Timo Kaerlein: Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien. Zur Kybernetisierung des Alltags.

Bielefeld: transcript 2018. ISBN: 978-3-8376-4272-8. 362 S., Preis: € 34,99.

Autor/innen

  • Jana Herwig

Abstract

Mit Blick auf das Phänomen mobiler Kommunikationstechnologien konstatiert Timo Kaerlein eine "eigentümliche Diskurslücke" in der deutschsprachigen Medienwissenschaft, welche "umso bemerkenswerter" erscheine, "wenn man die soziokulturelle Bedeutung eines Mediums zumindest heuristisch an seinem ökonomischen Erfolg bemisst" (S. 50). Die gute Nachricht: Mit seiner Monographie Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien. Zur Kybernetisierung des Alltags schließt er einige solcher Lücken und schafft für viele weitere eine Grundlage zur weiteren Bearbeitung.

Den Einstieg unternimmt Kaerlein mit einer behutsamen Kritik jüngerer maschinenstürmender Pamphlete älterer Digitalkulturkritiker wie Hans-Magnus Enzensberger ('Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg') und Frank Schirrmacher ('Mein Kopf kommt nicht mehr mit'), deren Ansinnen er uns rund 200 Seiten später als "Wunsch nach Selbstamputation" (S. 223) enthüllen wird, vergleichbar der Körperschemastörung Xenomelie und damit einer "organische[n] Ausbildung einer Gliedmaße, die allerdings 'unbeseelt' bleibt" (S. 222). Damit ist auch schon verraten, wohin die Reise mit Kaerlein geht: Indem er Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien entwirft, kann er nicht nur kulturpessimistische Deutungen in sein Schema integrieren, er entwickelt insbesondere einen Weg, Smartphones als angesiedelt im Übergang von Körper und Technik begreifbar zu machen – und das ohne die naiven, dyadischen Verhältnisse von Mensch und Medienobjekt zu beschwören, wie sie den Diskurs über Smartphonegebrauch beherrschen.

Dabei arbeitet sich Kaerlein vergleichbar einer Wendeltreppe voran, um den Gegenstand mit jeder Windung mit einem zusätzlichen Beschreibungsniveau zu verdichten. Er beginnt mit der Präsentation einer Definition von Nahkörpertechnologien als "portable internetfähige Computer [...] die aufgrund ihrer Größe und Form sowie der temporalen Intensität ihrer Nutzung einen privilegierten Körperbezug aufweisen" (Herv. i. O., S. 31). Seine Bezugsdisziplinen – nicht bloß der angesprochenen Lücke, sondern vielmehr der Genese des Gegenstands geschuldet – sind dabei vielfältig: Entsprechend bietet das zweite Kapitel "Bring your own device" eine breite Aufarbeitung einschlägiger Literatur und Herangehensweisen an Mobiltelefon- und Smartphonekulturen, welche das Buch schon allein deswegen für jede_n lohnenswert macht, die oder der sich diese zum Gegenstand machen wollen.

Ebenfalls sehr instruktiv ist das dritte Kapitel "Institutional, Personal, Intimate Computing", in dem Kaerlein eine auf das Smartphone hin geschärfte Zusammenschau der Computergeschichte liefert, welche plausibel macht, inwieweit Schemen digitaler Nahkörpertechnologien der Gegenwart bereits in den 1960ern wahrnehmbar waren. Wer auf der Suche ist nach einem Text, der Militärtechnik, Engelbart und Licklider, Dynabook, Apple und kalifornische Ideologie eingängig verhandelt, wird hier fündig.

Als Kernkapitel schließlich nimmt sich das vierte aus, bei dem nun die "Verkörperungen des Smartphones" thematisch werden. Aus dem – zunächst entfalteten – Katalog der Körperlichkeits- bzw. Embodiment-Konzepte wählt Kaerlein drei aus, um diese bis zum Smartphone auszuweiten: das der Affordanzen (primär nach J.J. Gibson), das die Aufmerksamkeit auf das Potenzial der Möglichkeiten eines Damit-Tuns richtet; das der Körpertechniken (im Anschluss an Mauss bzw. Schüttpelz), bei denen der Körper als primäres Mittel technischer Vermittlung gilt; und das des Körperschemas (nach Head, Schilder, Lhermitte und Merleau-Ponty, wobei v. a. letzter explizit in der Human-Computer-Interface-Forschung Anwendung gefunden hat), das nachvollzieht, wie alle Umweltbezüge des Leibes – etwa auch bediente Geräte – in diesen integriert werden.

Wie in den übrigen Kapiteln finden sich vielerlei Anregungen zum Umgang mit dem sich entziehenden Smartphone – zugleich wünscht man sich, Kaerlein würde noch länger verweilen bei der eigentlichen Anwendung seiner gut präparierten Instrumente. So werden die Affordanzen des Smartphones kompakt auf zwei Netto-Seiten (d. h. ohne Fußnoten) durchdekliniert – es ist die These spannend, dass "das Smartphone dann in ein exploratives Verhalten übergeht, sobald weitere Affordanzen von der Software ausgehen" (S. 169) und eben deswegen würde man sie gerne noch in weiteren Analysen getestet sehen. Selbes gilt für die Körpertechniken: Die Anwendungspassagen "Gehen mit dem Smartphone" (S. 184–190) als auch "Im Bett mit dem Smartphone" (S. 190–194) verlangen fast nach einer Ausweitung auf je 20-seitige Beiträge, vergleichbar etwa dem inspirierenden, von Kaerlein ebenfalls diskutierten Text von Heidi Rae Cooley über "The Hand, the Mobile Screenic Device and Tactile Vision"[1]. Auch wenn Kaerlein sich eingangs einer paranoisch-schizophrenen Medienwissenschaft nach dem Vorbild Kittlers (oder Schrebers) verschreibt, wünscht man sich hier die Individualisierungen, die jener womöglich verdächtig erscheinen.

Als zweitwichtigstes Kapitel erscheint Nummer 5, "Handhelds and Landhelds – Zum Technologisch-Unbewussten des Smartphones", in welchem er eben dieses Unbewusste in Nachfolge von u. a. Baudry, Comolli und Anders ('Apparate-Es') skizziert als das Nicht-Sichtbare, dass das Medium entscheidend konstituiert: "Das Smartphone scheint reduziert auf das Interface eines berührungsempfindlichen Bildschirms, der fast die gesamte Oberfläche des Geräts einnimmt. Batterie, Prozessor, Antenne, Sensoren, Lautsprecher und andere technische Komponenten sind fest im Gehäuse verbaut und gelangen nicht zur Sichtbarkeit" (S. 239). Eben solche unsichtbaren Aspekte gilt es damit einzuholen – und zwar, mit Verweis auf Galloway, erst recht jene durch Datenspuren und IT-Protokolle geschaffenen Bereiche noch jenseits des Geräts. Kapitel 6 und 7 (Fazit) schließlich nehmen sich Fragen der Kybernetisierung des Alltags vor und enden mit dem wichtigen Appell, die Ausverhandlung der Nähe zu unseren Geräten als politischen Prozess zu verstehen (und nicht etwa die Verantwortung den Einzelnen zuzusprechen).

Was bietet das Buch also als Ganzes? Auf alle Fälle eine willkommene Unterlage für weitere Erkundungen des Smartphones und ein reichhaltiges Bündel möglicher Instrumente für diese – wie erwähnt weckt es auch den Wunsch nach tiefergehenden Analysen, was keineswegs ein Malus ist, sondern ein hilfreicher Hinweis für künftige Untersuchungen. Dazu würde auch eine neuerliche Befragung des Urteils Kaerleins zählen, dass es sich beim Smartphone eher nicht um ein persönliches Medium handele, da es sowohl beobachtbare Praktiken des Teilens gäbe als auch User_innen, die mehrere Geräte besäßen (vgl. S. 58). Die Vermutung der Rezensentin ist, dass gerade das Technologisch-Unbewusste des Smartphones von Deutungslogiken angetrieben wird, die selbst in diesen Fällen noch eindeutige IDs herauszurechnen imstande sind – angefangen von der Mobilfunknummer hin zu den vielfältigen Identifikatoren der Datenplattformen (denn wie viele Google-Identitäten kann ein Mensch auf je nur einem Gerät betreiben?). Insofern das Urteil: Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien – für die eigene Anschaffung oder Empfehlung an die medienwissenschaftliche Bibliothek des Vertrauens in jedem Fall empfohlen.

[1] Heidi Rae Cooley, "It's All About the Fit. The Hand, the Mobile Screenic Device and Tactile Vision", in: Journal of Visual Culture, 3/2 (2004), S. 133-155.

Autor/innen-Biografie

Jana Herwig

Medienwissenschafterin und -beraterin in Wien. In ihrer Forschung befasst sie sich insbesondere mit Phänomenen an der Schnittstelle von Medien und Menschen, sowohl im materiell-haptischen als auch sozial-kommunikativen Sinne. 2017 hat sie ihre Dissertation mit dem Titel "Hand, Haut, haptische Medien. Mediale Konfigurationen des Tastsinns" abgeschlossen, die sich u. a. der Rolle der manuellen Handhabung und der Möglichkeit technisch vermittelter Berührung in interaktiven Szenarien widmete.

Aktuelle Publikationen:

Jana Herwig: "Sinnliche Immersion und haptische Medien. Utopien und Möglichkeiten". In: Jahrbuch immersiver Medien 2017. Hrsg. v. Patrick Rupert-Kruse. Marburg: Schüren 2018, S. 80–95.

–: "Viralität als Sonderfall: über Selfies, Serialität und die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation im Social Web". In: kommunikation @ gesellschaft, 19 (2018). Hrsg. v. Georg Fischer/Lorenz Grünewald‐Schukalla, 19 S., URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-56025-3.

–: "Bischöfliche und andere Handschuhe. Medium, Objekt, Interface". In: Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns. Hrsg. v. Karin Harrasser. Frankfurt a. M.: Campus 2017, S. 149–170.

–: "Taststock, Handschuh, Schalter. Medientechniken der Berührung". In: Texture Matters: Der Tastsinn in den Medien (haptisch/optisch 2). Maske und Kothurn 62 (2–3). Hrsg. v. Jana Herwig/Alexandra Seibel. Wien: Böhlau 2017, S. 187–206.

–/Alexandra Seibel (Hg.): Texture Matters: Der Tastsinn in den Medien (haptisch/optisch 2). Maske und Kothurn 62 (2–3), Wien: Böhlau 2017.

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Veröffentlicht

2019-05-15

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Medien