Hermann Schlösser: Welttheater auf engem Raum. Die Entdeckung der internationalen Moderne auf den Wiener Kellerbühnen der Nachkriegszeit.
Wien: Klever Verlag 2020. ISBN: 9783903110663. 212 Seiten, 20,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-1-05Abstract
Die Theaterlandschaft, insbesondere die Kellerbühnen der Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien, stehen im Fokus von Hermann Schlössers Welttheater auf engem Raum, erschienen in der Programmschiene Essay des renommierten Literaturverlag Klever. Der Germanist, Anglist und Feuilleton-Redakteur Hermann Schlösser nähert sich den randständigen, aber doch für diese Jahre und darüber hinaus sehr prägenden Theaterinitiativen in drei Kapiteln.
In "I. Kunstgenüsse in Trümmern oder die Last der Geschichte" stellt er den Kontext dar, in dem die verschiedenen Schauspielinitiativen in kleinen Räumlichkeiten bzw. Kellern tätig waren. Erste Abschnitte sind den historischen Gegebenheiten, einem Rückblick auf die NS-Zeit sowie der "Aufklärung von oben: Kulturstadtrat Matjeka" gewidmet. Die "Neuen moralischen Forderungen an die Kunst" werden am Beispiel Gerhart Hauptmanns und dessen Nähe zum NS-Regime abgehandelt, die Stadtrat Viktor Matejka verurteilte. Insgesamt wollte der kommunistische Kulturstadtrat an die Jahre vor 1938 anknüpfen, der Neuanfang wurde als Ergänzung des Wiederaufbaus gesehen. Damit stand Matjeka nicht allein, sondern, wie Schlösser im "Fazit Nr. 1: Keine 'Stunde Null', aber ein Neubeginn" schreibt: "In fast allen 'Lagern' standen die Jahre nach 1945 im Zeichen einer Rückbesinnung auf Gedanken und Konzepte der Zeit vor 1938" (S. 52). Um dann zu ergänzen, dass sich vor allem in den Wiener Kleintheatern Einiges tat, das von Schauspieler*innen sowie Theaterbesucher*innen als neu empfunden wurde, und dass er sich im Rückblick "auf die Suche nach neuen theatralischen Vorstellungen (in des Wortes doppelter Bedeutung) begeben" (S. 53) habe.
Im zweiten Kapitel, "Theaterleben in Kellern und anderswo oder die kleinen Freiheiten der Schauspielkunst", wird das Studio der Hochschulen zum Thema, dem der Kulturreferatsleiter Friedrich Langer vorstand und welches seinerseits ein Organ der Österreichischen Demokratischen Studentenschaft war. Das Studio der Hochschulen war bis 1950 höchst aktiv, wenn auch bei hoher Fluktuation der Beteiligten. In diesen Jahren der knappen Essensrationen und ausgebombten Wohnungen bot es einen sozialen Raum und vor allem: Man konnte hier spielen. Schlösser beruft sich auf die Dissertation von Heide Jandl, die die Spielfreude dieser Generation auch damit begründete, dass diese während der Kriegsjahre kaum Gelegenheit für Spiel und Freude gehabt hätte. Als erste Produktion wurde im Studio Hofmannsthals Der Tor und der Tod gebracht, kombiniert mit seinem Einakter Die Frau am Fenster. Danach begann das Ensemble vor allem neue und unterhaltsame Theaterstücke aufzuführen, wenig Platz blieb dabei für Theorien und Konzepte. Als prägend für die ersten Jahre des Studios sind die Schauspielerin und Regisseurin Hilde Weinberger, der Regisseur Michael Kehlmann und der Dramaturg Kurt Hirschfeld zu nennen. Hirschfeld war es auch, der die Studierenden mit den Theateransätzen Bertolt Brechts vertraut machte und sie an neue und moderne Autor*innen heranführte. Ende der 1940er Jahre begann sich der Anspruch des Studios zu ändern, statt wahlloser Spielplanzusammenstellung suchte das Ensemble die Diskussion und aktive Stellungnahme seitens des Publikums.
Schlösser beschreibt die "Theaterinflation", die sich von 1946 bis 1950 abzeichnete, und führt eine Liste von 32 Spielstätten an – vom Burgtheater bis zum Theater in Dornbach –, die zeigt, dass auch in den äußeren Bezirken Schauspielinitiativen tätig waren. Natürlich hatten in diesen Jahren auch die Besatzungsmächte Einfluss auf die Theater und auf eine "ästhetische(n) Neuausrichtung des Wiener Publikums" (S. 71). In diesem Zusammenhang wird auf das Neue Theater in der Scala (in der Favoritenstraße) eingegangen, als von der KPÖ und der Sowjetunion gefördert; und auf das Kosmos-Theater (in der Siebensterngasse), das von der amerikanischen Besatzungsmacht konzipiert und betrieben wurde.
Die Programmatik des Scala Theaters als einzigem Theater in Wien, das sich mit der NS-Vergangenheit, Widerstand und Kaltem Krieg auseinandersetzte, ist bekannt. 1956, nach Abzug der sowjetischen Truppen, musste das große Haus (1200 Sitzplätze) schließen; die Mitglieder des Ensembles wurden jahrelang aufgrund ihrer angeblich kommunistischen Orientierung diskriminiert. Das für den US-amerikanischen Way of Life werbende Kosmos-Theater bestand von 1950 bis 1954. Es versuchte, dem Vorurteil des vermeintlich kulturlosen und banalen Amerikaners entgegenzuspielen. Populäre Programme, Musicals und anspruchsvolle Theaterkunst - etwa von Thornton Wilder und Eugene O’Neill - wechselten einander ab und kamen beim Publikum gut an.
In den ersten Nachkriegsjahren stand der Nachholbedarf an neuer und interessanter Dramatik im Vordergrund der Theaterarbeit, doch erst in den folgenden Jahren begannen die Theaterkünstler*innen sich auch mit den Bereichen Dramaturgie, Theatertheorie sowie mit neuen Autor*innen und Ästhetiken auseinanderzusetzen. Als besonders rege sind in diesem Zusammenhang die Insel (von Kriegsende bis 1951 in der Johannesgasse untergebracht) als ein "Theater der Dichtung" sowie das Studio des Theaters in der Josefstadt zu beschreiben, in dem das Publikum zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder auch mit zeitgenössischen Theaterformen herausgefordert wurde. Im "Fazit Nr. 2: Keine Avantgarde, aber eine Boheme" geht Schlösser besonders auf die Schauspieler*innen, Bühnen- und Kostümbildner*innen sowie Regisseur*innen ein. Er beschreibt sie als junge Menschen, die sich enthusiastisch für ihre Theaterinitiativen einsetzten, aus "Liebe zum Theater" und "Lust am Spielen" (S. 120), wie die Schauspielerin Bibiana Zeller das erinnert. Sie und etwa Helmut Qualtinger, Karl Heinz Böhm, Elfriede Ott und Louise Martini gehörten zu den Schauspieler*innen, die die folgenden Jahrzehnte österreichischer Theater-, Film- und (später auch) Fernsehproduktionen prägten.
Im dritten Kapitel "Von Hofmannsthal bis Beckett oder die internationale Moderne auf den Spielplänen der Wiener Kleinbühnen" folgt ein Überblick über die Spielpläne, in dem die Inszenierungen von Theaterstücken amerikanischer, britisch-irischer, französischer, russischer Herkunft belegt werden. Dabei kamen die Kellertheater oft nicht an attraktive Dramen heran, da die Tantiemen zu hoch oder die Texte schon an große Theater vergeben waren.
Die Wiederkehr der Moderne, so Schlösser, zeigte sich anfangs in den Aufführungen bereits vor 1938 bekannter bzw. gespielter Theatertexte. Exemplarisch geht er auf ausgewählte Inszenierungen ein, wie Hofmannsthals Der Tor und der Tod und George Bernard Shaws Zu wahr um schön zu sein. Diese Rückgriffe auf bekannte Stücke hatten auch theaterpraktische Gründe, beide Autoren blieben im weiteren Repertoire aber kaum mehr präsent. Anders Thorton Wilder, der "in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu den meistgespielten Theaterautoren Westeuropas" (S. 159) gehörte. Geht es im Einakter Das lange Weihnachtsessen um einen ungewöhnlichen Umgang mit der Zeit, so sprach sein Drama Wir sind noch einmal davongekommen das Publikum sehr unmittelbar an, da es von einer Familie handelt, die von der Eiszeit bis zum Zweiten Weltkrieg alle Katastrophen übersteht. Erfolgreich wurde auch Our Town (Unsere kleine Stadt) inszeniert, nach Peter Szondi ein Theaterstück, das "kühn im Formalen" (S. 163), aber schlicht in der Aussage sei und daher sowohl im Theater in der Josefstadt als auch in dessen Studio aufgeführt wurde.
Die vierte Darstellung und Analyse einer Neuaufführung gilt Jean-Paul Sartres Bei geschlossenen Türen (heute meist unter dem Titel Geschlossene Gesellschaft zu sehen). Nach einer Inhaltsanalyse umreißt Schlösser Sartres Ansätze zu Theater und Theorie sowie den Existenzialismus und dessen Anhänger*innen in Wien. Bekannt war der Art Club, der von 1947 bis 1959 in der Kellerbar namens Strohkoffer als Künstler*innentreffpunkt fungierte und in den der Existenzialismus zumindest in Form schwarzer Rollkragenpullover einzog. "Auch die Keller-, Bar- und Nikotin-Atmosphäre der Kleinbühnen war auf Existenzialismus eingestellt. Es wurde geraucht und diskutiert und die Dramen Sartres wurden auch gespielt", so Schlösser (S. 174). Geschlossene Gesellschaft etwa in fünf Inszenierungen, zudem wurden Die Fliegen aufgeführt. Die schmutzigen Hände sollten 1952 im Theater am Parkring inszeniert werden, was der Autor jedoch untersagte, da es ihm im Rahmen des Kalten Krieges zu missverständlich erschien.
Samuel Becketts Warten auf Godot, am 8. April 1954 im Theater am Parkring erstmals in Wien gezeigt, wurde mehrmals wiederholt und diskutiert. Die Kritiker*innen reagierten verständnislos auf die Handlungsarmut und Absurdität des Stückes, laut einem der Schauspieler – Otto Schenk – waren die Beteiligten und das Publikum jedoch sehr angetan. Schenk sieht einen gravierenden Vorteil der Kellertheater gegenüber den großen Bühnen: Die absurde Dramatik von Ionesco bis Beckett zu spielen war ein Wagnis, dass nur die kleinen Theater eingingen, was ihr besonderer Verdienst sei.
Schlösser schließt seinen Band mit einer Reflexion über die Schwierigkeit, über Theater bzw. gar eine ganze Theaterepoche zu schreiben, und erläutert den Aufbau des Buches und die Wechselwirkungen zwischen den Kapiteln, die auch beim Lesen deutlich hervortreten. Sehr gut gelungen ist der Umgang mit den vielfältigen Quellenmaterialien: Zahlen und Fakten werden genannt und durch Ausschnitte aus Tagebüchern und Gesprächen ergänzt, was zur Lebendigkeit der Darstellung entscheidend beiträgt. Auch geht der Autor auf die vorhandene Forschung bzw. Sekundärliteratur ein, wie etwa die Arbeiten von Evelyn Deutsch-Schreiner und Herbert Lederer; ein Gespräch mit der Dramaturgin Angela Eder (heute Heide), die über die Insel dissertierte, führt er zusätzlich als Quelle an. Zu einzelnen Themengebieten gibt es Literatur, die als Ergänzung interessant wäre, so etwa in Zusammenhang mit Heinz Hilpert der von Gerald M. Bauer und Birgit Peter herausgegebene Band Das Theater in der Josefstadt: Kultur, Politik, Ideologie für Eliten? (Wien 2010).
Hermann Schlössers Welttheater auf engem Raum beschreibt die Bedingungen und den Kontext, in dem erste Theatergründungen in Wien nach 1945 einsetzten, zugleich werden die Fülle der Spielstätten und die Spielpläne vorgestellt. Einzelne Ensembles wie das Studio der Hochschulen werden detailliert beschrieben, aber auch auf die Motivation der Schauspieler*innen und das sich erst langsam entwickelnde Bewusstsein über neue Theorien und Ansätze in Dramatik und Theater wird eingegangen. Interessant sind die Abschnitte zu den einzelnen Inszenierungen, ihrer Ästhetik und Rezeption sowie ihren zeitgenössischen Kontexten. Damit bietet Hermann Schlösser einen interessanten und kurzweilig zu lesenden Ein- und Überblick in die Theaterszene der Nachkriegsjahre; beides wurde erstmals unternommen und füllt so ein Forschungsdesiderat.
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