Leon Gabriel/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie.
Bielefeld: transcript 2019. ISBN: 978-3-8376-4239-1. 278 S., Preis € 26,99.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2020-2-02Abstract
Die Relation von Theater und Denken, die im vorliegenden Sammelband in ihren historischen und zeitgenössischen Manifestationen tiefgreifend analysiert wird, fällt, wie die Herausgeber Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll in der Einleitung betonen, weitaus komplexer aus als das Verhältnis der Illustration (S. 13), ja der Abbildbarkeit des Szenischen in der Theorie oder – umgekehrt – die Veranschaulichung theoretischen Denkens auf der Bühne: "Der Praxis des Theaters wird vielmehr bei aller Unterschiedlichkeit der hier versammelten Beiträge in jedem Fall eine Form der inhärenten Theorie zugeschrieben, die nicht in Begriffen formuliert, gleichwohl in Begriffe übersetzt werden kann" (ebd.). Welche Formen des Denkens im szenischen Raum des Theaters erst aufscheinen bzw. inwieweit das Nachdenken über Theater die Weichen für eine noch kommende szenische Praxis stellt, sind die Ausgangsfragestellungen der vorliegenden Beiträge, die einerseits von der szenischen Verfasstheit jedweden theoretischen Denkens ausgehen und andererseits einem dem Theater innewohnenden szenischen Denken auf die Spur zu kommen suchen.
Dass die Dynamiken des Denkens und des theatralen Zeigens keineswegs miteinander überblendet werden können, vielmehr ineinander übersetzt werden müssen, dafür liefern bereits Platons sokratische Dialoge und die ihnen eigentümlichen Paradoxien ein eklatantes Beispiel: Bekanntlich wird aus ihnen jene theaterfeindliche Einstellung Platons ersichtlich, die häufig auf das biografische Moment zurückgeführt wird, er habe seine eigens geschriebenen Tragödien unter dem Einfluss seines Lehrers Sokrates verbrennen müssen. Doch Platons Vorbehalte gegenüber dem Theater sind gerade vor dem Hintergrund überraschend, dass seine philosophischen Schriften, ja die sokratischen Dialoge, an Dramatisierung und Theatralisierung kaum zu übertreffen sind. Interessant ist an diesem Punkt das Platon'sche Argument, mit dem das Theater von dem (philosophischen) Denken zugleich getrennt und mit ihm aufs Engste verbunden wird: Denn das Argument, warum das Theater die bestehende Ordnung Platon zufolge gefährde, ist in dem Umstand zu suchen, dass in der Tragödie ausgerechnet die kommentatorische, für eine philosophische Wahrheit bürgende Instanz ausgeschaltet werde, jene Erzählstimme, die dem Epos noch inhärent ist und die den Rezeptionsvorgang zu steuern vermöchte bzw. die Übermittlung einer Botschaft sichern könnte. Wenn Platon also in der Wechselrede der Politeia, die im philosophischen Register verankert ist, den Kampf gegen die Wechselrede verkündet, die das Terrain der Philosophie verlässt und die Bühne erobert, wird letztlich nur, quasi in den philosophischen Texten Platons, ein anderes Register für das Denken und Realisieren des Theaters eröffnet.
Weniger die Frage nach der Philosophie des Theaters – im Sinne einer Ästhetik des Theaters – steht somit im Vordergrund des Sammelbandes und schon gar nicht die allzu schlüssigen Erklärungsmodelle theatralen Handelns, die aus der Anthropologie, Sozialwissenschaft oder Genderforschung stammen und komplexe theoretische bzw. gesellschaftliche Problemstellungen mit einfachen Theatermetaphern zu erhellen versuchen. Stattdessen lockt uns Leser*innen das breit gefächerte Panorama eines 'Denkens der Bühne' in mehrfachem Sinn – in jene Richtung, wo sich "Denk und Undenkbares ebenso wie Zeigen und Entzug, Sicht- und Unsichtbares verschränken" (S. 16). Dieses vielversprechende Programm wird in drei Themenkomplexen bzw. in exzellenten Beiträgen ausdifferenziert und vertieft.
Im ersten größeren Abschnitt sind Aufsätze versammelt, die an Walter Benjamins Reflexion von Bertolt Brechts Arbeit anknüpfen. Die Autor*innen, die bereits einschlägige Monographien zu diesem Thema vorgelegt haben, greifen Denkfiguren von Benjamin und Brecht auf und übertragen sie in unterschiedliche Kontexte theatralen Denkens. Nikolaus Müller-Schöll kartographiert – mit Bezug auf Benjamins Sprachaufsatz bzw. seine Idee der Sprache "überhaupt" – ein Denken des Theaters als Mitteilbarkeit, als Dispositiv, d. h. als eine "nicht länger vom Mittelpunkt des 'Menschen' geprägte Bühnenpraxis" (S. 60), ein Geflecht von Verhältnissen statt Handlungen und Performanzen. Müller-Schöll mobilisiert ein komplexes Netzwerk von Referenzen, die neben Benjamin und Brecht von philosophischen (Derrida, Heidegger) bis hin zu künstlerischen Positionen (Le Roy) reichen. Dass zum Denken des 'Theaters überhaupt' nicht nur die Auftritte von Akteur*innen in Erwägung gezogen werden müssen, sondern auch der gesamte Apparat als Möglichkeitsbedingung szenischer Evokation, werden – wie Lydia J. Whites Close Readings zeigen – im 20. Jahrhundert in zwei theaterbezogenen Texten u. a. durch die Exponierung von Bühnenarbeitern reflektiert. Die Rede ist von Luigi Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor und Bertolt Brechts Der Messingkauf, die – so argumentiert White – "ein Denken über das und mit dem Theater am Schauplatz des Theaters selbst [inszenieren]" (S. 81).
Freddie Rokem erschließt auf – mindestens – drei Ebenen eine Affizierungskraft theatralen Denkens, wenn er auf die Premiere des Habima Studios von S. An-Skis Der Dibbuk 1922 in Moskau verweist und die Figur des Dibbuk, die in der Regel "den Körper einer Person (meist einer Frau) einnimmt und durch ihren Mund spricht" (S. 97) als metatheatrale Figur der Schauspielerei, ja des Soufflierens in Augenschein nimmt. Ferner fördert Rokem – mit Benjamin – auch die geschichtlichen Koordinaten zutage, die dazu beigetragen haben, dass die Inszenierung des Ha Bima (Die Bühne), die über 1000 Mal aufgeführt wurde, zur am häufigsten besprochenen und untersuchten Produktion des hebräischen/israelischen Theaters avancierte und – im Sinne einer Dibbuk-Gestalt – "eine Kultur ohne existierendes Theater-Erbe buchstäblich vom Theater besessen" (ebd.) machte. Ebenfalls für die historischen Dimensionen des Theater-Denkens interessiert sich der norwegische Regisseur Tore Vagn Lid, der Brechts kritische Auseinandersetzung mit den Ideologemen naturalistischen Theaters aufgreift und nach deren aktuellen Resonanzen zur Zeit eines "neuen Realismus" (S. 128) fragt.
Die zweite, mit der Überschrift "Szenische Konstellationen" betitelte Sektion widmet sich dem Denken des Theaters im Register der Philosophie. Die zentrale Stoßrichtung der hier versammelten Beiträge ließe sich daran anknüpfen, was Nikolaus Müller-Schöll in seiner Lektüre von Brechts "Die Straßenszene" als ein "Theater im Text der Theorie" (Müller-Schöll 1999) bezeichnet und als Möglichkeitsraum für das Denken eines zukünftigen Theaters angedeutet hat. Vor diesem Hintergrund ist auch Jörn Etzolds aufschlussreiche Analyse von Benjamins "untragischen Helden" und Hölderlins Empedokles zu betrachten, die nicht mehr auf der klassischen Bühne der Repräsentation in Erscheinung treten. Etzold fragt nach der möglichen Beschaffenheit einer anderen, künftigen Bühne, die er unter dem Konzept der Gegend beschreibt. Einer anti-illusionistischen und -repräsentativen Bühnengestaltung hat sich auch der französische Theateravantgardist Antonin Artaud verschrieben, dessen Theater der Grausamkeit von Timo Ogrzal gleichermaßen als eine Konstellation ins Auge gefasst wird, welche "eher ein Kommen des Anderen und eben nicht seine Präsentation [verspricht]" (S.165). Und Marten Weise versucht in seiner beeindruckend feinfühligen Heidegger-Lektüre trotz des Schweigens des Philosophen zu seiner Idee des Theaters die Konturen eines ebenfalls noch nicht existierenden Theaters aufzuspüren, die man als "Theater der Lichtung oder der passiv verfassten Ek-sistenz" (S. 179) bezeichnen könnte. Im abschließenden Teil des Kapitels öffnet sich die Sicht auf das Denken von Konstellationen jenseits jeglicher herkömmlicher Theatervorstellungen, auf "Kon-Figurationen" (S. 198) aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die nichts anderes als "eine Niederlage des erkennenden, urteilenden Subjekts" (S. 183) bezeugen. Ulrike Haß verschränkt in ihrem Beitrag epistemologische, historische und ästhetische Krisenmomente, die zur Entstehung der Phänomenologie, zur ethnographischen Entdeckung von Mythen als subjektlose Wissensordnungen, zu neuen 'Konstellationen des Mit' in den Künsten oder zu Adolphe Appias 'rhythmischen Räumen' geführt haben und auch in konkreten Kompositionen – wie in Jean-Luc Godards Montageverfahren oder dessen Übersetzung in den Bühnenraum durch Mark Lammert – beobachtbar wurden. All die Positionen der Sektion erschließen Denkbewegungen, die den*die Leser*in aus dem Universum althergebrachter Vorstellungen des Theaters befreien und das Szenische an den Schnittstellen der Philosophie-, Kultur- und Technikgeschichte neu zu entwerfen suchen.
Im dritten Kapitel kommen schließlich künstlerische Praktiken von William Kentridge, Laurent Chétouane und Walid Raad zum Tragen, die ein anderes Denken der Zeit, des Raumes bzw. des Sehens im Theater ermöglichen. Julia Schade bettet ihre aufschlussreiche und politische Lesart von Kentridges Rauminstallation The Refusal of Time in eine facettenreiche Recherche zu Zeitvorstellungen ein und mobilisiert abweichende Ideen von Zeitlichkeit, die von Scholem und Benjamin über Derrida und Hamacher bis hin zu Kentridge und Peter Galison reichen bzw. uns gestatten, Zeit jenseits der bekannten Muster vom Zyklischen und Linearem zu denken. Leonie Ottos Beitrag schließt an die Frage der Neuperspektivierbarkeit von Zeitlichkeit mit der überzeugenden Fundierung eines neuen räumlichen Denkens auf der Bühne an. In Rekurs auf Laurent Chétouanes Choreografie Hommage an das Zaudern gelingt es Otto, das Denken von seinen herkömmlichen Konnotationen (ergebnisorientiert, theoretisch, nahezu körperlos) zu befreien und es als ein räumliches, bewegtes, immer schon in seinem "Bezogen-sein" (S. 226) sich ereignendes, "geteilte[s], zerteilte[s] und verteilte[s] Denken" (S. 228) auf der Bühne zu fundieren. Zum Schluss lädt Leon Gabriel uns zum Denken eines 'Theaters der Affizierbarkeit' ein, wenn er kraft seiner tiefgreifenden Analyse von Walid Raads Scratching on Things I Could Disavow dafür plädiert, die bekannte Sehordnung der Live-Art außer Gefecht zu setzen und Modalitäten des 'Nicht-Sehens' aufzuwerten: "Nichts-Sehen heißt dann, aufnahmefähig für etwas zu werden, das nicht dem Raster des 'Sehens', d. h. nicht der gängigen Wahrnehmung entspricht, darin auch keinen Platz und keine Welt hat." (S. 241)
Will man die hier nur skizzierten Schlaglichter auf 'Das Denken der Bühne' in einen größeren Zusammenhang stellen, dann könnte man bei den vorliegenden Beiträgen von äußerst anregenden Impulsen für das Neu-Denken des Verhältnisses von Theorie und Praxis, Philosophie und Kunst, Rhetorik und Performanz des Theaters sprechen und damit verbunden von einem Plädoyer für ein neues Verständnis des Szenischen, das in den beiden außerordentlich bereichernden und die Publikation rahmenden Aufsätzen Jacques Derridas und Samuel Webers zum Ausdruck kommt und darin besteht, es jenseits seiner ontologischen Bestimmbarkeit und der Stillstellung seiner (Denk-)Bewegungen zu verstehen.
Literatur:
Müller-Schöll, Nikolaus: "Theater im Text der Theorie. Zur rhetorischen Subversion der 'Lehre' in Brechts theoretischen Schriften". In: Brecht 100 <=> 2000. The Brecht Yearbook 24. Hg. v. Maarten van Dijk, Ontario: University of Wisconsin Press 1999, S. 265-276.
Downloads
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Copyright (c) 2020 Adam Czirak
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.
Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.