Wolfgang Kröplin: Spiel-Zeiten und Spiel-Räume des Theaters in Europas Osten. Seiten einer Kulturgeschichte – von den Anfängen bis zum sozialistischen Ende.

Würzburg: Königshausen und Neumann 2020. ISBN: 978-3-8260-6981-9. 444 Seiten, Preis: € 58,00.

Autor/innen

  • Adam Czirak

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-2-05

Abstract

Der Theaterwissenschaftler Wolfgang Kröplin setzt sich in seiner umfangreichen Studie mit der Geschichte des Theaters in "Europas Osten" auseinander, und zwar in dem breiten Zeitraum von dessen Entstehungsgeschichte bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Das programmatische Ziel dieses Unternehmens besteht darin, die gesellschaftlichen und kulturellen Gefüge des Theaters in Ländern wie "Bulgarien, Moldawien, Rumänien, Russland, Slowakei, Ukraine, Ungarn, Polen, Tschechien und Weißrussland" (S. 15) – so Kröplins Kartografie von "Europas Osten" – historisch und vor allem komparatistisch zu beschreiben. Neben der Abgrenzung von den pejorativen Attributen, die bisher zur Bezeichnung des Theaters im Osten gedient haben sollen – "diffus[] [...], unklar[], dubios[]" (S. 12), "unzivilisiert" (S. 8) und "[r]ückständig[]" (S. 9) – begründet Kröplin die Relevanz seiner Monografie mit dem Argument, dass es vor allem an einer Gesamtdarstellung der osteuropäischen Theaterkulturen fehle.

Kröplin gelingt es, die theatralen Gefüge in Europas Osten differenziert zu kontextualisieren und vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Migrations- und Assimilationsgeschichten, fremdherrschaftlicher Interventionen, einer Pluralisierung von Ethnien, Konfessionen und Kulturen sowie nationalistischer Bestrebungen zu betrachten. In einem überzeugenden Analyseschritt wird herausgearbeitet, welche nationalitätsbildende Themen und Dramaturgien im Zentrum des dramatischen Theaters osteuropäischer Provenienz stehen. Anschließend bringt Kröplin die spannende These in Anschlag, dass es durchaus verkehrt ist, das Theater dieser Region als 'verspätet' und unzeitgemäß zu etikettieren, insofern es ausschließlich im Vergleich zum westlichen Theater der Aufklärung im Verzug ist, d.h. zu einer durch und durch ideologisierten, didaktischen Bühnenpraxis, die die Tradition des Komödiantischen, Spielerischen, Unentscheidbar-Ironischen, Satirischen und vor allem Kritischen von der Bühne zu verbannen sucht. Die 'Verspätung' des dramatischen Paradigmas in Osteuropa geht also mit einer länger andauernden Pluralität theatraler Formen und Spielweisen einher, die man ausschließlich – wenn überhaupt – vor dem Wertehorizont des Literaturtheaters als rückständig verstehen kann.

Interessant ist außerdem die Beobachtung, auf welch paradoxale Weise sich die Nationaltheatergründungen und die Entstehung von Heroendramen in vielen osteuropäischen Ländern mit den ersten Avantgardebewegungen überschneiden. Wohlgemerkt, die Schilderung der osteuropäischen Avantgarde erfolgt nicht aus dem künstlerischen Material heraus, sondern auf eine induktive Weise: Zunächst werden – vornehmlich ohne Referenz – allgemeine, teilweise sogar klischeehafte Charaktereigenschaften der Theateravantgarde zusammengefasst, um danach – wie in einem Lexikon – die einschlägigen Vertreter*innen aus den einzelnen Ländern aufzuzählen. Dieses Kapitel spiegelt die generelle Problematik des Bandes wider, die darin besteht, dass Kröplin theatrale Phänomene immer als Illustrationen eines geschichtlichen Zusammenhangs interpretiert, anstatt die ästhetischen und politischen Facetten der Kunst aus dem künstlerischen Material heraus zu entfalten und zu reflektieren. Diese methodische Vorgehensweise führt dazu, dass der Verfasser auf analytische Tiefen verzichten muss und seine Untersuchungen jenseits theaterwissenschaftlicher Analysestandards entwickelt: Die Betrachtung von Aufführungen, Theatersituationen, Zuschauer*innenreaktionen und damit die Inblicknahme des Theaters jenseits seiner lexikalischen Datensammlungen und seiner Oberflächenphänomene bleibt in dieser Geschichtsschreibung immer aus.

Die Trennung zwischen Geschichte und Theatergeschichte wiederholt sich bei der Betrachtung der realsozialistischen Epoche auf eine kunstgeschichtlich problematische Weise, wenn Kröplin die linientreuen Positionen eines propagandistischen "verordneten Theaters" vollkommen unabhängig von den neoavantgardistisch und kritisch orientierten Alternativen behandelt und dabei außer Acht lässt, wie Kultur und Gegenkultur, erste und zweite Öffentlichkeit aufeinander bezogen waren. Mit Blick auf das Theater schlug sich diese Verwobenheit in einer Spielpraxis nieder, die weniger textuell als performativ verankerte Anspielungen auf politische Verhältnisse etablierte, ja das 'Reden mit zwei Zungen' propagierte, das trotz des stark überwachten Stückrepertoires eine Spaltung von Sagen und Zeigen, ja textueller Referenz und szenischer Bedeutung ermöglichte. Diese Darstellungstaktik zählte zu den geduldeten Modalitäten der Kritik, die Regisseur*innen in die Lage versetzte, die Regeln des Leitdiskurses quasi zu unterlaufen, ohne die Zensur direkt herauszufordern. Ausgerechnet die kreativen, spielerischen Momente und Phänomene des osteuropäischen neoavantgardistischen Theaters fallen aus den allzu strikten Trennungsrastern Kröplins, die ausschließen, dass das Theater als eine kulturelle Praxis begriffen wird, als eine Praxis, die nicht nur politisch verankert, sondern politisch wirksam ist.

Der Verfasser vertritt eine explizit kulturhistorische Perspektive und arbeitet mit vielfältigen, geografisch ausgewogenen – vornehmlich in deutscher Sprache zugänglichen – Referenzen bzw. mit kulturwissenschaftlichen, teilweise auch philosophischen Exkursen, die die theatergeschichtlichen Erörterungen stets in ideologische und mentalitätsgeschichtliche Koordinaten einbetten. Die kultur- und theaterhistorischen Darstellungen werden allerdings strikt voneinander getrennt und an keiner Stelle miteinander in Beziehung gesetzt. Die Entwicklungen des Theaters erscheinen auf diese Weise ausschließlich als Konsequenzen historischer Wandlungen und keineswegs als Teile dieser. Die positivistische Denkweise, die die vorliegende Monografie prägt, wird auch in der Kapitelstruktur manifest: Zwischen dem "Vorspiel" und dem "Nachspiel" des Buches finden wir insgesamt zehn Kapitel mit ausschließlich kulturhistorischen Überblicksdarstellungen, die vollkommen ohne theatergeschichtliche Bezugnahmen auskommen: Abschnitte zur Geschichte Sarmatiens (Kapitel 2) und der Völkerwanderungen, die bereits vor unserer Zeitrechnung ansetzen (Kapitel 3), zur "Geburt des europäischen Ostens" (S. 51, Kapitel 4), zu staatlichen Neuordnungen in der Neuzeit (Kapitel 5) und zu mehrsprachigen Kulturgefügen (Kapitel 6) in diesem Gebiet, zu den Wurzeln ostjüdischer Kulturgeschichte (Kapitel 7) und zu den historischen Konstellationen vor den Nationaltheatergründungen (Kapitel 8) sowie zur Geschichte des Sozialismus (Kapitel 11-13). Theaterhistorische Erörterungen gelangen in insgesamt vier Kapiteln zum Ausdruck, in denen die verspätete Herausbildung von Nationaltheatern, die "universalen [sic!] Avantgarde[n]" (S. 180), die linientreuen und die alternativen Theaterformen im Realsozialismus vorgestellt werden.

Die disproportionale Ausrichtung der Kapitel ruft die Frage wach, welche Leser*innen der Verfasser im Auge hatte, wenn Zweidrittel seiner theaterhistorischen Monografie quasi einer in Geschwindschritt erzählten Geschichte Osteuropas gewidmet ist, einer Geschichte allerdings, die wir ohne narrative Schwerpunkte, methodische Reflexionen und thematische Perspektivierungen erzählt bekommen. Die scheinbar ungefilterte Informationsflut, mit der hier einzig dem Anspruch einer 'Gesamtdarstellung' gehorcht wird, liest sich aus zwei Gründen umständlich: Einerseits fehlt es häufig an einem narrativen Element, das die Daten und Fakten in eine über einzelne Beobachtungen hinausgehende Sinnstruktur fügt bzw. die Perspektivenwechsel zwischen den betrachteten historischen Episoden und europäischen Regionen erklären würde. Es ist grundsätzlich unvorhersehbar, worauf der Fokus im nächsten Absatz gelenkt wird. Andererseits findet man in den ausführlichen Kapiteln, die in sich nicht weiter gegliedert sind, ja deren Struktur an keiner Stelle erläutert oder begründet wird, nie den gesuchten Zusammenhang. Außerdem sind die einzelnen Abschnitte in sich hermetisch geschlossen und dadurch unübersichtlich; sie ähneln eher an Handbucheinträge, die sich zu keiner Monografie zusammenfügen.

Ein Problem, das schon beim Lesen des Buchtitels aufkommt, besteht ferner nicht nur in der historiografischen Unrealisierbarkeit einer vollständigen Erfassung von Osteuropas Theatergeschichte in einem einzigen Band, sondern vor allem in der Annahme, dass das Beheben eines klar umrissenen Desiderats an sich ausreichen würde, um eine wissenschaftliche Untersuchung zu legitimieren. Diese Annahme stellt sich als ein Irrtum heraus, denn es fehlt der vorliegenden Monografie an Fragestellungen, Vergleichsaspekten und vor allem an fundierten Thesen, an vertieften Auseinandersetzungen mit dem herangezogenen Material und an einer strukturierten, gut nachvollziehbaren Argumentation. Es taucht die Frage auf, ob es gerechtfertigt ist, um diesen Preis eine Forschungslücke zu 'schließen'.

Vor diesem Hintergrund erweist sich Kröplins Monografie vor allem als eine Darstellung von historischen Gefügen und kulturellen Produktionsbedingungen des Theaters im östlichen Europa. Theaterwissenschaftliche Ausführungen bleiben daher eher marginal bzw. stets auf die Aufzählung von Autor*innen, Stücktiteln und Spielorten beschränkt. Wie das Theater im jeweiligen historischen Kontext seinen Status, seine Möglichkeitsbedingungen, seine politischen Potenziale durch die Art und Weise seiner Aufführungspraxis offenlegt und reflektiert, ja wie das Theater von seiner Zeit erzählt und vor allem welche Rezeptionszusammenhänge es adressiert, bleibt daher auf Osteuropa bezogen ein noch zu schreibendes Kapitel. Dieses kann nur entstehen, wenn man bereit ist, den – unmöglichen und a-politischen – Anspruch auf Gesamtdarstellungen aufzugeben und damit beginnt, die Praxis des Theaters zu befragen. Bis dahin bleibt das osteuropäische Theater in seinen Darstellungen weiterhin "diffus", "unklar" und "dubios".

Autor/innen-Biografie

Adam Czirak

Senior Lecturer am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und der Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft in Budapest und Berlin. Von 2007-2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin. Promotion mit einer Arbeit zu intersubjektiven Blickrelationen in Theater und Performance der Gegenwart. Von 2011-2019 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. 2020 habilitierte er sich dort mit einer Arbeit zur Geschichte(n) der Aktionskunst in Osteuropa. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Geschichte der Performancekunst, aktuelle Tendenzen der Theater- und Tanzdramaturgie.

Publikationen:

– "The Task of Theatrical Translation: Second-hand Speech Acts in Contemporary Performances". In: Erika Fischer-Lichte; Saskya Iris Jain; Torsten Jost (Hg.): Theatrical Speech Acts: Performing Language: Politics, Translations, Embodiments, Abingdon; New York: Routledge 2020, S. 149-164.

– "Fiktionalität und Performance". In: Lut Missinne, Ralf Schneider, Beatrix van Dam (Hg.): Fiktionalität (Handbuch-Reihe Grundthemen der Literaturwissenschaft), Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2020, S. 205-231.

Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs. Künstlerische Kritik in Zeiten politischer Repression, Bielefeld: transcript 2019.

– gemeinsam mit Gerko Egert (Hg.): Dramaturgien des Anfangens, Berlin: Neofelis 2016.

Partizipation der BlickeSzenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld: transcript 2012.

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Veröffentlicht

2021-11-30

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Rubrik

Theater