Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater.

Berlin: Alexander 2013. ISBN 978-3-89581-308-5. 736 S. Preis: € 68,–.

Autor/innen

  • Monika Meister

Abstract

Die großangelegte und weit ausgreifende Studie Tragödie und dramatisches Theater von Hans-Thies Lehmann, ein profundes Opus magnum, fokussiert die poetische Konstruktion sowie theatrale Ausdrucksformen der Tragödie, des Tragischen und des Dramas sowie gegenwärtige szenische Formen der Tragödie und des Tragischen. Das opulente Buch spannt einen weiten historischen Bogen vom antiken griechischen zum postdramatischen Theater und stellt ein am Material elaboriertes Instrumentarium des Denkens des Theaters dar. Die Intention dieser Diskursgeschichte und ihrer auf jahrzehntelangen Forschungen basierenden Untersuchung scheint die Rückgewinnung der theatralen Dimension des Gegenstandes zu sein.

Mit scharfem wissenschaftlichen Zugriff und feinsinnigem Wahrnehmungsvermögen gelingt Hans-Thies Lehmann, das Tragödien-Theater und mithin die tragische Erfahrung in historischen, kulturellen und ästhetischen Kontexten neu zu denken, insofern in ihnen die grundlegende Differenz zwischen Tragödie und Drama, deren ästhetische Formulierung und Rezeption lesbar werden. Damit greift der renommierte und international nicht allein durch seine Studie Postdramatisches Theater bekannte Theaterwissenschaftler eine Thematik auf, die den Blick mittels subtiler Analysen geschichtlicher Bruchlinien in die Mitte zeitgenössischer Debatten um Erzähl- und Darstellungsformen des Theaters und der performativen Künste richtet.

Weit entfernt scheint uns die Tragödie, bis in die Anfänge des europäischen Theaters in der griechischen Antike zurückreichend – vor allem in der Renaissance, der französischen und Weimarer Klassik zu neuer Blüte gebracht –, aber dennoch in aller ambivalenter Differenz zu den Ursprüngen des tragischen Diskurses sich etablierend. Und zugleich nah, hier und jetzt verhandelt etwa in Elfriede Jelineks Theatertexten, allen voran und zuletzt den Schutzbefohlenen, die Aischylos' Die Schutzflehenden aufrufen. Es geht auch in Lehmanns Perspektive nicht um die Aktualisierung des Stoffes, sondern darum, in den Texten und deren szenischer Transformation die jeweilige Gegenwart zu entdecken, beziehungsweise den Modus und die Qualität des Tragischen in ihren Ausdrucksformen kenntlich zu machen.

Das der Studie vorangestellte Motto, "Nur das Übertriebene ist wahr", verweist auf eine zentrale Wurzel der intellektuellen Sozialisation der 1968iger-Generation, auf Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule. Lehmann studierte Ende der 1960er-Jahre in Berlin bei Peter Szondi und die hier erfahrene scharfe Begriffsarbeit am Drama und Dramatischen in ihren historischen Konstellationen ist allen seinen Texten abzulesen. Hier wird uns keine Entwicklungsgeschichte der Tragödie und des Dramas geliefert, sondern – wie Lehmann eine seiner leitenden Hypothesen formuliert – es soll gezeigt werden, wie sich "die quer durch die Epochen des europäischen Theaters wiederkehrende Motivik des Tragischen artikuliert […], im Rahmen einer jeweils spezifisch gearteten Theatralität" (S. 18). Dieses Verfahren ermöglicht die Unterscheidung von prädramatischer, dramatischer und postdramatischer Tragödie, immer in Hinblick auf einen Theatervorgang. Voraussetzung dafür ist, dass es, wie Lehmann festhält, keine tragische Erfahrung ohne Theatererfahrung gibt. "Es [das Tragische] ist als Erfahrung strikt an eine performative Wirklichkeit, an ein Theater (nicht ein Drama) der Tragödie gebunden" (S. 19).

Das erste Kapitel setzt sich mit der Theoriegeschichte des Theaters im Kontext der antiken griechischen Philosophie und mit Szondis Versuch über das Tragische auseinander. Lehmann erweitert die Frage nach den poetischen Verfahren, dem Darstellungsmodus, indem er diesen vom Plot auf den Theatervorgang verschiebt. Das Tragische geht nicht in der Handlung allein auf. Ist die Wirklichkeit des Theaters bei Szondi ausgeschlossen, kann Lehmanns Studie als Versuch gelesen werden, das Tragische an das Theater zu binden. Ohne Theatralitätskontext der Tragödie ist keine Erfahrung des Tragischen zu haben.

Als besonders bemerkenswert erachte ich Lehmanns Ausführungen zu den aristotelischen Kategorien der Katharsis und Anagnorisis. Er verschiebt das Augenmerk nämlich auf die Anagnorisis und findet hier wesentlich interessantere Aspekte der ästhetischen Erfahrung als in den über die Jahrhunderte privilegierten Debatten um die Katharsis. Lehmann knüpft an Adornos in der Ästhetischen Theorie formuliertes Diktum von der Katharsis als "einem Stück Kunstmythologie" an und stellt mit ihm in Frage, ob die "segensreiche Wirkung" "überhaupt je eingetreten sei" (S. 203). Basierend auf Friedrich Nietzsches und Georg Lukács' Ansätzen hält Lehmann fest, dass "eines der Probleme der Katharsisdebatte in dem ganz ungeklärten Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Wirkung" (S. 209) liege. Ganz abgesehen davon, dass in der aristotelischen Poetik die Lektüre der Tragödie und deren Wirkung im Zentrum stehe. Lehmanns Wendung zur Anagnorisis ist überzeugend, geht es doch um die Kategorien des Wiedererkennens und Wissens, denen elementarer theoretischer Status und Erfahrungswert zuerkannt wird. Im heutigen Verständnis einer avancierten ästhetischen Praxis des Theaters und der Performance bedeutet dies sowohl "radikale Offenheit des Sinns als auch bewußte Dekonstruktion von Sinnbildung" (S. 210). Nicht länger der dramaturgischen Konstruktion zugehörig, versteht Lehmann den Sinn der Anagnorisis "als immer wieder intermittierend stattfindende Zäsur des Verstehens in einem Theatervorgang" (S. 211).

In Konsequenz der Ausführungen zur Korrelation von "Anagnorisis und Affekt" (S. 212f.) formuliert Lehmann die These, "daß die Erfahrung der Anagnorisis der eigentlich theatrale Moment, das Herz der tragischen Theatererfahrung durch den Zuschauer ist – Herz des Theaters in dem Sinne, wie Aristoteles den Mythos als Seele der Tragödie bezeichnet" (S. 213). In den Blick kommt darum ein Erkennen des Nicht-Erkennens, um diesen virulenten Zwischenraum, in welchem sich das Potential der Erkenntnis konstituiert, der Schmerz, das Pathos, das Wissen und Nicht-Wissen zugleich ihren Ort haben. Lehmann knüpft hier an einen Diskurs der Moderne an – die ästhetische Erfahrung der "Plötzlichkeit" (Karl-Heinz Bohrer), den "Schock des Verstehens des Nicht-Verstehens" (S. 215) – und positioniert in Perspektive auf die Theatererfahrung der Gegenwart die Kategorie der Unterbrechung, den "Moment der Zäsur und Distanznahme" (S. 218), als konstitutiv. Mithin: Es geht um ein Verstehen des Nicht-Verstehens, das sich in diesem Modus nur in der szenischen Ordnung realisiert.

Im Kapitel "Drama und Tragödie" werden ausgehend von der Dramatisierung der Tragödie die Kategorien und Merkmale des dramatischen Theaters beschrieben, deren Darstellungsformen im Barock und der Klassik differenziert und die "Krisen der dramatischen Tragödie" an Schiller, Hölderlin und Kleist aufgezeigt. So elaborierte Essays wie jene zum "Modell Antigone", dem "Theater des Schreckens" und "Racines Dramatik", in deren Vorfeld das Lacan'sche Imaginäre positioniert wird, sind einige Beispiele erkenntnisreicher Lektüre, die für sich stehen.

Tragödie und dramatisches Theater geht gleichsam hinter den 1999 kreierten Begriff des Postdramatischen zurück, erarbeitet an den vielfachen historischen und ästhetischen Schichtungen der Formulierung des Tragischen deren bestimmende Strukturen und analysiert im letzten Abschnitt die Auflösung des Dramatischen in Perspektive auf das postdramatische Theater. Die innovativen Ansätze dieser die Theorie- und Theatergeschichte souverän denkenden Studie liegen meines Erachtens in der Etablierung eines historisch reflektierten Diskurses des Gewordenseins von Tragödie und Drama jenseits eines evolutionären Modells. Ein großer Vorzug dieser Darstellung liegt für den Leser in der transparenten Methodik, im Nachvollzug einer Bewegung des Denkens, die das Tragödien-Theater dekonstruiert und neue Schichtungen und Strukturen sichtbar macht.

Man muss das Buch Lehmanns ganz und gar nicht von der ersten bis zur letzte Seite chronologisch lesen. Die einzelnen Abschnitte der Theorie- und Theatergeschichte formulieren – bezogen auf konkrete Themen, Darstellungsformen, Aufführungspraktiken, Denkmodelle, Theorien, Theatertexte in ihrer szenischen Dimension, auf die Tragödiendichter, sowie historische Avantgarden und Performancekünste – grundlegende Erkenntnisse in Hinblick auf theatrale Verfahrensweisen und ästhetische Erfahrung. Die Beispiele der Theatergruppen und -formationen, der Autoren und Performer, die im letzten Teil der Untersuchung erörtert werden, beruhen auf Lehmanns jahrzehntelanger konkreter Theatererfahrung. Die Perspektive auf die Zusammenhänge von "Tragödie und postdramatischem Theater", von praedramatischem und postdramatischem Theater, führt zu prägnanten Erkenntnissen der poetischen Verfahren der Moderne und Postmoderne und verweist in großem Bogen zurück auf die Strategien der "Dramatisierung der Tragödie". Zugleich lesen sich die Ausführungen Lehmanns in diesem Teil als hellsichtiger Kommentar zur Kategorie der Überschreitung, die bereits die Avantgarden des 20. Jahrhunderts bestimmt hatte, etwa Artauds "Theater der Grausamkeit" und Brechts Lehrstücktheorie- und praxis. So kommt der dezidiert theaterästhetischen Perspektive der Vorzug zu, andere Erkenntnisse als am Text orientierte zu generieren, die in ebensolchen Überschreitungen erfahrungstheoretisch zu begreifen sind.

Die tragische Erfahrung – so die vielfach begründete Behauptung Lehmanns – ist an das Theater gebunden, allerdings an ein Theater, das nicht mit "dramatischem Theater" gleichgesetzt wird: "Theater ist nicht zu bestimmen durch einen dramatischen, sondern durch einen körperlichen, szenischen, musikalischen, auditiv-visuellen Verlauf in Raum und Zeit, an einen materiellen Vorgang, der sein Betrachtet-Werden oder eine Teilnahme an ihm impliziert und zugleich eine gewisse Opakheit aufweist, die sich der wahrnehmenden Durchdringung ebenso wie einer vollständigen Rationalisierung widersetzt" (S. 595).

Die Fülle und gleichzeitige Durchdringung des Materials, immer auf höchstem Reflexionsniveau, stellt nicht nur für die Theaterwissenschaft ein Kompendium des Theaters in seiner Geschichtlichkeit, der Konfigurationen der Tragödie, des Tragischen und des Dramas dar. Ein Buch, an dem die Genealogie eines Denkens des Theaters nachzuvollziehen ist, und das das Theater als sinnlichen Verhandlungsort von Konflikten im Spannungsfeld von Tragödie und Drama neu ins Bewusstsein bringt.

Autor/innen-Biografie

Monika Meister

Studium der Theaterwissenschaft, Ethnologie und Philosophie an der Universität Wien. Dissertation über den Theaterbegriff Robert Musils, 1992 Habilitationsschrift über die Katharsis im Theoriediskurs der Jahrhundertwende. Schwerpunkte der Forschungs- und Lehrtätigkeit: Theater der Antike, Theater der Klassik und Romantik, Wiener Moderne und Psychoanalyse. Theoriegeschichte des Theaters, Theater und Ästhetik, Dramaturgie des Gegenwartstheaters.

Mitherausgeberin der Zeitschrift Maske und Kothurn.

Veröffentlicht

2016-03-22

Ausgabe

Rubrik

Theater