Joel Berkowitz: Shakespeare on the American Yiddish Stage.

Iowa City: University of Iowa Press 2002. (Studies in Theatre History & Culture.) ISBN 0-87745-800-6. 283 Seiten. Preis: € 33,22.

Autor/innen

  • Brigitte Dalinger

Abstract

Der Hauptteil von Joel Berkowitz' Buch besteht aus fünf Kapiteln, deren jeweilige Überschriften zeigen, welche Dramen Shakespeares auf dem amerikanisch-jiddischen Theater besonders einflußreich waren.

1. "Gordin Is Greater Than Shakespeare": The Jewish King and Queen Lear.
Jacob Gordin begann um 1890 in New York, das jiddische Theater zu reformieren, indem er (seiner Zeit und Umgebung entsprechende) anspruchsvolle Theaterstücke schrieb und gegenüber den Schauspielern und Theaterdirektoren darauf bestand, daß seine Texte möglichst unverändert und ohne Beigaben schwungvoller Lieder oder ähnlichem gesprochen wurden. Vorbild vieler seiner Theaterstücke waren Stoffe aus der Weltliteratur, von den Dramen Shakespeares hatte es ihm besonders King Lear angetan. So entstanden Der yidisher kenig Lir (UA 1892) und Di yidishe kenigin Lir oder Mirele Efros (UA 1898), beides Theaterstücke, die jahrzehntelang im Repertoire jiddischer Bühnen blieben bzw. wie Mirele Efros heute noch gespielt werden. Das Besondere an diesen Texten ist die Art, in der Gordin Shakespeares Stoffe für sein sehr spezifisches Publikum adaptierte. Er nahm das Grundgerüst der Handlung sowie die Hauptpersonen und verlegte beide in ein jüdisches Milieu, wobei er die Aspekte der Handlung hervorhob, die in einem solchen Zusammenhang plausibel waren; im Falle des Lear also eher die Entwicklung bzw. den Zerfall der Familie als die große Politik.

2. Classical Influenza, or, Hamlet Learns Yiddish.
In den 1890er Jahren wollten die Schauspieler beweisen, daß auch "Klassiker" (in jiddischer Sprache) auf der jiddischen Bühne spielbar waren. Der zeitgenössische Dramatiker Moyshe Zeifert beschrieb dieses Verlangen: "All of a sudden, a horrible plague broke out in the theatre world, trampling on everything that had been planted with such energy and at such expense. This plague was called the Plague of the Classics. Our Yiddish actors, who went to sleep one night feeling fresh and healthy in every limb, woke up the next morning deathly ill. They all suddenly caught Classical Influenza." (S. 74). In der Folge wurde nicht nur vom Linguisten Alexander Harkavy über die Brauchbarkeit der jiddischen Sprache im Drama diskutiert, sondern auch Hamlet ins Jiddische übersetzt und aufgeführt. Hier ein Auszug aus einer Übersetzung des Hamlet-Monologs von Harkavy:

Zayn oder nit zayn - dos iz di frage:
Tsi is eydeler far dem gemit tsu laydn
Di shtekh un di fayln fun dem beyzn mazl
Oder aroysgeyn mit gever kegn a yam fun tsores
Un makhn fun zey an end? Shtarbn - shlofn -
Vayter gornisht! (S. 76)

Im Herbst 1893 kamen - mit einem Monat Zeitdifferenz - jiddische Produktionen von Hamlet und Othello heraus, beide Texte waren von Moyshe Zeifert ins Jiddische übersetzt worden. Außerdem gab es einen sehr erfolgreichen "jüdischen Hamlet", das 1899 entstandene Melodrama Der yeshive bokher von Isidore Zolatarevsky, in dem der "yeshive bokher", der Schüler einer Talmudhochschule, nach seiner Heimkehr sehen muß, daß sein Vater, ein chassidischer Rabbi, vor sechs Wochen verstorben war und seine Mutter dabei, dessen Bruder zu heiraten.

3. An Othello Potpourri.
1892, ein Jahr vor der jiddischen Produktion, wurde Othello von Morris Morrison in deutscher Sprache am jiddischen Theater gezeigt. Wenn auch nicht so oft und gerne gespielt wie King Lear und Hamlet (und deren Adaptionen), gehörte Othello nun auch ins Repertoire der amerikanisch-jiddischen Bühnen. Eine Übersetzung aus den 1890er Jahren von Mikhl Goldberg macht klar, daß der Übersetzer auf die Gepflogenheiten des jiddischen Theaters einging, indem er rassistische und sexuelle Anspielungen weitgehend vermied. Berkowitz: "One can only speculate on the reasons for a Yiddish theatre company to be as timid about racial matters as about sexual ones. [...] In the 1890s, however, perhaps the audience of Jews who had so recently immigrated - many fleeing persecution in their countries of origin - had weak stomachs for watching a hero mocked for his racial identity." (S. 120) Othello war auch die Vorlage für Leon Kobrins Der blinder muzikant oder Der yidisher otelo (UA 1903), in dem der blinde Musiker Yozef Finkelshteyn seine Frau aus Eifersucht ermordet.

Ein völlig "nicht-judaisierter" Othello wurde 1929 von Maurice Schwartz' Jüdischem Kunsttheater gezeigt, in einer sehr sorgfältigen jiddischen Übersetzung von Mark Schweid, mit Maurice Schwartz als Jago, Ben-Zwi Baratoff als Othello und Celia Adler als Desdemona. Laut Berkowitz hatte dieses Drama Shakespeares eine "Judaisierung" nicht nötig: "Othello already had the right ingredients without trying to give it a Jewish flavour. If a Yiddish Shakespearean wanted to send a message, he could call King Lear. Or Romeo and Juliet ..." (S. 139)

4. "Parents Have Hearts of Stone". Romeo and Juliet.
Hatte Jacob Gordin die Geschichte von King Lear auch dazu benutzt, seinem Publikum die Folgen der Ignoranz und Mißachtung gegenüber dessen Eltern drastisch vor Augen zu führen, so wurde von späteren jiddischen Übersetzern von Romeo und Julia diese Story dazu benutzt, den Eltern die Folgen des Unverständnisses gegenüber ihren Kindern und deren Wünschen klar zu machen. Gordin hatte seine Lear-Adaptionen gut enden lassen, die Familien söhnten sich aus; die Übersetzungen von Romeo und Julia aber endeten tragisch wie bei Shakespeare. Romeo und Julia regte auch zu einigen Adaptionen an, etwa zu Nokhem Rakovs The Oath on the Torah or The Jewish Romeo and Juliet (UA 1903, wurde in Wien unter dem Titel Der Schwur bei der Torah gespielt), oder Romeo un Dzhuliet von Gershon Einbinder, entstanden 1956.

5. "A True Jewish Jew": A Shylock Quartet.
Erst 1901, einige Jahre nach den bisher genannten Theaterstücken, kam Der Kaufmann von Venedig auf die jiddische Bühne. Das Verhältnis des Publikums zur Figur des Shylock war gespannt: "Perhaps eastern European Jewish immigrants, who had begun coming to America in large numbers only a decade before, were not yet ready for such a delicate exploration of the Jew's position in a Gentile world. Or maybe the play just needed the right actor." (S. 172)

1901 wurde Shylock von Jacob Adler dargestellt, danach von Rudolph Schildkraut, Maurice Schwartz und Maurice Moscovitch. Adlers Zugang zum Kaufmann von Venedig hatte weniger mit Shakespeare, als vielmehr mit seiner Sicht der Rolle zu tun, die auch seinem Repertoire entsprach; in Shylock konnte Adler einen jüdischen Patriarchen darstellen, der von zwei Grundkonstanten geprägt worden war: "high traditions and an endless series of spiritual sufferings." (S. 175) Diese Darstellung des großen Schauspielers kam so gut an, daß er gebeten wurde, am Broadway aufzutreten, als jiddischer Shylock mit einem englischen Ensemble, und auch diese Aufführungen wurden ein Erfolg.

1905 hatte Max Reinhardt den Kaufmann von Venedig in Berlin mit Rudolph Schildkraut in der Titelrolle inszeniert, 1911 zeigte Schildkraut diese Interpretation des Shylock in New York, die von jiddischen Theaterkritikern und -besuchern nicht nur positiv aufgenommen wurde. Sehr problematisch war die Interpretation des Shylock durch Maurice Moscovitch, einem jiddischen Schauspieler aus London, der 1930 in dieser Rolle am Broadway gastierte. Im Gegensatz zu Adler, Schildkraut und Schwartz versuchte Moscowitch keine positive Interpretation der Rolle, was einen interessanten Paradigmenwechsel in der jiddischen Theaterkritik zur Folge hatte. Erstmals, so Berkowitz, setzten sich die Kritiker mit Shakespeare so auseinander, als sei er ihnen vertraut: "The very fact that Yiddish critics no longer place Shakespeare on so high a pedestal indicates the extent to which they have welcomed him as one of their own; contempt implies familiarity." (S. 194) Zuletzt sei noch folgende Adaption der Shylock-Figur für die jiddische Bühne genannnt: Shaylok un zayn tokhter von Maurice Schwartz nach einer hebräischen Novelle von Ari Ibn Zahav (UA 1947). Diese Adaption mit Maurice Schwartz in der Titelrolle war vom Holocaust beeinflußt, ebenso wie die weitere Rezeptionsgeschichte des Kaufmanns von Venedig auf der amerikanisch-jiddischen Bühne, die nicht mehr stattfand. 1959 lehnte Maurice Schwartz ab, als Shylock aufzutreten: "It's definitely an anti-Semitic play," sagte er, "and I would not do it." (S. 205)

In der Zusammenfassung seiner Untersuchung geht Berkowitz darauf ein, warum Shakespeares Theatertexte so reizvoll für jiddische Dramatiker, Schauspieler und das Publikum waren. Den Dramatikern boten sie ausreichend Plots und Material, das in einigen Fällen zu sehr eigenwilligen, von der Vorlage völlig "losgelösten" Dramentexten, aber auch zu anspruchsvollen Übersetzungen ins Jiddische führte. Den Schauspielern boten sie hervorragende Rollen, in denen sie brillieren konnten; dem Publikum wiederum wurde nicht nur Unterhaltung, sondern auch Bildung und Aufklärung geboten, die zu vermitteln vielen jiddischen Dramatikern ein Anliegen war. Berkowitz' Buch macht klar, daß die jiddischen Theater und Dramatiker zwar einerseits in einer engen Kultur lebten, es aber andererseits immer wieder schafften, diese Enge zu überwinden, indem sie Werke aus einer nichtjüdischen, "fremden" Kultur, hier die Theaterstücke Shakespeares, in ihre Welt einbezogen und diese dadurch erweiterten und ihr Publikum bildeten. Zudem ist das Buch für alle, die an Shakespeare oder am jüdischen Theater oder an beidem Interesse haben, vergnüglich zu lesen und unbedingt zu empfehlen.

Autor/innen-Biografie

Brigitte Dalinger

Freie Wissenschafterin und Lehrbeauftragte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Derzeit wissenschaftliche Aufarbeitung des "Komplex Mauerbach" am Don Juan Archiv Wien.

Studium der Theaterwissenschaft und der Geschichte in Wien; während des Studiums verschiedene Tätigkeiten im Theaterbereich. Intensive Beschäftigung mit dem Thema jüdisches Theater und Dramatik, in Zusammenhang damit Forschungsaufenthalte in Israel und den USA. Habilitation im März 2004.

Weitere Arbeitsschwerpunkte: Theater im Nationalsozialismus; Theater und Interkulturalität; Theater im 19. und 20. Jahrhundert; Amerikanische und Britische Gegenwartsdramatik.

Publikationen:

(Auswahl)

Brigitte Dalinger: 'Trauerspiele mit Gesang und Tanz.' Zur Ästhetik und Dramaturgie jüdischer Theaterstücke. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2010.

-: "Interkulturalität, Kulturtransfer und Theaterwissenschaft". In: Weltbühne Wien / World Stage Vienna. Vol. 1: Approaches to Cultural Transfer. Hg. v. Ewald Mengel/Ludwig Schnauder/Rudolf Weiss. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2010, S. 105–115.

-/Werner Hanak-Lettner (Hg.): Being Shylock. Ein Experiment am Yiddish Art Theatre New York. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien. Wien: Jüdisches Museum der Stadt Wien 2009.

-: "'Mein Vaterland ist das Volk'. Aspekte zu Figurengestaltung, Theatralität und Aktualität ausgewählter Theatertexte Ödön von Horváths". In: 'Felix Austria – Dekonstruktion eines Mythos?' Das österreichische Drama und Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Malgorzata Leyko/Artur Pelka/Karolina Prykowska-Michalak. o. O.: Litblockin 2009, S. 214–223.

-: 'Verloschene Sterne'. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Wien: Picus 1998.

Veröffentlicht

2003-04-01

Ausgabe

Rubrik

Theater

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