Freddie Rokem: TheaterDenken. Begegnungen und Konstellationen zwischen Philosophie und Theatermachern.

Berlin: Neofelis 2017. Übers. v. Mayte Zimmermann, mit einem Vorwort von Nikolaus Müller-Schöll. ISBN: 978-3-95808-048-5. 290 S., Preis: € 26,–.

Autor/innen

  • Monika Meister

Abstract

Theater und Philosophie sind von Beginn an im Terrain des Denkens situiert. Als Ausdruck existentieller In-Frage-Stellung des Menschen und der Welt erheben sowohl das Theater als auch die Philosophie den Anspruch, Möglichkeitsräume zu entwerfen, die nicht zur Gänze in der Realität aufgehen. Dieser Tatsache ist der Theaterwissenschaftler Freddie Rokem genauer nachgegangen und analysiert in seinem Buch TheaterDenken – im Original aus 2009: Philosophers and Thespians: Thinking Performance – konkrete Konstellationen von Performance und Denken. Dies ist in der fachspezifischen Forschung selbstredend nicht neu, Philosophie und Theater bilden seit der Antike geradezu Konstanten der theoretischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Auch konstituierten sich in den letzten Jahren Formate wie Lecture Performances, die das Denken auf der Bühne in Szene setzen und philosophische Texte werden in Hinblick das ihnen immanente theatrale Potential erforscht. Körper und Denken im szenischen Raum stellen mithin permanent neue Herausforderungen dar, denen in höchst differenten Analysen begegnet wird. 

Die Studie des renommierten, auch in Helsinki, Chicago und Frankfurt am Main lehrenden und 2015 an der Universität Tel Aviv emeritierten israelischen Theaterforschers nimmt es nun in Angriff, in immer neuen Ansätzen und an ausgewählten Konstellationen dem Potential dieser Formation nachzugehen.

Der Band ist in zwei große Teile gegliedert: "Begegnungen" und "Konstellationen". Leider fehlen im Inhaltsverzeichnis zum Teil die den Text strukturierenden einzelnen Unterkapitel-Angaben. Man findet sich in der Lektüre dann dennoch zurecht, da die Untersuchung mit ihren großen historischen Blöcken systematisch gebaut ist. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf einen so bezeichneten "Schwellenraum", in dem die Praktiken von Theater und Philosophie in den Blick genommen werden: einen "ludischen Schwellenraum", in dem "beide Dialogpartner die Übernahme der je anderen Praktik begehren" (S. 25). In solchem Denken konstituiert sich genau der Raum eines 'Dazwischen', das weder in Konkurrenzverhältnissen aufgeht, noch sich als Amalgamprozess in ein anderes auflöst. Theater und Philosophie bleiben bei sich, eben weil sie ins andere Diskursfeld sich ausdehnen. Das bedeutet, dass es immer auch darum geht, die Frage der Darstellung, die poetischen und philosophischen Verfahren, die techné zum Thema zu machen. 

Der Beginn ist mit Platons Das Gastmahl gesetzt, in jenem dialogischen Feld des Wettkampfes, des agons, der das Theater, die Anordnung des theatralen Festes, bestimmt. Sokrates, Agathon und Aristophanes sind die Protagonisten der Auseinandersetzung im wörtlichen Sinne, präzise: des Dialogs. Sokrates zeigt sich als überlegen insofern er der Philosophie die Kapazität zuschreibt, Tragödie und Komödie darstellen zu können, die Dichter hingegen jeweils nur eine Form beherrschen würden. Freddie Rokem zeigt nun eine wichtige intertextuelle Referenz auf: jene des Rätsels, was der Mensch sei. Die Verbindung von platonischem Dialog und Sophokles' König Ödipus verweist auf Grundlegendes. Der Rätsellöser Ödipus entdeckt im Fortgang des Geschehens der Tragödie seine 'verschüttete' Identität und damit steht er von Beginn an paradigmatisch als Erforscher, als vom Wissen-Wollen Getriebener, im Zentrum der Anordnungen von Denken und Erkennen beziehungsweise der blinden Flecken. Und dies obwohl Ödipus' Körper gezeichnet ist durch das Mal des Schwellfußes, das auf seine Herkunft verweist.

Hamlet "als Philosoph und Theatermacher" (S. 95) ist Gegenstand des zweiten Abschnittes der Studie. Das "Wer da?" des Bernardo eröffnet das Schauspiel und verweist sogleich auf eine vielfach verzweigte Raum- und Zeitstruktur und damit auf die das Theater konstituierende Ambivalenz von Hier und Jetzt und dem Abwesenden. Im Auftritt des Geistes finden wir dieses Spiel wiederholt, da und nicht-da, lebendig und tot zugleich. Für Freddie Rokem repräsentiert Shakespeares Hamlet "komplexe Multiperspektiven" (S. 98), die in beständiger Veränderung "eine Art Metadialog zwischen den dramatischen Charakteren – besonders Hamlet und Polonius – dem Protagonisten und den impliziten Stimmen von Autorität und Autorschaft" (ebd.) etablieren. Deshalb hat Hamlet "seine einzigartige Position im anschließenden philosophischen wie auch theatralen Diskurs erlangt" (ebd.). Hamlet als "philosophierender Held" (S. 31), wie ihn Rokem in der Einleitung nennt, eröffnet einen szenischen performativen Denkraum, dem sich nicht nur Goethe, Sigmund Freud, Jacques Lacan widmeten, sondern auch Hegel, Nietzsche, Marx und Jacques Derrida. Denken und Spielen treffen in Hamlet so unvergleichlich aufeinander, stoßen sich zu, dass das Denken buchstäblich den Körper des Protagonisten kontaminiert und mit Melancholie überzieht. Rokem spannt den Bogen bis zu Wittgensteins berühmtem Diktum "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen". In Hamlet wird das Denken körperlich präsent, mithin als performative In-Szene-Setzung zum Paradigma des Zweifels am Sein und der Welt. Hamlets "O schmölze doch dies allzu feste Fleisch / Zerging' und löst' in einen Tau sich auf!" nimmt die elementare Materialität des Körpers beim Wort und transformiert diese ins Nichts, ins Verschwinden. 

Die dritte und vierte Abhandlung des ersten Teils des Buches setzt sich mit zwei Begegnungen auseinander, dem Briefwechsel zwischen Friedrich Nietzsche und August Strindberg und der von Bertolt Brecht und Walter Benjamin im dänischen Exil 1934 geführten Diskussion zu Kafkas kurzem Prosatext Das nächste Dorf. Den Briefwechsel zwischen dem Philosophen und dem Dramatiker bezeichnet Rokem als "komplexen Performance-Dialog" einer "Selbstinszenierung" (S. 33), einer, könnte man sagen, Selbstvergewisserung im Horizont des Verschwindens. Der Schwellenraum des Ich ist hier in Szene gesetzt; Nietzsche und Strindberg, vermittelt und kommentiert von Georg Brandes, stellen einen Introitus der Moderne dar. Strindbergs radikaler szenischer Raum des Traumspiels beispielsweise, das filmische Verfahren antizipiert, und Nietzsches die Philologie vehement überschreitendes und die Philosophie eroberndes Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik bilden gleichsam die Eckpunkte eines Diskurses, der den Wahnsinn umkreist. Gleichzeitig ist damit eine Grenze markiert, welche die Bestimmung des als autonom verstandenen Subjekts nachhaltig erschüttert. 

Die Kafka-Auseinandersetzung von Brecht und Benjamin stellt eine konzentrierte, auf den 29. August 1934 fokussierte Bestandsaufnahme des Denkens und Arbeitens im Exil dar. Eine Begegnung, die erhöhte Aufmerksamkeit gewinnt, ist doch das Exil der Ort des Denkens, des Experimentierens im unsicheren Terrain. Die Fotografien der beiden in einem Garten Schach spielenden Denker zeigen den Gestus eines hellwachen Versunkenseins im Augenblick. Freddie Rokem nimmt diese Begegnung zum Anlass der Reflexion über das epische Theater Brechts und die Geschichtsphilosophie Benjamins. Die Engführung auf eine dokumentierte und vielfach interpretierte Kafka-Lektüre bildet denn auch den Übergang zum zweiten Teil des Buches, den "Konstellationen". 

In den "Konstellationen" bringt Rokem Denkbilder, Katastrophen, Unfälle und Geschichtsformationen in einen Zusammenhang, um das performative Potential des Philosophierens zu untersuchen und die philosophischen und theatralen Praktiken bis zum Zweiten Weltkrieg beispielhaft zu analysieren. Es liegt nahe, Brecht und Benjamin als jene Instanzen aufzurufen, die seismografisch gesellschaftliche Prozesse analytisch verdichteten und zugleich den Körper als Denken und Sein in unterschiedlichen Praktiken behaupteten. Brechts "Straßenszene", der Messingkauf insgesamt, ausgewählte Theatertexte Brechts und Benjamins Texte zum epischen Theater neu zu lesen ist ein Gewinn, erfassen sie doch eine Dimension des Verhältnisses von Denken und Theater, die Brechts Diktum des "höchsten Standard technisch" (Brecht, GBA 26: Journale I, S. 330) realisiert. Diesem hohen, das 'kurze' 20. Jahrhundert in seinen Schrecken und utopischen Entwürfen repräsentierenden Niveau der Texte und Begegnungen Brechts und Benjamins entspricht auch die Gegenüberstellung von Picassos Guernica und Benjamins Denkbildern. Das 'Genre' des Denkbildes ansprechend, zitiert Rokem die Definition von Sigrid Weigel, demnach Denkbilder solche seien, "in denen sich die Dialektik von Bild und Denken entfaltet und sichtbar wird" (S. 244). Dieses Potential bestimmt denn auch das letzte Kapitel des Buches, in dem Benjamins performative Erzählstrukturen betrachtet werden und deren Rezeptionspotential mitgedacht wird. Paul Klees Angelus Novus und Benjamins Text zu diesem Bild, in dem der Begriff der Geschichte sich sinnlich vermittelt, ist ein solches Denkbild.

Im letzten Kapitel wendet der Autor die Struktur des Performativen auf die "Erzählungen" Walter Benjamins an, auf das Verfahren des Schreibens, das in die Trias aus "Wünschen, Versprechen und Drohungen" (S. 251) eingespannt ist. Und Rokem schließt mit einem Bild aus Becketts Warten auf Godot: "[A]ll die toten Stimmen" mit ihren "engelsgleichen Qualitäten", die "rauschen wie Flügel" (S. 272) erinnern an die Gleichung von Leben und Sprechen.

Freddie Rokems Buch stellt eine überaus anregende Lektüre dar, die virulente Formationen von Philosophie und Theater in alten und neuen Variationen durchdenkt und dabei das Konkurrenzverhältnis der beiden performativen Strategien in den Hintergrund drängt. In der Darstellung werden vielmehr die gegenseitigen Inspirationsräume privilegiert. Körper und Intellekt, Denken und Spielen in dieser Form zu analysieren, eröffnet Möglichkeiten zur Intervention, zur Erkenntnis des Dazwischen, das die Grundlage kritischen Eingriffs ist. Überdies verdichtet die von Freddie Rokem eingebrachte Perspektive des Exils die Einsichten in die performative Verfasstheit von Theater und Philosophie.

Autor/innen-Biografie

Monika Meister

Studium der Theaterwissenschaft, Ethnologie und Philosophie an der Universität Wien. Dissertation über den Theaterbegriff Robert Musils, 1992 Habilitationsschrift über die Katharsis im Theoriediskurs der Jahrhundertwende. Schwerpunkte der Forschungs- und Lehrtätigkeit: Theater der Antike, Theater der Klassik und Romantik, Wiener Moderne und Psychoanalyse. Theoriegeschichte des Theaters, Theater und Ästhetik, Dramaturgie des Gegenwartstheaters.

Mitherausgeberin der Zeitschrift Maske und Kothurn.

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Veröffentlicht

2018-11-15

Ausgabe

Rubrik

Theater