Gerald Siegmund: Theater- und Tanzperformance zur Einführung.

Hamburg: Junius 2020. ISBN: 978-3-96060-316-0. 284 Seiten, Preis: € 16,90.

Autor/innen

  • Adam Czirak

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-06

Abstract

Im Zuge der Etablierung und Institutionalisierung der europäischen Freien Theaterszene haben sich in den letzten zwei Dekaden Darstellungsformen etabliert, die mit herkömmlichen schauspielerischen Konzepten bzw. mit dem Vokabuar des Postdramatischen nicht mehr differenziert beschrieben werden können. Die Rede ist von Theater- und Tanzinszenierungen, die – unter dem Einfluss der Theateravantgarden, der Performance Art und der Aktionskunst auf die darstellenden Künste – seit den ausgehenden 1990er Jahren eine beachtliche Verbreitung gefunden haben. Charakteristisch für solcherart Theater- und Tanzperformances ist nicht nur die Betonung der individuellen Körperlichkeit und Stimmlichkeit des*der Darstellenden und damit der soziokulturellen und autobiografischen Einschreibungen in die Art und Weise szenischen Handelns, sondern auch eine Öffnung der Bühne für nicht ausgebildete Akteur*innen und damit für Darstellungsmodalitäten des Erzählens, Berichtens, Vorlesens, expliziten Mimens, Improvisierens. Theater- und Tanzperformances legen häufig ihre Inszenierungsregeln offen, reflektieren die Konstruiertheit der angeeigneten Körperbilder, kaschieren eventuelle Schwierigkeiten, Pannen oder Momente des Scheiterns keinesfalls und favorisieren dadurch eine antiillusionistische, transparente, auf die Produktionsbedingungen reflektierende, von dokumentarischen, autobiografischen und nicht selten auch konkreten theoretisch-wissenschaftlichen Referenzen inspirierte Spielweise.

Diese Entwicklungen arbeitet Gerald Siegmunds Monografie Theater- und Tanzperformance zur Einführung mit einem systematisierenden Anspruch auf, werden in ihr doch Inszenierungsbeispiele bzw. philosophische, soziologische und kunsttheoretische Diskurse theatraler (Re-)Präsentation aus den letzten Jahrzehnten aufgegriffen und mit analytischer Schärfe befragt. Zwar stehen jüngere künstlerische Arbeiten im Vordergrund, aber wichtige Impulsgeber*innen und Schlüsselfiguren der europäischen Performancegeschichte – wie Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Jochen Roller, Eszter Salamon oder Meg Stuart bzw. deren emblematische, ja mittlerweile kanonische Arbeiten – bleiben nicht unerwähnt. Der Band erfüllt damit einerseits das Ziel, ein vielfältiges Spektrum an Produktionen und deren diskursiven Resonanzen zu präsentieren bzw. all denjenigen zugänglich zu machen, die sich ohne Vorkenntnisse in die Geschichte und Gegenwart des Genres vertiefen möchten. Darüber hinaus geht der Band weit über die Zielsetzung hinaus, ein deskriptives Werk mit Einführungscharakter zu sein, insofern er bei der Kommentierung von Inszenierungsbeispielen eine aufschlussreiche Leitthese entfaltet. Siegmund erkennt in der Gesamtschau ästhetischer Tendenzen einen besonderen diskursiven Reiz von Performances darin, dass sie eine dialektische Spannung zwischen Ästhetischem und Ethischem akzentuieren und diese Spannung im Rahmen ihres Vollzugs auch verhandeln: "Kunst [...] will nicht mehr Kunst sein. Sie will Handlung, mehr noch: gute Handlung für ein gutes (gesellschaftliches) Leben sein, ohne dabei aber [...] ihren Kunstcharakter gänzlich abstreifen zu können." (S. 18)

Um sich mit dem Spannungsverhältnis von Kunst und Leben, ja Ästhetischem und Ethischem historisch und inszenierungsanalytisch auseinanderzusetzen, führt Siegmund den Begriff der Situation ein. Dieser erweist sich als ein zielführender Terminus, um das aporetische Verhältnis zwischen dem Autonomieanspruch der darstellenden Künste einerseits und ihren sozial engagierten Absichten andererseits philosophisch fundiert zu untersuchen. Mit dem Begriff der Situation bringt Siegmund die zentralen Merkmale zeitgenössischer Performances – etwa die raum-zeitliche Situiertheit der Anwesenden, die Relationalität und Appellkraft der Handlungen, ihre Performativität bzw. ihren Vollzugscharakter – auf den Punkt und scheint in Bezug auf die Konstellation von Zuschauer*innen und Akteur*innen noch offener zu sein als das Konzept der Aufführung, welches eine eindeutige künstlerische Kontextgebundenheit voraussetzt. Siegmund konturiert in einem ausführlichen Kapitel seinen ästhetisch und sozialwissenschaftlich informierten Situationsbegriff, der deshalb so plausibel und tragfähig erscheint, weil er nicht inflationär gebraucht werden kann: Situationen sind als ästhetisch gerahmte Handlungsakte zu verstehen, die die Regeln der Darstellung hinter sich lassen und auf ihre Beschaffenheit, Konstruiertheit und Kontingenz reflektieren. Entscheidend ist dabei, so Siegmund, "das Auffälligwerden der Situation in der Situation mithin nicht bloß die regelgeleitete Durchführung der Situation" (S. 99).

Neben den theoretisch differenzierten, an gegenwärtige Diskurse angebundenen Ausführungen zu einem theaterwissenschaftlich vielversprechenden Situationsbegriff legt Siegmund einen großen Wert auf die historische Kontextualisierung seines Untersuchungsgegenstands bzw. seines Zugriffs. Auf den ersten Blick mag verwundern, dass Siegmund nicht nur die Theateravantgarde bzw. theoretische Positionen von Antonin Artaud, Bertolt Brecht, Rudolf Laban oder Richard Schechner als relevant für seinen Analyseansatz erachtet, sondern bis ins 18. Jahrhundert zurückgreift und Denis Diderots "oftmals unbemerktes Fortleben" in der Gegenwart unterstreicht. Siegmund spürt in Der natürliche Sohn die doppelte Perspektive auf das Theater, ja die ästhetischen und ethischen Register der Darstellung auf, zwischen denen eine Interdependenzbeziehung bestehe. Diese "spannungsreiche Grundkonstellation [sei im bürgerlichen Theater] zugunsten der ästhetischen Dimension von Theater entschieden" (S. 44). Heute werde das Verhältnis von Ästhetischem und Ethischem jedoch deshalb so virulent, weil "die Dimension des realen Vollzugs in den Vordergrund" (ebd.) gerückt sei. Siegmund denkt somit die westliche Theatergeschichte eher in Kontinuitäten als in Brüchen, und konzentriert sich in seiner Annäherung an Gegenwartsphänomene eher auf Traditionslinien als auf Epochengrenzen. Die teilweise sich über mehrere Seiten erstreckenden Exkurse zu historischen Theatermodellen, die über alle Kapitel verteilt sind, muten dadurch nicht als Unterbrechungen der gegenwartsbezogenen Analysen an, vielmehr dienen sie als theoretische Folien der Auseinandersetzung mit aktuellen Inszenierungen. So sieht Siegmund in Audiowalks und anderen Straßenaktionen das Erbe der Situationisten resonieren oder zeichnet Korrespondenzen zwischen Schechners Konzept vom ‚Performance-Kontinuum‘ und aktuellen politisch-aktivistischen Projekten der Gruppe The Agency.

Eine etwas schwierig nachzuvollziehende – bzw. alleine auf der abstrakt-theoretischen Ebene artikulierte – Behauptung besteht allerdings darin, dass Siegmund eine Unüberwindbarkeit des dramatischen Theaters in Performances der Gegenwart suggeriert: "Vor diesem Hintergrund erscheinen zeitgenössische Theaterformen nur als weitere Variante und Möglichkeit der Entfaltung des Sinnlichen und gerade nicht als Überwindung tradierter dramatischer Formen von Theater." (34) Es leuchtet zwar unmittelbar ein, dass die ästhetische Dimension von Performances selbst in aktivistischen Theaterformaten nicht überwunden werden kann; insofern aber die "tradierte dramatische Form" in den meisten der von Siegmund gewählten Beispiele radikal unterlaufen wird, erscheinen die dramentheoretischen Schlussfolgerungen, die eine ästhetische Kontinuität seit dem 18. Jahrhundert betonen als verwirrend bzw. nicht hinreichend erläutert.

Der Band sucht nicht nach essenziellen, ontologischen Definitionskriterien von Theater- und Tanzperformances. Seine Stärke besteht gerade darin, offene und anschlussfähige Begrifflichkeiten, Konzepte, Perspektiven zu offerieren. Diese stammen allerdings nicht nur aus akademischen und journalistischen Kontexten, sondern zu einem entscheidenden Teil auch von Künstler*innen selbst und diese Heterogenität der Stimmen führt zu einer organischen Verflechtung von künstlerisch-praktischen Positionen und deren Beobachtung bzw. Kommentierung.

Im Bereich der Theaterperformances identifiziert Siegmund drei Funktionen, die wegweisend für seine Analysen werden: Durchspielen, Fiktionalisieren und Anerkennen. Theatersituationen setzen – und hier wird Brecht zu einer wichtigen Referenz – das Durchspielen, ja eine Form des Preenactens zum Ziel, um in einem fiktional geprägten Spielrahmen Zukunftsvorstellungen auszuprobieren. Damit einhergehend werden die Zuschauenden häufig fiktionalisiert, d.h. ihnen wird eine Rolle zugeschrieben, die ihnen einen veränderten Selbst- und Weltbezug ermöglicht, d.h. neue Reflexionsmöglichkeiten bietet. Schließlich arbeitet Siegmund den Adressierungscharakter von Theatersituationen aus und weist darauf hin, dass der Auftritt von Laien oder Vertreter*innen minorisierter Gesellschaftsgruppen (aber auch der Appell an die Zuschauer*innen als Zeug*innen der Darstellung) dazu führt, dass die Theatersituation zu einer Konstellation von Anerkennung und verantwortungsvollem Handeln avanciert. In all diesen Szenarien tritt der Vollzug von Handlung – gegenüber ihrer Nachahmung oder Inszenierung – in den Vordergrund und verschränkt jedes ästhetische Spiel mit gesellschaftlichen Referenzen und Rastern des Ethischen. Diese unauflösbare Spannung zwischen Ästhetischem und Ethischem, die für Siegmund den Dreh- und Angelpunkt von Theaterperformances ausmacht, wird anschließend in vier zentralen Genres genauer untersucht: im dokumentarischen und im immersiven Theater, in Situationen der Versammlung und in Performances von Gender, wobei die Aspekte von Gender – wie auch die von Dekolonisierung – in mehreren Kapiteln zum Tragen kommen.

Die drei Funktionen, die Siegmund in zeitgenössischen Theatersituationen aus tanzästhetischer Warte in hoher Frequenz aufzutauchen sieht, sind Anordnen, Diskursivieren und Verbinden. Diese Funktionen werden nach einem aufschlussreichen Exkurs zur diskursiven Wandlung des Tanzes vom Handlungsballett über die Tanzavantgarde und den postmodernen Tanz bis hin zur Gegenwart ausführlich skizziert, und zwar vor der Folie eines progressiven Choreografiebegriffs, der nicht mehr als eine normative Vorgabe von Bewegungsfiguren, sondern als ein Gefüge verstanden wird, das "eine Situation zwischen heterogenen Elementen [etabliert], von denen der menschliche Körper nur eines ist" (S. 179). Wird Choreografie als Anordnungkunst verstanden, so öffnet sich der Blick auf eine Vervielfältigung von Körperbildern, Stimm-Körpern, Projektionen, Imaginationen und ein damit verbundenes Spiel mit An- und Abwesenheit. Ferner komme der Diskursivierung des Körpers – in Form von Reenactments oder von Lecture Performances – die Rolle zu, Tanz nie außerhalb von kulturellen Rahmungen und gesellschaftlichen Zuschreibungen zu denken. Auf eine sehr plausible Weise argumentiert Siegmund mit Bezug auf Reenactments für eine Differenzierung zwischen "kopierenden" und "reflektierenden" Ansätzen, die in der ideologisch außerordentlich heterogen gelagerten Praxis von Wiederaufführungen und szenischen Rekonstruktionen eine hilfreiche Klassifizierung bietet. Choreografien, in denen nicht-menschliche Akteure auftreten bzw. im Sinne kollaborativer Praktiken singuläre Autorschaften aufgegeben werden, um ein genreübergreifendes Arbeiten zwischen Künstler*innen bzw. eine Kommunikation zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen zu begünstigen, zeichnen sich allesamt durch den Anspruch der Verbindung, ja das Versprechen des Mit-Seins aus.

Insgesamt gelingt es Siegmund im heterogenen, facettenreichen und daher schwer zu überblickenden Feld von Theater- und Tanzperformances aufschlussreiche Tendenzen zu identifizieren, diese aber immer offen bzw. dynamisch zu denken und damit ein wertvolles Vokabular für die Analyse situativ recht unterschiedlich gestalteter Beispiele zu offerieren. Darin, dass Theater und Tanz für Siegmund "die gemeinschaftlichen Kunstformen schlechthin sind" (S. 28) und sich auch direkt mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen, zeichnet sich in den einzelnen Analysen ein neues Verständnis des Politischen ab, das sich nicht mehr in der Politizität einer (postdramatisch geprägten) Form der Darstellung erübrigt. Gesellschaftlich relevant und damit politisch wird Theater Siegmund zufolge nur dann, wenn es sich zu ökonomischen, ethischen und ideologischen Fragen der Gesellschaft, in der sie entsteht, als eine Situation ins Verhältnis setzt, d.h. seine "Teilnehmer aktiv als Gruppe, als mögliches Kollektiv anspricht und mit dieser Gruppensituation, die das Theater als Ort der Versammlung anbietet, arbeitet" (S.167).

Autor/innen-Biografie

Adam Czirak

Senior Lecturer am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und der Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft in Budapest und Berlin. Von 2007-2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin. Promotion mit einer Arbeit zu intersubjektiven Blickrelationen in Theater und Performance der Gegenwart. Von 2011-2019 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. 2020 habilitierte er sich dort mit einer Arbeit zur Geschichte(n) der Aktionskunst in Osteuropa. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Geschichte der Performancekunst, aktuelle Tendenzen der Theater- und Tanzdramaturgie.


Publikationen:

– "The Task of Theatrical Translation: Second-hand Speech Acts in Contemporary Performances". In: Erika Fischer-Lichte; Saskya Iris Jain; Torsten Jost (Hg.): Theatrical Speech Acts: Performing Language: Politics, Translations, Embodiments, Abingdon; New York: Routledge 2020, S. 149-164.

– "Fiktionalität und Performance". In: Lut Missinne, Ralf Schneider, Beatrix van Dam (Hg.): Fiktionalität (Handbuch-Reihe Grundthemen der Literaturwissenschaft), Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2020, S. 205-231.

Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs. Künstlerische Kritik in Zeiten politischer Repression, Bielefeld: transcript 2019.

– gemeinsam mit Gerko Egert (Hg.): Dramaturgien des Anfangens, Berlin: Neofelis 2016.

Partizipation der BlickeSzenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld: transcript 2012.

Cover: Theater- und Tanzperformance

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Veröffentlicht

2022-11-16

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Rubrik

Theater