Tina Zürn/Steffen Haug/Thomas Helbig (Hg.): Bild, Blick, Berührung. Optische und taktile Wahrnehmung in den Künsten.

Paderborn: Fink 2019. ISBN 978-3-7705-6190-2. 236 S., 115 s/w Abb., 32 farb. Abb., Preis: € 59,00.

Autor/innen

  • Jana Herwig

Abstract

Zur weiterhin regen kulturwissenschaftlichen Haptik-Forschung gesellt sich heuer mit Bild, Blick, Berührung. Optische und taktile Wahrnehmung in den Künsten eine Publikation aus dem Bereich der Kunst- und Bildgeschichte. Tina Zürn, forschend im Bereich der Architekturgeschichte, sowie Steffen Haug und Thomas Helbig als Mitarbeiter an den Aby-Warburg-Schriftenausgaben versammeln in ihrer Anthologie 13 Beiträge, die sowohl bekannte Topoi des Tastsinns bearbeiten als auch neue vermessen.

Dabei sind die Herausforderungen für Bild, Blick, Berührung jene, an denen sich alle Publikationen zum Thema abzuarbeiten haben: Wie lässt sich die Profanität des Tastsinns theoretisch handhaben, ohne allzu prosaisch oder kleinteilig zu werden? Prosaisch, weil die Selbstverständlichkeit der Berührung im Text nur nacherzählend vermittelt werden kann; kleinteilig, weil dies der Organisation des Haptischen selbst entspricht. Tastsinn, das ist erleidender Hautsinn und erkundender Handsinn, Begrenzen und Begreifen, Allianz und Konkurrenz zu Sehsinn und Hörsinn. Berührung wird gesucht wie gemieden, gesucht und verboten, bereitet Lust, Ekel und Schmerz. In diesem somit skizzierten Feld lassen sich die Beiträge des Bandes jeweils breiter oder spezialisierter verorten.

Ausgangspunkt der Publikation bildete die Tagung Don't Touch | Touch Screen, die 2015 für den Kunsthistoriker Michael Diers in Berlin ausgerichtet wurde, und damit auch die grundsätzlich kunsthistorische Basis vorgab. Eine solche prägt zum Beispiel Claudia Blümles Untersuchung gemalter Bildvorhänge, die um das 'Gouden Eeuw' in den Niederlanden entstanden: In der Tat handelte es sich hier um Bilder im Bild, über die halb bedeckende Vorhänge gemalt wurden, um so den Blick darauf als Enthüllungsprozess zu inszenieren, der sich ebenso haptisch wie visuell gestaltet. Damit waren diese Bilder zugleich das Angebot einer pointierten, sinnlichen Erfahrung als auch Dokumente einer damals üblichen Verhüllungspraxis, die Blümle im Kontext von Bildersturm und zeitgenössischem Bildverständnis diskutiert.

Die optisch-haptische Turbulenz dieser Ära zeigt sich auch in Jürgen Müllers Lesart von Rembrandts Aristoteles mit der Büste des Homer, die er verknüpft mit dem Paragone, d. h. der Debatte um die Gleich- oder Vorrangigkeit der Künste der Renaissance. Müllers These ist nun, dass sich Rembrandt nicht einfach dem überlieferten Primat des Sehsinns angeschlossen, sondern vielmehr "den Paragone als rhetorisches Vehikel und pseudophilosophische Debatte entlarvt" habe (S. 87). Nachdem Müller Aristoteles als "Apologet der Hand" (ebd.) skizziert hat, kann er kenntnisreich dessen Hand, die in Rembrandts Bild tastend-ruhend auf Homers Kopf platziert ist, einordnen in die Überwindung jener Debatte.

Nicht dem Verbot, sondern "Berührungsgeboten und Berührungsgebeten" widmet sich Lars Blunck. Duchamps Prière de toucher (vulgo: das Buch mit der Brust) war zuletzt 2016 titelgebend für eine Ausstellungsreihe im Museum Tinguely in Basel. Blunck entfaltet in seinem Text plausible Bezüge zu Apollinaires Berührungskunst, Marinettis Tattilismo und Dalís Tastkino (letzteres auf der Tagung auch Gegenstand in Claus Pias' Vortrag, der in der Anthologie nicht enthalten ist) und schlägt in einem weiteren Dreh vor, Prière de toucher als "subversive Parodie der Berührungsgebote in der Kunst der Moderne" (S. 123) zu deuten.

Um die körperlich performative Ebene geht es, wenn Gabriele Brandstetter "Tanz als 'Touch Screen'" und Claudia Tittel "Berührung als subversive Geste in der Performancekunst der 1960er Jahre" lesen. Brandstetters "Touch-Screen" ist eine tatsächliche Projektionsfläche, die zugleich dem Imaginären der "Touch-Szenen" (S. 172) der Tanzenden dienen. Berührung in den von Tittel diskutierten Arbeiten ist die konventionell untersagte, etwa mit den nackten Körpern Anderer, im Fall Marina Abramovićs und Ulays, die allzu dicht eine Eingangstür hüten, oder mit den Kunstwerken selbst, etwa in Form von Ballons, die Jean Tinguely und Niki de Saint-Phalle ins Stedelijk blasen ließen. Auch EXPORTs Tapp- und Tastkino und Onos Cut Pieces fehlen nicht in dieser Reihe, mit der Tittel fast so etwas wie einen kleinen Kanon grenzüberschreitender Tastkunst abbildet.

Im Zentrum von Beat Wyss Text steht "Der Maler Edgar Degas" insbesondere als Aktmaler, wobei Wyss die feministische Deutung der im verlorenen Profil gemalten Akte als voyeuristische Szene sacht zurückweist. Daneben zeigt der Autor auch ein Portfolio von Akt- und/oder Blickkonstellationen des französischen 19. Jahrhunderts (Ingres, Toulouse-Lautrec, Manet, Cabanel, Courbet). Dass dabei "Blickvermeidung als Blickerwiderung" gedeutet werden kann, erscheint der Leserin nicht ganz so stringent wie es der Titel empfiehlt.

Auseinandersetzungen mit dem Handwerk sind im Feld der haptischen Forschung insgesamt etwas seltener – abgesehen jedenfalls von Richard Sennetts The Craftsman (2008)[1] – und so ist Christian Scheidemanns Hinwendung zum "Tastsinn des Restaurators" sehr willkommen. Diese erfolgt im Übrigen ohne Sennett, dafür aus der Originalperspektive eines Restaurators, der u. a. die Planungsmaßnahmen beschreibt, die dem Anfassen und Bewegen während der Restauration vorausgehen sowie die Schwierigkeiten mit den Materialien zeitgenössischer Kunst; Materialien im engeren Sinne wie z. B. "Ölfarbe, sonnengebleichtes Bienenwachs und Menschenhaar" (S. 151) als auch "Fingerabdrücke, Staub und Schmutz" (etwa bei Matthew Barney), welche als "Mittel der Narration kaum mehr wegzudenken" seien (S. 157).

Zwei Beiträge können im engeren Sinne als Verhandlungen haptischer Medien bzw. Maschinen erachtet werden: Luisa Feiersinger betrachtet das "Ergreifen und Ergriffenwerden von optischen Illusionen" am Beispiel des 3D-Kinos, das sie dazu von Brewsters Stereoskop des 19. Jahrhunderts her deutet. 'Ergreifen' verweist zunächst auf das manuelle Antreiben optischer Spielzeuge (was Gunning am Beispiel des Thaumtrops darlegte), 'Ergriffenwerden' auf die Faszination durch das durch den Apparat ablaufende Bild, wobei sich Feiersinger dezidiert für einen Nachhall des Stereoskops im 3D-Kino der Gegenwart ausspricht, bei dem der "Betrachter seine ihm eröffnete, aktive Rolle einnehmen" müsse (S. 190).

Matthias Schultz begibt sich auf die Suche nach den "kulturtechnischen Parallelen zwischen Reliquiaren" – v. a. körperteilförmige Behältnisse zur Einkapselung von Reliquien – "und Androiden", wobei es ihm tatsächlich um nicht weniger als eine Genealogie geht, mit dem kleinen Zwischenschritt anthropomorpher Automaten der frühen Neuzeit. Ein solcher Weg erscheint sowohl möglich als auch interessant, aber nicht zwingend.

Zu den theoretisch einordnenden Texten zählen jene von Bredekamp, Böhme und Boehm, wobei letztere von Gesprächs- und Resümeebeiträgen zu Artikeln ausgeweitet wurden. Böhme, dessen Text zum "Der Tastsinn im Gefüge der Sinne" (1996)[2] nicht nur in diesem Band breit zitiert wird, widmet sich ein weiteres Mal dem biblisch fundierten Noli me tangere, bringt es diesmal jedoch mit der Mundhöhle in Zusammenhang, und das in beide Richtungen: "Dinge, die uns heilig sind, entziehen wir der zugreifenden Hand ebenso wie dem oralen Verschlingen" (S. 31). Die vielfältigen Beispiele an historischen Praktiken und Werken, die er anführt, kulminieren letztlich im Zusammenführen von Taktilität und Oralität im Visuellen bzw. in der Überschwemmung "des Visuellen mit oralen und taktilen Reizfluten" (S. 54), die er von der ägyptischen und christlichen Kunst bis in gegenwärtige Immersionsmedien nachverfolgt.

Boehm wendet sich seinerseits dem Paragone zu, den er als nie abgeschlossen betrachtet, da vielmehr dessen Pointe "in einer wechselseitigen Erhellung der Sinnesvermögen" bestünde (S. 207). Darüber begibt sich Boehm auf die Suche nach einem sensus communis jenseits der fünf Sinne, nach einem "'Universalorgan', d. h. eine[r] integrierenden Matrix" (S. 208), einem "Organ der Organe" (S. 209) und findet dieses trotz dieser aristotelesken Wendung nicht in der Hand, sondern in der Haut. Dies soll über die Metapher der "Haut des Argus" (S. 212) gelingen, wobei die Diversität und Vielzahl der physiologischen Rezeptoren (s. o.) für dessen Hundertäugigkeit einstehen. Ähnlich Böhmes Mundhöhle, jedoch in der Faltung der Haut überhaupt (Serres) findet sich das Subjekt hier in der Selbstberührung.

Als dritter zielt Horst Bredekamp auf das große Ganze, über den Umweg von Gerhard Neuweilers Konzept der motorischen Intelligenz, welche aus dem Wechselverhältnis von Hirn, Hand und Umwelt entstehen soll. Könnten solche Leistungen "im Zeitalter des Digitalen als atavistisch" bezeichnet werden (S. 12)? In seiner Beantwortung dröselt Bredekamp zunächst die Komplexität der vermeintlich einfachen Scheidung in 'Diskrete Zeichen hie, Rest da' auf – derzufolge digitale Medien direkt den separierten Typen der Gutenberg-Presse entspringen –, indem er z. B. die ikonischen und ornamentalen Facetten verschiedener Drucktechniken aufzeigt. Aus dieser Perspektive gelingt es dann auch, Simulationen der "Tätigkeit der Hand" (S. 19) in digitalen Buchäquivalenten zu entdecken. "Leibniz' sehender Finger" – entnommen dem Bericht eines Traums des Universaldenkers – ist in Wahrheit ein lesender und umgekehrt.

Unklar bleibt der Beitrag Thomas Hirschhorns "Pixel-Collage", der – wie auch das Cover von Pippilotti Rist – in der vom Verlag zur Verfügung gestellten PDF-Fassung nicht enthalten war; eine solche paratextuelle Akzidenz würde keine weitere Erwähnung finden, würde man sich nicht wünschen, diesen Umstand nun abschließend von Bredekamp kommentiert zu sehen.

Insgesamt liefert Bild, Blick, Berührung eine neue Zusammenschau der verquickten Kleinteiligkeit, die das Terrain des Tastsinns darstellt - einen anderen Weg der Annäherung als über diese kann es nicht geben. Der Untertitel Optische und taktile Wahrnehmung in den Künsten erweist sich als nachträglich sinnvoll subsumierende Klammer, ohne damit eine gemeinsame Forschungsrichtung vorzugeben. Neue Anregungen finden in der Theorie des Haptischen bereits Versierte insbesondere in den Beiträgen von Bredekamp und Scheidemann, wobei zweiter nur implizit auf die Notwendigkeit verweist, haptische Studien nicht allein als Lektüre nunmehr multimodaler Texte, sondern auch im Nachvollzug haptischer Tätigkeiten voranzubringen. In jedem Fall wäre dies im Sinne einer, z. B. motorischen, Intelligenz, die den Tastsinn miteinbezieht.

 

[1] Ebenso relevant: Richard Sennett: „Der Tastsinn“. In: Der Sinn der Sinne. Hg. v. Kunst und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 1996, S. 479–495.

[2] Hartmut Böhme: "Der Tastsinn im Gefüge der Sinne". In: Anthropologie. Hg. v. Gunter Gebauer. Leipzig/Stuttgart 1998, S. 214-225.

Autor/innen-Biografie

Jana Herwig

Medienwissenschafterin und -beraterin in Wien. In ihrer Forschung befasst sie sich insbesondere mit Phänomenen an der Schnittstelle von Medien und Menschen, sowohl im materiell-haptischen als auch sozial-kommunikativen Sinne. 2017 hat sie ihre Dissertation mit dem Titel "Hand, Haut, haptische Medien. Mediale Konfigurationen des Tastsinns" abgeschlossen, die sich u. a. der Rolle der manuellen Handhabung und der Möglichkeit technisch vermittelter Berührung in interaktiven Szenarien widmete.

Aktuelle Publikationen:

Jana Herwig: "Sinnliche Immersion und haptische Medien. Utopien und Möglichkeiten". In: Jahrbuch immersiver Medien 2017. Hg. v. Patrick Rupert-Kruse. Marburg 2018, S. 80–95.

–: "Viralität als Sonderfall: über Selfies, Serialität und die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation im Social Web". In: kommunikation @ gesellschaft 19, 2018. Hg. v. Georg Fischer/Lorenz Grünewald‐Schukalla, 19 S., URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-56025-3.

–: "Bischöfliche und andere Handschuhe. Medium, Objekt, Interface". In: Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns. Hg. v. Karin Harrasser. Frankfurt a. M. 2017, S. 149–170.

–: "Taststock, Handschuh, Schalter. Medientechniken der Berührung". In: Texture Matters: Der Tastsinn in den Medien (haptisch/optisch 2)Maske und Kothurn 62/2–3. Hg. v. Jana Herwig/Alexandra Seibel. Wien 2017, S. 187–206.

–/Alexandra Seibel (Hg.): Texture Matters: Der Tastsinn in den Medien (haptisch/optisch 2). Maske und Kothurn 62/2–3, Wien 2017.

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Veröffentlicht

2019-11-19

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Medien