Patrick Duggan/Lisa Peschel: Performing (for) Survival. Theatre, Crisis, Extremity.

Basingstoke: Palgrave Macmillan 2016. ISBN 978-1-137-45426-3. 252 S., Preis: € 109,99, £ 74,05.

Autor/innen

  • Brigitte Dalinger

Abstract

Performing (for) Survival. Theatre, Crisis, Extremity – schon in diesem Titel spiegelt sich der weite Ansatz des vorliegenden Sammelbandes, der in fünf Teile gegliedert ist. Einleitend erläutern die HerausgeberInnen die Idee der Beiträge, zu erklären, warum sich Menschen in Krisensituationen in „performance communities“ organisieren und wie soziale und ästhetische, sanktionierte und „underground“ Performances als Überlebensmechanismen eingesetzt werden. „Survival“ wird in unterschiedlichsten Bedeutungen verwendet, „ranging from sheer physical survival, to the survival of a social group with its own unique culture and values, to the very possibility of agency and dissent“ (S. 1). Die Beiträge zeigen die Funktionen von Performances als Form des politischen Widerstandes sowie als Möglichkeit einer Gesellschaft in der Krise, sich zu definieren. Der Performance-Begriff wird weit gezogen, von „well-made plays“ bis zum Hungerstreik. Wichtig ist den HerausgeberInnen jedoch das radikale transformative Potential zu vermitteln, das eine Performance in den unterschiedlichsten Kontexten beinhalten kann.

In “Part I Surviving War and Exile: National and Ethnic Identity in Performance” werden Performances während politischer Aufstände in Eritrea bzw. der Tutsis in Verbindung mit ihrer Rückkehr nach Ruanda beschrieben. Christine Matzke analysiert die Funktionen der Theater- und Musikaufführungen der Eritrean Liberation Front (ELF) sowie der Eritrean People’s Liberation Front (EPLF) im Zuge der Befreiungsbewegung von Äthiopien in den 1970er und frühen 1980er Jahren. Beliebt waren Musik und stark verkürzte Theaterstücke, die zur Unterhaltung, für Propaganda und „nation building“ eingesetzt wurden. Breed und Mukaka beschreiben die Arbeiten von Tutsi-KünstlerInnen in der Diaspora, die Performances zum kulturellen Überleben sowie zur intendierten Rückkehr nach Ruanda einsetzten; der Fokus liegt auf den Jahren 1959 bis 1994. In der Analyse der Theaterstücke wird der Rückgriff auf eine mythische Vergangenheit zur Stärkung der gegenwärtigen Identität deutlich. Allerdings zeigt sich in diesen Performances auch deren Problem: sobald die Krise vorüber ist, kann es passieren, dass die performativen Mittel die Zensur eines Einparteienstaats stützen.

In „Part II A Space Where Something Might Survive: Theatre in Concentration Camps” stehen theatrale Aktivitäten in Theresienstadt und Auschwitz im Fokus. Lisa Peschel untersucht die Beziehung zwischen Theater, Trauma und Resilienz anhand von Berichten ehemaliger Häftlinge in Theresienstadt, die 1963 von der Studentin Eva Šormová interviewt worden waren. Diese Berichte bringt Peschel mit den Thesen der Psychiaterin Judith Herman in Bezug, die drei Punkte nennt, um eine Genesung von traumatischen Erlebnissen zu ermöglichen: „they were able to establish a safe space, to create coherent narratives of potentially traumatizing experiences, and to reconnect with themselves, each other, and the world outside the ghetto.“ (S. 59) Da im Ghetto Theresienstadt ab Herbst 1942 Theater- und Kabarettaufführungen erlaubt waren, konnte ein „safe space“ geschaffen werden, der zumindest kurzzeitig die Möglichkeit bot, dem Lageralltag zu entfliehen. Etwas komplizierter ist Hermans Ansatz “to create coherent narratives of potentially traumatizing experiences” (S. 59) in Bezug auf die in Theresienstadt entstandenen Theaterstücke. In den entsprechenden Texten wird indirekt auf die traumatischen Erfahrungen eingegangen, oft durch komische Allegorien, wie Peschel anhand dreier überlieferter Texte belegt. Vereinzelung und Reduzierung einer Person vom Individuum zu einer namenlosen Nummer (für Transporte) gehörte zu den Maßnahmen des NS-Regimes gegenüber den KZ-Insassen. In der Arbeit an einer Theater-, Kabarett- oder Musikaufführung konnte diese Vereinzelung durch die Erarbeitung von Narrativen über die gemeinsame Erfahrung des Lageralltags überwunden werden. Zu diesem Prozess trug auch der Austausch mit den ZuseherInnen bei, deren Individualität ebenfalls gestärkt wurde. Durch die verwendete Sprache – etwa tschechisch – gelang der Zusammenhang mit der tschechischen Nation und damit eine Anknüpfung zur Welt außerhalb des Ghettos.

Die literarischen Werke von Charlotte Delbo, die aufgrund ihres Engagements in der Resistance von 1942 bis zur Befreiung 1945 in verschiedenen Lagern inhaftiert gewesen war, stehen im Fokus von Amanda Stuart Fishers Beitrag. Erst in den 1960er Jahren publizierte Delbo ihre Texte, die weder direkt autobiographisch noch historiographisch sind, sondern als „concentrationary literature“ (S. 80) bezeichnet werden. 1982 erschien ihr Theaterstück Who Will Carry the World? über Auschwitz. Durch die Wahl des Dramas als Form wollte Delbo erreichen, dass die hier aufgezeichneten Erinnerungen auch ausgesprochen wurden, was für die/den Rezipienten eine andere Form der Auseinandersetzung ermöglichte. Ausgehend von Delbos weiteren literarischen Arbeiten über das Leben in den Lagern, werden theatrale Aktivitäten beschrieben. Im Versuch, die Zusammenhänge zwischen Überleben und Theater in Delbos „concentrationary world“ zu verbinden, arbeitet Fisher heraus, dass es auch hier um das Zusammensein ging, das Dasein mit und für die Anderen, das sich der Vereinzelung und Brutalität der KZs entgegenstellte.

Drei sehr unterschiedliche Beiträge finden sich in “Part III Tactics and Strategies: Dissent under Oppressive Regimes”. Cariad Astles beschreibt die Funktionen von Puppenspiel während bzw. nach drei politischen Diktaturen. Macelle Mahala geht auf die Theaterstücke des kongolesischen Autors und Regisseurs Sony Labou Tansi (1947–1995) ein, und Samer Al-Saber auf Zensur und weitere Unterdrückungsmaßnahmen, auf die eine palästinensische Theaterproduktion in Israel stieß. Astles’ Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass Puppen durch ihre Möglichkeit einer grotesken Darstellungsweise besonders dafür geeignet seien, die Absurdität einer politischen Situation abzubilden. Sie belegt dies anhand dreier historischer Beispiele von Puppenspielen in der Tschechoslowakei während der NS-Zeit, zwischen Diktatur und Demokratie nach dem Tod Francos in Spanien sowie in Chile nach Pinochets Diktatur.

Sony Labou Tansis Theaterstücke entstanden zwischen den späten 1970er und der Mitte der 1990er Jahre, während er eine Reihe von politischen Umstürzen und autoritären Regimes erlebte, gegen die er in seinen Werken anzugehen versuchte. Wie Macelle Mahala darstellt, wird er in der Literaturwissenschaft als „African absurd“ und „Afro pessimist“ bezeichnet, was eine Analyse der Texte jedoch nur teilweise bestätigt. Sehr genau geht Mahala auf die Diktaturkritik sowie den kreativen Widerstand gegen eine repressive Gesellschaft in Tansis Theatertexten ein, die er auf ihre grotesken und humoresken Elemente hin untersucht. Samer Al-Saber beschreibt anhand der palästinensischen Produktion Mahjoob Mahjoob von El-Hakawati die Vorgänge rund um die geplanten Aufführungen dieses Theatertexts, beginnend 1979. Ausgehend von Edward Saids Konzept betreffend der Abwehrhaltung, die zionistische Narrative in der westlichen Öffentlichkeit im Vergleich zu den palästinensischen erfahren, zeichnet Al-Saber die Geschichte der Aufführung von Mahjoob Mahjoob bzw. deren Verbote und Schwierigkeiten nach.

„Part IV Coming in from the Outside: Theatre, Community, Crisis“ nimmt eine Sonderstellung in diesem Band ein, da hier nicht eine Gesellschaft in der Krise aktiv wird, sondern diese Tätigkeiten von Außenstehenden in eine „depressed community“ getragen werden. Ein Beispiel ist die von Katie Beswick beschriebene Arbeit der Specially Produced Innovatively Directed Theatre Company (SPID), einer Gruppe professioneller Film- und Theaterleute, die seit 2005 in den verrufenen Kensal House Estates in West London gemeinsam mit BewohnerInnen an Theaterproduktionen und Filmen arbeitet. Graham Jeffrey, Neill Patton, Kerrie Schaefer und Tom Wakeford stellen in der Folge die Arbeit des Theatro Modo im Nordosten von Schottland vor, einer Region mit hoher Jugendarbeitslosigkeit. Anspruch des Theatro Modo ist „high quality engagement in circus, street theatre and carnival arts as a catalyst for individual and community change“ (S. 185). Besonders Jugendliche wurden erfolgreich in dieser Theater- und Kunstinitiative tätig, und Modo konnte Menschen, die kaum eine Perspektive sahen, einen Raum eröffnen.

Hungerstreiks sind eine extreme Form von Performances. Sie als solche zu benennen klingt zynisch, aber: Ein Hungerstreik muss sichtbar sein, um seine Absicht erkennen zu lassen und zu erfüllen und wird demgemäß mit allen medialen Mitteln an die Öffentlichkeit getragen. In „Part V Crisis and Extremity as Performance” geht es um Hungerstreiks in zwei unterschiedlichen Kontexten. Aylwyn Walsh analysiert einen Hungerstreik von 300 MigrantInnen in Athen 2011, mit dem versucht wurde, den Umgang mit MigrantInnen in Griechenland zu thematisieren. Ganz anders waren Ausgangspunkt und Ziele der Hungerstreiks im nordirischen Gefängnis HM Prison Maze in den 1980er Jahren, die von Patrick Duggan u.a. in Hinblick auf ihre performative Seite analysiert werden. Nachdem die britische Regierung 1976 den Status der politischen Gefangenen abgeschafft und diese so auf eine Stufe mit anderen Kriminellen gestellt hatte, kam es zu einer Protestwelle im Maze, die in Hungerstreiks endete, welche 1980 und 1981 zum Tod von zehn Häftlingen führten.

„Coda: Picturing Charlie Hebdo“ von Sophie Nield bildet den Abschluss des Bandes, in dem versucht wird, die Pariser Ereignisse 2015 miteinzubeziehen. Nield weist darauf hin, dass Symbole und Aktionen (hier die Terroranschläge – und Cartoons als ihr angeblicher Auslöser) verknüpft sind. Sie regt dazu an, Formen von Performances auf ihre Materialität hin zu analysieren.

Performances in Extrem- und Krisensituationen werden in diesem Band in ihrer Funktion und Wirkungsweise untersucht sowie ihr transformatives Potential (und deren möglicher Missbrauch in geänderten Kontexten) herausgearbeitet. Die Beiträge basieren auf unterschiedlichsten Materialien, vom gedruckten Theaterstück bis hin zu literarischen Quellen sowie aktuellen bzw. historischen Interviews. In allen finden sich theoretische Fundierungen sowie ausführliche Beschreibungen des Kontexts. Die Details der einzelnen Performances in der jeweiligen Krisen- bzw. Extremsituation zu erfassen, muss aufgrund der Fülle und der Breite der Themen und Länder der Leserin/dem Leser des Bandes vorbehalten bleiben.

Autor/innen-Biografie

Brigitte Dalinger

Freie Wissenschafterin und Lehrbeauftragte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Derzeit wissenschaftliche Aufarbeitung des "Komplex Mauerbach" am Don Juan Archiv Wien.

Studium der Theaterwissenschaft und der Geschichte in Wien; während des Studiums verschiedene Tätigkeiten im Theaterbereich. Intensive Beschäftigung mit dem Thema jüdisches Theater und Dramatik, in Zusammenhang damit Forschungsaufenthalte in Israel und den USA. Habilitation im März 2004.

 Weitere Arbeitsschwerpunkte: Theater im Nationalsozialismus; Theater und Interkulturalität; Theater im 19. und 20. Jahrhundert; Amerikanische und Britische Gegenwartsdramatik.

Publikationen: (Auswahl)

 Brigitte Dalinger: 'Trauerspiele mit Gesang und Tanz.' Zur Ästhetik und Dramaturgie jüdischer Theaterstücke. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2010.

 -: "Interkulturalität, Kulturtransfer und Theaterwissenschaft". In: Weltbühne Wien / World Stage Vienna. Vol. 1: Approaches to Cultural Transfer. Hg. v. Ewald Mengel/Ludwig Schnauder/Rudolf Weiss. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2010, S. 105–115.

 -/Werner Hanak-Lettner (Hg.): Being Shylock. Ein Experiment am Yiddish Art Theatre New York. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien. Wien: Jüdisches Museum der Stadt Wien 2009.

 -: "'Mein Vaterland ist das Volk'. Aspekte zu Figurengestaltung, Theatralität und Aktualität ausgewählter Theatertexte Ödön von Horváths". In: 'Felix Austria – Dekonstruktion eines Mythos?' Das österreichische Drama und Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Malgorzata Leyko/Artur Pelka/Karolina Prykowska-Michalak. o. O.: Litblockin 2009, S. 214–223.

 -: 'Verloschene Sterne'. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Wien: Picus 1998.

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Veröffentlicht

2018-11-15

Ausgabe

Rubrik

Theater