Mayte Zimmermann: Von der Darstellbarkeit des Anderen. Szenen eines Theaters der Spur.
Bielefeld: transcript 2017. ISBN 978-3-8394-3879-4. 288 S., Preis: € 34,99 (Print und E-Book).
Abstract
Das 'Theater der Anderen' wird heute, so die einleitende Diagnose von Mayte Zimmermann, vermehrt als ein Inklusionsapparat verstanden, der das vermeintlich 'Wirkliche', 'Tatsächliche' und 'Ausgeschlossene' bzw. die eine Normalität unterlaufenden 'Anderen' zu integrieren sucht. Zu ertappen ist diese politische Inklusionslogik in einer Reihe von Theaterproduktionen, die Abweichungen vom bürgerlichen Menschenbild zu zeigen und etwa "Schwarze, Migrant*innen, Kranke, Über- und Untergewichtige, Kinder, alle, die in die Gender-Gaps gehören, Behinderte usw." (S. 10) zu einem Auftritt zu verhelfen suchen. Was im 'Theater der Anderen' im Zeichen eines liberalen Anerkennungsimperativs zu stehen und als politisches Programm der Solidarisierung bzw. der Verantwortung für ein Zusammen-Leben zu funktionieren scheint, läuft Mayte Zimmermann zufolge jedoch notgedrungen Gefahr, 'dendiedas Andere' als etwas bereits Bekanntes festzuschreiben, zu neutralisieren und zu beherrschen. Ob und inwieweit es möglich ist, theatrale (Re-)Präsentation ohne das Risiko der Verdinglichung bzw. die Auslöschung der Singularität des 'Anderen' zu denken, wird in Zimmermanns Monografie Von der Darstellbarkeit des Anderen in fünf Inszenierungsanalysen und in vielschichtigen Überlegungen zu einem 'Theater der Spur' sondiert.
Gleich zu Beginn entfaltet Zimmermann eine kritische Lesart von Jérôme Bels Disabled Theatre, einer Produktion, die zu den meist besprochenen unserer Gegenwart gehört und mittlerweile zum Sinnbild jenes 'Theaters der Anderen' geworden ist, eines Theaters, dem – sowohl im Inszenierungstitel wie auch in der Szenendramaturgie – eine Reduktion der auftretenden Akteur_innen auf ihr Anderssein (hier auf ihre Behinderung) vorgeworfen wird. Problematisch ist in dieser Reduktion jedoch nicht nur, so Zimmermann, dass Disabled Theatre zu einem Spektakel werde, in dem die Zuschauer_innen ihre Toleranz selbst beklatschten, sondern vor allem deshalb, weil hier "'das Andere' als bereits bekanntes oder zumindest identifizierbares Gegenüber in eine Szenerie" eingelassen wird. Kurzum: Gerade das Auftreten eines (prä-)figurierten Anderen stabilisiert Zimmermann zufolge die "Ordnungen und epistemologische[n] Voraussetzungen" von Zuschreibungen (S. 259). Vor dem Hintergrund der repräsentationspolitischen Problematik, dass die Anerkennung des Anderen stets mit dessen Festschreibung und Beherrschung Hand in Hand geht, fragen die vorliegenden theoretischen Ausführungen und Fallbeispiele explizit nach den Möglichkeiten einer Darstellung des Anderen jenseits des Erkennenbaren und Verstehbaren, ja nach einer 'Darstellbarkeit des Anderen'.
Es ist durchaus folgerichtig, dass die Arbeit damit ansetzt, gängige theaterwissenschaftliche Terminologien zu präzisieren, philosophisch und historisch exakt herzuleiten und neu zu fundieren. Auf erhellende Weise werden – mit Rekurs auf Martin Heidegger, Jacques Derrida und Ulrike Haß – Begriffe wie 'Szene', 'Vorstellung' oder 'Ereignis' als Beziehungsgewebe der Offenheit, der Potenzialität und der Singularität konzeptualisiert, mehr noch: als Bezugsgrößen etabliert, die nicht mehr ausschließlich im Dienst der störungsfreien Darstellung stehen oder die machtvollen Voraussetzungen einer Darstellung kaschieren, sondern eine Verdinglichung (in) der Repräsentation auch unterlaufen können. Es fällt in den Argumentationsgeflechten des Buches immer wieder ins Auge, dass Mayte Zimmermann stets 'Differenz-treu' argumentiert, d. h. selbst die theoretischen Gegenpositionen und ideologischen Antipoden ihrer Beweislogik produktiv einbringt und die Vielstimmigkeit der einzelnen philosophischen, kultur- und theaterwissenschaftlichen Positionen nie in einer täuschenden Harmonie aufzulösen sucht, sondern diese vielmehr im Modus eines gegenseitigen Kommentierens miteinander in Dialog treten lässt.
Im Herzen des Theorieteils steht eine facettenreiche und dennoch problemorientierte Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas' Denken des Anderen. Dieser Andere, "an den ich mich wende, [kann] nicht gleichgültig sein" (S. 64), schreibt Zimmermann, und seine Gegenwart verleite das Subjekt dazu, ihm zu antworten, ihn zu verantworten, und zwar diesseits der Logik des Verstehens und des Kalküls. Diese Denkrichtung weist über einen phänomenologischen Ansatz hinaus und mündet in der Begründung eines Theaters der Spur: Erfahrbar wird es 'im Angesicht von Anderem und Anderen' bzw. in jenem singulären Moment, "das sich dem erkenntnistheoretischen Zugriff entzieht", aber "den Grund unserer ethischen Verfasstheit bildet" (S. 72). Das Theater der Spur changiert zwischen An- und Abwesenheit des Anderen und suspendiert die Logik von Binarismen oder Ausschlüssen. Es legt einen paradoxalen Ort der Bezüglichkeit offen, gerade weil es auf der Logik der Spur basiert und somit der Intentionalität, der symbolischen Kodierung und der Zuordnung widersteht. Attraktiv ist die Spur als Denkfigur in diesem Zusammenhang vor allem deshalb, weil sie weder "das Andere im Sinne einer Bezeichnung dar[stellt], noch [...] dem Erkenntnisinstrumentarium des Ich [entspringt]" (S. 71). Dementsprechend ist es überaus plausibel, in den einzelnen Analysekapiteln – mit Walter Benjamin und Nikolaus Müller-Schöll gesprochen – nach der Darstellbarkeit des Anderen zu fragen, und zwar nach einer Darstellbarkeit vor jedwedem Akt der Darstellung, vor jedweder Figuration einer Botschaft.
Man könnte in Anbetracht dieses theoretischen Programms – in Bezug auf Gayatri Spivak und Jacques Derrida – einwenden, dass im Ansatz von Levinas gerade jene politische Dimension der Repräsentation unbeachtet bleibt, die in der Vertretung von Subalternen und in der Reflexion ihres Unvermögens auf Selbst-Organisation und Selbst-Artikulation besteht. Folgt man Spivaks Unterscheidung zwischen der 'Repräsentation als Darstellung' und 'Repräsentation als Vertretung', dann wird, so könnte man folgern, ein 'Theater des Anderen' erst dort politisch, wo es diese doppelte Valenz der Repräsentation ausstellt und reflektiert. Denn mag die Darstellung von Subalternen durchaus die Gefahr der Festschreibung bergen, es kommt, so könnte man mit Spivak argumentieren, stets auf der Repräsentation als Vertretung an, die in der Verantwortung all derjenigen steht, die zum Sprechen im politischen Sinne in der Lage sind. Was allerdings in Mayte Zimmermanns Beweisführung immer wieder als negativer Bezugspunkt auftaucht, ist ausgerechnet der gegenwärtige Boom von Theaterarbeiten, in denen nicht ausgebildete Schauspieler_innen mit dem Ziel exponiert werden, bestimmte, auf der Bühne unterrepräsentierte Gruppen zu vertreten bzw. in die Ordnungen der Sichtbarkeit einzuschließen. Erwecken diese Theaterproduktionen zwar den Eindruck, sie würden gerade – mit den Worten von Spivak – die Unterdrückten "auf dem Weg zu einer durch Allianzpolitik geschaffenen Solidarität"[1] zum Sprechen bringen, stehen sie eigentlich im Interesse einer spektakulären Darstellung durch Theatermachende, die die Inszeniertheit der scheinbaren Selbst-Artikulationen häufig zu kaschieren suchen. Das Dilemma besteht also darin, wie man die politische Forderung nach einer sensibilisierten Erkennung von Minorisierten – im Sinne Spivaks – zusammen denken kann mit der ethischen Auffassung des 'Anderen' als etwas sich der Erkennbarkeit Entziehendes – im Sinne Levinas'.
Beleuchtet wird dieses Dilemma gleich im ersten Analysekapitel, in dessen Zentrum Ulf Aminedes Videoinstallation Frontalunterricht steht. Man sieht sich als Zuschauer_in mit Improvisationen von laienhaft anmutenden jungen Schauspieler_innen konfrontiert, die uns – trotz der medialen Übertragung ihrer Auftritte – aus einer frontalen Stellung anblicken und uns mit kurzen, scheinbar nichtssagenden, offensichtlich aus zweiter Hand stammenden Monologen adressieren. Scharfsinnig weist Zimmermann auf die dramaturgische Differenziertheit und Politizität dieser Arbeit hin. Zwar wird weder das angekündigte Thema der Installation – die Dauerarbeitslosigkeit von Jugendlichen – angesprochen, noch die Biografie der Figuren thematisiert, dennoch oder gerade deshalb kommt dieser Arbeit ein kritisches Potenzial zu: Sie zieht die Autorität der Sprache in Zweifel und eröffnet Möglichkeitsräume für ein anderes Sprechen, 'ein Sagen im Gesagten'. Mit den Worten von Zimmermann wird hier "keineswegs die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit minoritären Sprecherpositionen [negiert], wohl aber [jene] Darstellungspolitiken, die auf der Behauptung ihrer Authentizität und ihrer Präsentierbarkeit gründen" (S. 135). Aufschlussreich ist die ästhetische Vielfalt der anschließend analysierten Theaterbeispiele: Herangezogen werden neben Antonia Baehrs For Faces und Rabih Mroués The Inhabitants of Images, Einar Schleefs (post)dramatischer Text Die Schauspieler und Swoosh Lieus Recherchen zum Verhältnis von Szene und Bühnenmaschinerie in Everything but Solo.
Was das Kommentieren eines Theaters der Spur angeht, ist es überaus konsequent, dass Mayte Zimmermann von der Darstellbarkeit des Anderen genau das fordert, was sie auch der Schreibpraxis über Theateraufführungen abverlangt; sie argumentiert als Wissenschaftlerin zweifellos im Einklang mit dem von ihr formulierten Postulat und weigert sich jedweder terminologischen Kategorisierung. Wohlgemerkt, es hätte zahlreiche und allzu naheliegende Anlässe in der Beweisführung gegeben, die behandelten ethischen und politischen Dilemmata auf theaterwissenschaftliche Begrifflichkeiten zu bringen, doch hält sich die Autorin stets vor definitorischen Festschreibungen zurück. Die Derrida'sche "Abrüstung der [...] Herrschaftsrede" (S. 20) wird somit zur Devise eines Denkens über Theater und Theaterwissenschaft, eines Denkens also, das seinen Gegenstand keineswegs "zu besitzen, zu erkennen und zu begreifen, also schlussendlich vergegenständlichen zu können glaubt" (ebd.).
[1] Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008, S. 17–118, hier S. 47.
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