwankt zwischen typisierender Abstraktion und deren Verkomplizierung durch die vielfältig widersprüchlichen Subjektkulturen. Auch in den folgenden Kapiteln nimmt Reckwitz diese Kulturen als historisch variable "Montage[n] unterschiedlicher Codes", als "Sinnmuster" und "Palimpsest" in den Blick (S. 205f sowie S. 274).

Dabei sieht er vor allem in den kulturellen (Gegen-)Bewegungen der Moderne einen zentralen Agens für den Wandel von Subjektformen. Um 1900 zeigen etwa die aufkommenden Avantgarde-Ideen, Lebensreform oder sozialistische Gruppen eine Krise bürgerlicher Subjektkultur an; sie erproben transgressive Seinsweisen und Geschlechterordnungen jenseits der spätbürgerlichen Sphäre und schlagen so eine neue Subjektordnung vor, die letztlich nicht hegemonial wird, aber – mit Reckwitz – die Transformation hin zum "Angestelltensubjekt" der organisierten Moderne wesentlich vorangetrieben hat. Seit den 1920er Jahren formt sich diese organisierte Moderne angesichts audiovisueller Medien, soziologischer Diskurse und technologischer Entwicklung aus; sie ist US-amerikanisch orientiert und erreicht ihren Höhepunkt in den 1950er Jahren. So sehr deren Subjektivierungsprozesse aber durch Arbeitsteilung, Informationssteuerung, Routine und Anpassung innerhalb eines sozialen Kollektivs geprägt sind, so sehr grenzt sich die Counter Culture der 1960/70er Jahre wiederum davon ab.

Dieser Gegenkultur als einer jugendlichen Kultur der "radikalen Distinktion zum Establishment" (S. 456) folgt Reckwitz mit künstlerischen, intimen oder konsumorientierten Praktiken; Pop-Art, Performances sowie Happenings erlaubten etwa ein "Reframing" (Erving Goffman) von Objekten und Verhaltensweisen der Angestelltenkultur, während das gegenkulturelle Subjekt nach einem Zustand "körperlich-affektiv-mentale[r] Bewegtheit" (S. 474) strebe. Doch auch die Meditations-, Drogen- und Musikkultur der 1970er Jahre weist Brüche auf (etwa zwischen Kollektiv und Individuum, zwischen Konsumkritik und konsumistischer Haltung), an denen die dritte dominante Subjektordnung der Moderne ab den 1980er Jahren voraussetzungsreich anknüpft. Sie bringt ein "konsumtorisches Kreativsubjekt" hervor, das – getragen von einer neuen Mittelklasse – ästhetisch-expressive Praktiken mit einer ökonomischen Marktförmigkeit verbindet. In der Analyse dieses postmodernen Subjekts kann die Studie zeigen, wie Praktiken der Bürgerlichkeit und der Counter Culture rehabilitiert werden, wie etwa eine "neoromantische Semantik der persönlichen 'Erfüllung'" (S. 591) raumgreift, diese dann aber ökonomisch gedacht wird. Es gelte, so Reckwitz, eine "individuelle Ununterscheidbarkeit gegenüber anderen zu entwickeln und diese in seinen performances unter Beweis zu stellen." (S. 598). Damit schlägt die Studie zum Finale den Bogen zurück zu den vorherigen hegemonialen Subjektordnungen und verweist zugleich auf die im Titel proklamierte Hybridität der modernen Kultur, die beständig "neue Hybridgebilde produziert und diese in Universalisierungsstrategien als homogen und alternativlos darstellt" (S. 626).

Das hybride Subjekt ist für theaterwissenschaftliche Forschung aus kultur-, gesellschafts- und sozialhistorischer Perspektive dabei unter zwei Aspekten besonders relevant. Indem die Studie die ästhetischen Bewegungen der europäischen Moderne nicht als "bloße Phänomene der Kunst" (S. 30), sondern als subjekttransformierend liest, macht sie die Romantik, die Avantgarde und Counter Culture zu zentralen Bewegungen gesellschaftlichen Wandels. Die Publikation bringt also das Argument der kulturwissenschaftlich orientierten Theaterforschung – nämlich, dass Theater, Kultur und Gesellschaft als zusammenhängende und sich gegenseitig konstituierende Prozesse zu denken sind – aus soziologischer Perspektive vor und eignet sich gerade deswegen für den interdisziplinären Dialog. Dieser könnte an vielen Stellen ansetzen, unter anderem auch an Reckwitz' Lesart der avantgardistischen Metropolenerfahrung als "ein chaotisches erratisches Theater von Menschen und Dingen, von beschleunigten Bewegungen und visuellen Exzessen" (S. 319).

Der Versuch, mit dem Buch einen übergreifenden Beitrag zu einem "kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramm zur Analyse von Subjektkulturen" (S. 39) zu leisten, gelingt nicht zuletzt auch auf methodischer Ebene aufgrund des praxeologischen Vorgehens. Hier können jene Arbeiten der theaterwissenschaftlichen Forschung anschließen, die Theater als soziale und kulturelle Praxis begreifen und die ihren Fokus folglich auch auf das Handeln und Verhalten in einer Gesellschaft richten. Das leitende Argument der Studie, demnach alle sozialen Praktiken subjektivierende Kraft haben, das heißt, dass sie "passende Subjekte voraussetzen" und heranziehen (S. 12), könnte insbesondere mit Hilfe des aufklärerischen Theaters als Schaubühne im Detail aufgeschlüsselt werden. Während Reckwitz in den Techniken des Lesens und der Schriftlichkeit (etwa in Form des Tagebuch- und Briefeschreibens) erkennt, wie sich ein bürgerliches Subjekt ausbildet, drängt sich ergänzend etwa eine Analyse der (lebens-)theatralen Praktiken der Bürgerlichkeit, die Modellierung einer öffentlichen Persona mittels Schauspieltechniken geradezu auf.

Gerade weil die Neuauflage bei Suhrkamp die Studie von Reckwitz nun aber endgültig zum kultur- und sozialtheoretischen Klassiker erhebt, ist wichtig, zu benennen, was die Arbeit trotz ihres Umfangs offenlässt. Reckwitz markiert einige Desiderate selbst. So ermöglicht die Zeitspanne, die das Buch in den Blick nimmt, lediglich einen indirekten Rückbezug auf höfisch-aristokratische Kultur und frühneuzeitliche Subjektordnungen; ein Umstand, der die "zeitliche Wasserscheide" (S. 41) zwischen Früher Neuzeit und Moderne eher zu zementieren, als zu befragen vermag. Da das Buch zudem die hegemonialen Formen des Subjekts in den Blick nimmt, werden marginalisierte Praktiken, ebenso wie einige soziale Bereiche hintangestellt. Die Analyse der angloamerikanisch orientierten Angestelltenkultur hat weiter zur Folge, dass Subjektkulturen in "zeitgleich auftretenden faschistischen und staatssozialistischen Gesellschaften" (S. 42) nicht oder wie im Fall des Staatssozialismus nur randständig als "nicht-westliche, radikalisierte Variation von Prinzipien der organisierten Moderne" (S. 443) thematisiert werden; ebenso sind Subjektformen jenseits der nordamerikanisch-europäischen Kultur ausgespart.

Die behutsame Anpassung der Neuauflage bringt es zudem mit sich, dass die angeführte und verwendete Literatur auf dem Stand der Erstveröffentlichung von 2006 verbleibt. Hier verweist der Autor auf seine in der Zwischenzeit publizierten Arbeiten (Die Erfindung der Kreativität, 2012 und Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017), die das Arbeitsprogramm einer kritischen Durchdringung der Moderne fortführen und gleichfalls zeigen, dass dieses Vorhaben ein unabgeschlossenes ist; während das moderne Projekt der beständigen Subjekttransformation, das Reckwitz beschreibt, gar ein unabschließbares bleiben muss. Die Widersprüche zwischen Selbstdisziplinierung, -beherrschung und -erfüllung sind letztlich nicht aufzulösen: "Wie eine Karotte baumelt die Fortschrittsverheißung eines perfekten Lebens vor der Nase des (vorläufig noch) modernen Subjekts, das nach ihr greift." (S. 19)

Bei der Frage, wie Wissensordnungen und Subjektkulturen sich wechselseitig prägen, ist Das hybride Subjekt nach wie vor eine beeindruckend umfassende, wie analytisch durchdrungene Denkschablone. Sie kann als soziologischer Beitrag auch erhellen, wie europäische Theaterformen und Umbrüche theatraler Praktiken auf Subjektivierung reagieren und diese mit ausformen; sie zielt auf Programme, Strukturen und Widersprüche, aber nicht auf historische Quellenstudien und letzte Antworten. Ihr Impetus, "soziologische Aufklärung" zu betreiben, das heißt, die Mechanismen der Subjektivierung verstehbar zu machen, "um vor diesem Hintergrund klüger, distanzierter, widerspenstiger, gerissener mit den immer neuen Subjektivierungsprogrammen umgehen zu können, denen wir uns aussetzen und denen wir ausgesetzt werden" (S. 13), dieser Impetus ist 2006 wie 2020 hochaktuell.

Autor/innen-Biografie

Theresa Eisele

Theresa Eisele ist Marietta-Blau-Stipendiatin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und Madrid; 2016 bis 2020 war sie mit ihrem Dissertationsprojekt zur Theatralität jüdischer Erfahrung in der Wiener Moderne als Universitätsassistentin (Prae Doc) am tfm in Wien tätig. 2014 bis 2016 verschiedene Arbeiten als wissenschaftliche Hilfskraft des Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, als freie Mitarbeiterin für das Projekt "Europäische Traditionen – Enzyklopädie jüdischer Kulturen" der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (SAW) sowie als Redakteurin beim Kreuzer Stadtmagazin. Daneben Lehrtätigkeiten am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig.

Publikationen

-, Szenen der Wiener Moderne. Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen. Mit einem Vorwort von Yfaat Weiss (toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, Bd. 14). Göttingen 2021.

–, "Zersetztes Zelluloid, virulente Vorstellungen: Die Restaurierung von 'Die Stadt ohne Juden'". In: Jüdische Geschichte und Kultur. Magazin des Dubnow-Instituts 2, S. 48–51.

–, "Gottes Mechaniker. Die Puppen des Francisco Sanz Baldovi". In: double. Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater 33/4, April 2016, S. 16f.

–, "Unerwünschte Uraufführungen: Das 'Deutsche Miserere' und die 'Jüdische Chronik' 1966 in Leipzig". In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 14, 2015, S. 195–217.

–, "Rhapsody in Blue". In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der sächsischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5: Pr–Sy. Hg. v. Dan Diner. Stuttgart 2014, S. 209–215.

–, "Sterbende Stiere; oder von der Kunst des aufgeklärten Todes". In: Tierstudien 5, April 2014, S. 103–116.

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Veröffentlicht

2020-11-18

Ausgabe

Rubrik

Theater