Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert.

Berlin: Akademie Verlag 2001. ISBN 3-05-003596-X. 508 S. Preis: € 46,10/sfr 79,--.

Autor/innen

  • Monika Meister

Abstract

Die vorliegende Studie von Reinhart Meyer-Kalkus widmet sich den vielfältigen Aspekten der Physiognomik der Stimme, begnügt sich aber nicht damit, sondern setzt dieser eine historische Anthropologie der Stimme und der Sprechkünste im 20. Jahrhunderts entgegen.

Die "terra incognita", die dieses Thema bis vor kurzem in den zeitgenössischen Kulturwissenschaften darstellte, wird nunmehr endgültig durchbrochen und damit sind tatsächlich zentrale Phänomene einer der wesentlichen Ausdrucksweisen des Menschen in den Blick genommen, nämlich "die Stimme als geistig-körperliche Emanation der Person" (S. 445). Der Autor entdeckt die "heute weitgehend vergessene Arbeit an der Stimme" wieder, wo sie von physiognomischen und ausdruckspsychologischen Annahmen geleitet war, und stellt damit ein weit über einzelne Wissenschaftsdisziplinen hinausreichendes Forschungsgebiet zur Diskussion. Abgesehen davon, daß den neuen Medien des 20. Jahrhunderts, Telephon, Grammophon, Radio und Tonfilm, die menschliche Stimme als Material und Ausdrucksqualität immanent ist, kommt den Künsten insgesamt eine zentrale Funktion in der Darstellung und Verkörperung der Stimme zu. Meyer-Kalkus kennzeichnet aber auch den seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gegenläufigen Prozeß jener durch die Medien vermittelten körperlosen Stimmen in seinen zentralen Aspekten.

Ein virulentes und hoch interessantes Thema. Und, man muß es sogleich vorwegnehmen, es ist ein überaus gelungenes, informatives und gut lesbares Buch. Die in einer ersten Fassung als Habilitationsschrift eingereichte Untersuchung legt den Schwerpunkt auf die Darstellung zentraler Linien in der Geschichte der Erforschung der Stimme und der performativen Ausprägungen der Sprechkünste im 20. Jahrhunderts, setzt dies durch die Darlegung historischer Voraussetzungen in einen weit in die Vergangenheit gespannten informativen Rahmen.

Immer wieder wundert man sich bei der Lektüre, daß einzelne Fragestellungen und Zusammenhänge nicht schon längst von der einschlägigen Forschung entdeckt wurden, wenn auch in den letzten Jahren immer mehr Arbeiten zu Aspekten der Stimme in historischer und gegenwärtiger Perspektive erschienen sind, etwa Karl-Heinz Götterts Geschichte der Stimme (1998). Nicht zuletzt sind die ertragreichen Kongresse am Einstein-Forum Potsdam 1999 und der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in München im Jahr 2000 mit dem Titel Stimmen, Klänge, Töne. Synergien im szenischen Spiel als Indiz intensiver Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Stimme zu werten.

Meyer-Kalkus stellt im I. Kapitel einen Leitfaden durch das Material der Studie vor, läßt die Argumente wissenschaftlicher und künstlerischer Hervorbringungen aufeinandertreffen, ordnet deren historische Positionen ein und macht damit zugleich auf die gewaltsamen Abbrüche und Unterbrechungen durch den Nationalsozialismus aufmerksam. (So etwa hängt die mangelhafte Kenntnis der überaus wichtigen Arbeiten des Wiener Sprachforschers Karl Bühler mit dessen Emigration 1938 zusammen.)

Beginnend mit einer Betrachtung von Georg Christoph Lichtenbergs Physiognomik und Pathognomik, in welcher auch der Stimme zentrale Bedeutung zukommt - im übrigen von der Forschung ganz und gar ausgeblendet -, gibt Meyer-Kalkus einen geschichtlichen Überblick zur Einordnung der Stimme von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Die Kategorien der Ausdruckswahrnehmung und der Verkörperung als symbolischer Form, wie sie etwa Ernst Cassirer und Aby Warburg entwickelten, werden hier zum Fokus der Erörterung, wobei sich auch bislang wenig beachtete Texte aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als äußerst interessant und ergiebig erweisen (etwa jener des Hamburger Entwicklungs- und Sprachpsychologen Heinz Werner Grundfragen der Sprachphysiognomik von 1932, um nur ein Beispiel zu nennen). Meyer-Kalkus fügt Theoreme und Überlegungen von Ernst Cassirer, Karl Bühler, Ernst H. Gombrich, Ludwig Wittgenstein und Elias Canetti zu Bausteinen einer historischen Anthropolgie der Stimme, welche auch die experimentellen Formen seit den 1920er Jahren miteinschließen. Kritisch reflektiert der Autor "physiognomische Trugschlüsse" (S. 42ff.), warnt vor "nostalgischer Unmittelbarkeit im Namen der Rückkehr des Körpers in die Kulturwissenschaften" (S. 46) und bezeichnet Roland Barthes Äußerungen zur Stimme als Wegbereiter neuer physiognomischer Trugschlüsse, die zugleich eine alte Tradition aufweisen. (Barthes Begriff "Korn der Stimme" wird in einem eigenen Kaptiel kritisch reflektiert und in bezug zur längst historisch gewordenen expressiven Lautsymbolik gebracht.) Diese "Verkennungen" werden im II.Kapitel offengelegt: Philologie: Die Schallanalyse von Eduard Sievers (S. 73-125), die dem Forschungsparadigma der Spurensicherung (Carlo Ginzburg) zugeordnet wird. Dabei ist von besonderem Interesse, daß die experimentelle Methode der Schallanalyse dazu dient, den "vokalen Personalausweis" (Roman Jakobson) zu ermitteln. So bedeutsam die Untersuchungen des Leipziger Forschers Sievers auch waren - sein Einfluß auf den russischen Formalismus war enorm -, so sehr werden die Grenzen der Experimente von Sievers aufgezeigt, deren wissenschaftshistorische Bedingtheit deutlich gemacht. Im III. Kapitel geht der Autor auf die so bedeutsamen Versuche der Erforschung des "Klangcharakters und der Oralität des Erzählens" der russischen Formalisten und des Prager Cercle linguistique ein, analysiert Michail Bachtins Theorie der Vielstimmigkeit erzählender Texte. Das profunde Wissen des Verfassers zeigt sich an zahlreichen Hinweisen auf Kontexte des Erörterten, so etwa, wenn der Diskurs Bachtins in Hinblick auf den Begriff von Intertextualität mit jenem von Julia Kristeva in Bezug gesetzt wird (S. 139f.).

Ein eigener Abschnitt (Kapitel IV) widmet sich den überragenden sprachtheoretischen und ausdruckspsychologischen Studien Karl Bühlers (S. 143-178). Karl Bühler, von 1922-1938 Leiter des Psychologischen Instituts an der Universität Wien, führte auch ein wissenschaftsgeschichtlich bedeutsames physiognomisches Radio-Experiment in Zusammenarbeit mit dem berühmt gewordenen Soziologen Paul Lazarsfeld zur Erforschung der Stimme durch, nämlich zum Zusammenhang von Persönlichkeit und Stimme: Im Mai 1929 beteiligten sich ca. 3.000 Hörerinnen und Hörer von Radio Wien an der physiognomischen Deutung unbekannter Sprecherstimmen. Bühler erlangte auch internationale Bedeutung, etwa in der Diskussion mit dem Prager Linguistenzirkel, wo er 1930 einen Vortrag über Phonetik und Phonologie hielt, er widmete sich ebenso der Analyse der Lautmalerei, dem "mimetischen Bezug, den Sprachlaute und stimmliche Ausdrucksbewegungen gegenüber Sachverhalten und Dingen unterhalten" (S. 179).

Meyer-Kalkus weist in diesem Zusammenhang mit Nachdruck auf Ernst Jüngers 1934 erschienene Schrift Lob der Vokale hin, die gleichsam eine Gegenbewegung zur Ausdruckspsychologie darstellt, da sie einer antiphysiognomischen Strömung in Literatur und Sprechkunst des 20. Jahrhunderts zugehört. Seine "Lehre von der Kollektivität von Schrei und Lautsprache" stehe im Zeichen der "drohenden Vernichtung des Menschen" (S. 212).

Den umfangreichsten und für die ästhetische Konzeptualisierung im Rahmen von Theatralität interessantesten Teil der Studie bildet das Kapitel über die Sprechkünste im 20. Jahrhundert (S. 213- 345). Ausgehend vom Wandel vokaler Vortragsformen im Kontext von Sprechhaltungen und Sprechstilen entwirft der Autor ein großflächiges Panorama der Sprechkünste seit der sogenannten "Sprechkunstbewegung" um 1800. Soziale und historische Voraussetzungen reflektierend wird die Geschichte des Sprechens als eigene Kunstfertigkeit (S. 238) dargestellt, auf große Forschungslücken hingewiesen, etwa auf Studien aus anthropologischer Perspektive oder Untersuchungen zu den verschiedenen Vortragsarten. Vom "lauten Vorlesen" als eigenständiger Kunst - weit über bloße Vertretung szenischer Aufführung hinausgehend - über die Deklamationslehren der Zeit um 1800 (beispielweise bei Goethe), dem Verhältnis von Sprechen und Singen bis zur Darlegung der neuen Bedeutung vokaler Interpretation literarischer Texte und stimmlicher Aussagekraft ist der Bogen gespannt. Es versteht sich von selbst, daß dabei auf die die Zeit so einzigartig überragende Poesie Heinrich von Kleists nicht näher eingegangen werden kann, obwohl, wie Meyer-Kalkus natürlich weiß, die Überschreitung klassischer Deklamationsordnung die Sprache Kleists erst konstituiert.

Obwohl dem "Sprechsänger" Josef Kainz und dem durch ihn verkörperten Stilwandel um 1900 ein eigener Abschnitt gewidmet ist, wünschte man sich ein Kapitel über den "klassizistischen" Sprechstil der Zeit schlechthin, jenen des Wiener Burgtheaters, dessen Ensemble Kainz von 1899 bis zu seinem Tod 1910 angehörte. Gerade im Kontext der Studie von Meyer-Kalkus wird einem diese Lücke besonders bewußt, wiewohl es der Prägnanz der Arbeit keinen Abbruch tut.

Der "Sturm"-Kreis mit seinen Protagonisten Rudolf Blümner und Kurt Schwitters und die dadaistische Lautpoesie, beides Formationen, deren Voraussetzung in der Retheatralisierung und einer antiliterarischen Grundhaltung zu suchen sind, bilden den Übergang zur experimentellen Handhabung der Sprechkunst. Elias Canettis "akustische Maske", Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire als berühmtestes Beispiel der Arbeit an der Sprechmelodie im Melodrama und die Betrachtung von Franz Kafkas radikaler Textur von Tierstimmen schließen das VI. Kapitel ab.

Das VII. Kapitel setzt sich mit den neuen Medien, dem Tonfilm und dem Radio in der Weimarer Republik auseinander. Eine gut lesbar Einführung in die Thematik, die den Übergang von Stumm- zu Tonfilm darstellt, die frühen Film- und Radiotheorien diskutiert und das Augenmerk auf die "Stimme am Mikrophon" (S. 363) lenkt. So kommt selbstredend den Hörspieltheorien der Weimarer Republik besonderes Interesse zu, auch der scharfe Gegensatz, den die Medientheorien Benjamins und Brechts zu allen anderen bilden, wird transparent, deren Originaltät und vorausweisendes Potential gewürdigt.

Die psychoanalytische Triebtheorie der Stimme, wie sie Sigmund Freud und in seiner Nachfolge Jacques Lacan entwickelten und wie sie das mächtige Gegenbild zu physiognomischen Tendenzen darstellt, steht im Zentrum des VIII. Kapitels der Studie. Die Talking-Cure bildete den Ausgangspunkt in der Erforschung des Unbewußten, die Redeströme der Patientinnen forderten eine neue Weise des Hörens und Interpretierens. Die Psychoanalyse als "Linguistik der Rede" (S. 391) und das Verdienst Lacans, psychotische Erfahrungen "verstehbar" gemacht zu haben, zeigen virulente Stellen im kulturwissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte auf. Es geht um Geisterstimmen, körperlose Stimmen: "Lacan zeigt, wie das Stimmenhören von der Obsession durch körperlose Stimmen umgetrieben wird: der Stimme des Anderen, die sich in Stimmen von Göttern, Toten, Fabelwesen, Maschinen oder anderswie manifestieren kann. [...] Ihnen ist kein Gesicht, kein Geschlecht und kein Alter mehr zuzuordnen. Sie bezeichnen die Grenze jedes physiognomischen Ausdrucksverstehens, eben weil sie imaginär nicht assimilierbar sind." (S. 402)

Daß seit den 1970er Jahren auch die Künste, allen voran das Theater als Sprechkunst schlechthin, das der Ausdruckswahrnehmung Fremde, Nicht-Integrierbare der Stimme ins Zentrum rückte, ist an wesentlichen Inszenierungsmodi mittels elektroakustischer Techniken (z.B. Mikroports und Haftmikrophone) des postdramatischen Theaters evident. Aber auch das Kino vermittelt im Sound Design-Stimmen, die keine Wiedergabe des Realen mehr repräsentieren.

Meyer-Kalkus korrigiert in seiner Untersuchung einerseits den einseitigen kulturwissenschaftlichen Ansatz, dem das Bild und die visuelle Wahrnehmung einziger Betrachtungsgegenstand ist, und fügt so die auditive Dimension als eigenständige hinzu. Andererseits will er "postmoderne" Medientheorie, die Medientechnik und strukturelle Wahrnehmungsänderung in eins setzt, ja der sich letztlich das Subjekt unter den Bedingungen der Medieninszenierung auflöst, modifizieren. Der Autor betont deshalb die prinzipielle Deutungsherausforderung der Medien an unsere Ausdruckswahrnehmung. So suche die menschliche Einbildungskraft immer "hinter der Stimme die ganze Person, die sich in ihr verkörpert". Das scheint mir eine wichtige Position im Gefüge gegenwärtiger Diskussion darzustellen. Auch wenn Meyer-Kalkus sich gegenüber der postmodernen Medientheorie mit dem Argument der Verwischung der Differenz von "normal" und "paranoid" abgrenzt, hat seine These viel für sich: "Keine 'disembodied voice' unter Bedingungen medialer Körperzerstückelung ohne die Anmutung zum 're-embodiment', auch wenn dieses keinen rechten Halt mehr findet, wie gegenüber Maschinenstimmen auf automatischen Anrufbeantwortern oder anderen synthetischen Stimmen. Doch hören wir nicht auf, zwischen den Stimmen von Lebenden und von Maschinen, zwischen eingebildeten und wirklich gehörten, zwischen inneren und äußeren Stimmen zu unterscheiden." (S. 454f.) Genau dies aber ist zugleich das Material der Künste, die in ihren Techniken der Verschiebung und Verdichtung zur unheimlichen Behausung der Moderne avanciert.

Ein Standardwerk, nicht nur für Theater-, Literatur- und Medienwissenschaftler. Offene Forschungsfragen und vielfache Anregungen zum medialen Status der Stimme und der Sprechkünste des letzten Jahrhunderts und der Gegenwart fordern zur Weiterarbeit auf.

Autor/innen-Biografie

Monika Meister

Studium der Theaterwissenschaft, Ethnologie und Philosophie an der Universität Wien. Dissertation über den Theaterbegriff Robert Musils, 1992 Habilitationsschrift über die Katharsis im Theoriediskurs der Jahrhundertwende. Schwerpunkte der Forschungs- und Lehrtätigkeit: Theater der Antike, Theater der Klassik und Romantik, Wiener Moderne und Psychoanalyse. Theoriegeschichte des Theaters, Theater und Ästhetik, Dramaturgie des Gegenwartstheaters.

Mitherausgeberin der Zeitschrift Maske und Kothurn.

Veröffentlicht

2003-04-01

Ausgabe

Rubrik

Theater