Heidelore Riss: Ansätze zu einer Geschichte des jüdischen Theaters in Berlin 1889-1936.
Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2000 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 30, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Bd. 81). 270 S. ISBN 3-631-36636-1. Preis: DM 79,--.
Abstract
Im vorliegenden Buch gibt Heidelore Riss einen Überblick über die jüdischen Theateraktivitäten, die in den Jahren 1889 bis 1933 in Berlin stattgefunden haben; darüber hinaus beschreibt sie die Folgen der "Machtübernahme" der Nationalsozialisten im Jänner 1933 auf die deutschen Theater sowie die Gründung und die Aufgaben des Kulturbundes Deutscher Juden.
In der Einleitung weist die Autorin auf die schwierige Quellenlage zu diesem bis jetzt vernachlässigten Teil der Theatergeschichte hin. Kurz werden die unterschiedliche Entwicklung des deutschen bzw. osteuropäischen Judentums umrissen und die Entstehung des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" besprochen, der die Juden in Deutschland sammeln, in der "Pflege deutscher Gesinnung" stärken und gegen Antisemitismus gezielt vorgehen sollte. Einen völlig anderen kulturellen Hintergrund und Anspruch als die "deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens" hatten die osteuropäischen Zuwanderer, die vor allem zu Beginn der 20er Jahre nach Berlin gekommen waren und ihre jiddische Kultur und Sprache mitgebracht hatten. Ihnen "war es hauptsächlich zu verdanken, daß Berlin in den zwanziger Jahren zu einem bedeutenden Zentrum jiddischer Publizistik und jiddischen Geisteslebens wurde." (S. 13)
In den folgenden Kapiteln werden die einzelnen - äußerst unterschiedlichen - Formen jüdischen Theaters in Berlin beschrieben, beginnend mit dem Theater der Brüder David Donat (1867-1929) und Anton Herrnfeld (1866-1916). 1890 eröffneten die beiden in Berlin ihr Budapester Possen- und Operettentheater im Saal des Grand Hotels am Alexanderplatz, hier gelang ihnen ihr erster Erfolg - der Erfolg blieb ihnen bis zum Tod Anton Herrnfelds 1916 treu. Die Herrnfelds spielten vor allem in selbst verfaßten Possen und Schwänken, die in einem bürgerlichen Milieu spielten und beim Publikum sehr populär waren; 1906 konnten die Brüder ihr eigenes Theater in der Kommandantenstraße eröffnen. Laut Riss finden sich in den Stücken der Herrnfelds, die Titel trugen wie Der Fall Blumentopf oder Familie Schmock Ansätze zu einer "Berliner Jüdischen Lokalposse"; die Texte hätten sich aber zu wenig vom Vorbild der Lokalposse gelöst, um ein eigenes Genre zu bilden. Interessant ist hier der Vergleich mit der Aufführung - der Beschreibung nach - sehr ähnlicher Dramen in Wien. Diese wurden von seiten der theaterwisschenschaftlichen Forschung durchaus als "Leopoldstädter Jüdische Lokalposse" bezeichnet. Allerdings wurden diese Possen Anfang bis Mitte der 20er Jahre in Wien gezeigt, in den Jahren also, als die Erfolge des Herrnfeldtheaters bereits vorbei waren. Das Ensemble um seinen Bruder Donat hielt sich vor allem als Gastspieltruppe bis 1926.
Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit einem Spielort namens Folies Caprices, der von 1905 bis in die Mitte der 20er Jahre als Auftrittsort unterschiedlichster jüdischer Theaterinitiativen diente, hier waren sowohl deutschsprachige Possen, die im jüdischen Milieu spielten, als auch jiddische Operetten zu sehen.
Abraham Goldfadens Erben im Wilhelminischen Deutschland ist ein weiterer Abschnitt gewidmet, der sich kurz mit der Entstehung und Verbreitung des jiddischen Theaters befaßt und die Truppen, die in Berlin gastierten, umreißt.
Riss versucht nicht nur, jüdische Theateraktivitäten zu dokumentieren, sondern auch die damalige Diskussion um jüdische Kultur und besonders um das jüdische Theater einzubeziehen und damit einen geistigen Hintergrund für das Theatergeschehen aufzuzeigen; in diesem Zusammenhang werden etwa Martin Bubers Beiträge und Vorschläge diskutiert. Deutlich wird die völlig unterschiedliche Haltung assimilierter und zionistischer Juden zur Frage einer jüdischen Kultur und eines jüdischen Theaters. Assimilierte Kreise hatten keinen Bedarf nach einer jüdischen Kultur, jiddisches Theater wurde bestenfalls als ethnografisch interessantes, exotisches Laientheater angesehen, wenn nicht ganz abgelehnt. In diesem Punkt war die Haltung der deutschen Zionisten ähnlich, trotz ihrer Suche nach einer jüdischen Kultur war und blieb ihnen die osteuropäisch-jiddische Kultur fremd. Diese Fremdheit und Ablehnung lösten sich zwar etwas nach dem Ersten Weltkrieg, weil deutsche Juden an der Ostfront mit jiddischer Kultur in Kontakt gekommen waren, die Auswirkungen dieser Kontaktaufnahme blieben im Grunde aber gering. Als populärstes Beispiel mag das Gastspiel der Wilnaer Truppe in Berlin 1921/22 und der Versuch dieses Teils der Wilnaer, hier ein festes Haus zu gründen, gelten. Die ersten Vorstellungen wurden ganz gut besucht, es gab einiges Interesse - doch nach dem ersten Eindruck, der trotz der berühmten Dibbuk-Inszenierung eher schwach ausgefallen war, verebbte das Interesse des Berliner Publikums. Ehemalige Mitglieder der Wilnaer wie Herz Großbarth und Frieda Blumental gastierten noch bis 1928 fallweise in Berlin und Deutschland und spielten bisweilen sogar auf deutschen Bühnen; die in Osteuropa so populäre Wilnaer Truppe konnte aber auf Dauer hier nicht Fuß fassen.
Im weiteren werden von Riss verschiedene kurzlebige Initiativen und Gastspiele besprochen: der Versuch der Gründung eines deutschsprachigen jüdischen Theaters in Berlin 1923 von Felix Ziege-Schier; die kurze Existenz einer hebräischen Truppe unter der Leitung von Menachem Gnessin; auf jiddisches Operettentheater im Berlin der 20er Jahre wird ebenso eingegangen wie auf die Gastspiele der hebräischen Habima und des jiddischen Kammertheaters GOSET 1928.
Der erste Teil des vorliegenden Buches ist vor allem jiddischen bzw. hebräischen Gastspielen und einzelnen deutschsprachig-jüdischen Theateraktivitäten gewidmet; im zweiten Teil geht es um jüdische Schauspieler und deren Schicksal im deutschen Theater nach dem Jänner 1933. Nach einer kurzen, aber sehr interessanten Darstellung einer Initiative des "Centralvereins" gegen Antisemitismus auf den Bühnen ("Die Kabarett-Kampf-Kampagne") beschreibt Riss die unmittelbaren Folgen der "Machtergreifung" in den einzelnen Stadttheatern und Bühnen; zumeist wurden die Intendanten umgehend beurlaubt oder verhaftet, und zwar innerhalb kürzester Zeit, in den Monaten Februar bis Mai 1933. Schon vor dem Jänner 1933 war die Situation der Schauspieler in Deutschland - ähnlich wie in Österreich - trist, viele mußten mehrere Engagements annehmen, um finanziell über die Runden zu kommen. Mit der "Machtergreifung" der Nazis verloren nun alle jüdischen Schauspieler - spätestens mit Einführung der Nürnberger Rassegesetze 1935 - ihre Arbeit, und das jüdische Publikum wurde vom Besuch der deutschen Theater ausgeschlossen. Eine Reaktion auf diese Entwicklung war die Gründung des Kulturbundes Deutscher Juden, der von 1933 bis 1941 in zahlreichen deutschen Städten Theater-, Opern-, Konzert- und Vortragsabende von jüdischen Künstlern für ein jüdisches Publikum abhielt. Die Geschichte des Kulturbunds wurde in den letzten Jahren in einigen Veröffentlichungen dargestellt - in diesem Buch sehr interessant aufgearbeitet ist die Gründungsphase dieser Organisation, die in den ersten Jahren den arbeitslos gewordenen Künstlern zumindest vorübergehend eine Auftrittsmöglichkeit bot. Sehr deutlich wird in Riss' Darstellung, daß der Kulturbund nicht nur eine jüdische Selbsthilfeorganisation war, die vollkommen von der Duldung von seiten der nationalsozialistischen Regierung abhängig war, sondern daß diese Organisation für dieselbe auch als ein gut funktionierendes Überwachungs- und Kontrollorgan fungierte. In der Einleitung schreibt die Autorin, sie hätte "eine Form der Darstellung gewählt, die zwischen der Dokumentation des aufgefundenen Materials und ihrer Einbettung in geistesgeschichtliche Zusammenhänge einen Mittelweg zu finden sucht." (S. 18) In den einzelnen Kapiteln werden die Aktivitäten der Theatertruppen in Berlin, ihre Vorgeschichte und die wichtigsten Linien der Rezeption beschrieben, im Anschluß an die Beschreibungen finden sich Bildmaterialen und Kritiken. Insgesamt eine Art der Theatergeschichte, die mir sehr brauchbar erscheint.
Leider aber gibt es einige Ungenauigkeiten, die vermeidbar gewesen wären: die Vornamen des jiddischen Publizisten Harendorf (nicht Harenberg!) lauten Samuel Jacob; die Schaupieler Mischa und Rosa Appelbaum sowie Berta Liebgold stammten nicht aus Wien, vielleicht hatten sie vor ihrem Berliner Gastspiel hier gastiert; das Drama Die verlassene Schenke wurde von Perez Hirschbein verfaßt. Gerade in Zusammenhang mit jiddischer Dramatik gibt es noch einige Punkte, auf die ich - ohne selbst Jiddistin zu sein - doch hinweisen will, da der Kontext, in dem diese Dramen von Riss genannt werden, zu Mißverständnissen führen könnte. So bespricht die Autorin im Kapitel Jiddisches Operettentheater im Berlin der zwanziger Jahre Schalom Aschs Drama Gott der Rache sehr ausführlich; Gott der Rache ist ein Sprechstück und wurde immer - sogar in der in dieser Hinsicht gar nicht zimperlichen jiddischen Theaterpraxis - als solches inszeniert.
Ebenfalls von Schalom Asch stammt das Drama Der Bund der Schwachen, das 1913 von Max Reinhardt inszeniert und anscheinend von der Kritik verrissen wurde. Dazu zitiert Riss aus einer Besprechung: "Man lasse beide jenseits der Weichsel und uns in die Ferien!" Riss zitiert diesen Satz, um am Schluß ihres Buches zu belegen, wie fremd das osteuropäisch-jiddische Theater den deutschen Juden war, was sicher zutraf. Das Beispiel ist aber schlecht gewählt, da Der Bund der Schwachen weder im jüdischen Milieu spielt noch - meines Wissens - je in jiddischer Sprache inszeniert wurde, also nicht zum osteuropäisch-jiddischen Theater gehört. Der Titel bezieht sich vielmehr auf die schwächsten Mitglieder zweier Familien, einen von seiner Frau verspotteten und verjagten Mann und eine vernachlässigte Ehefrau mit halb verhungerten Kindern, die sich schließlich zusammentun. Keine der Familien lebt im "Städtl" oder ist jüdisch. Daß das Drama 1913 nicht gefiel, könnte eher an dessen sozialem Aspekt liegen als am jüdischen Milieu, das es hier nicht gibt.
Diese Mißverständnisse, die im vorliegenden Buch im Umgang mit der jiddischen Dramatik und Theaterpraxis evident werden, könnten zu einer weiteren und tiefergehenden Auseinandersetzung mit jüdischem Theater in Deutschland führen, zumal auch andere Fragen offenbleiben (etwa nach der Person von Felix Ziege-Schier, der 1923 in Berlin ein deutschsprachiges jüdisches Theater gründen wollte).
Riss bietet einen schon längst überfälligen Überblick über jüdische Theateraktivitäten in Berlin von 1899 bis 1933; und sie bringt äußerst interessante Fakten zur Geschichte der jüdischen Schauspieler an den deutschen Theatern nach dem Jänner 1933; weitere Forschungen und Publikationen zu diesem lange Zeit ignorierten Thema wären äußerst wünschenswert.
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