Carl Hegemann: Dramaturgie des Daseins. Everyday live.

Berlin: Alexander 2021. Hg. v. Raban Witt. ISBN 978-3-89581-465-5. 448 S., 30 Abb. und mit 25 Bildern und Zeichnungen von Ida Müller und Vegard Vinge., Preis: € 33,–.

Autor/innen

  • Monika Meister

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-03

Abstract

Wenn die Rede von Dramaturgie ist, bleibt immer etwas offen, etwas, das nicht exakt zu definieren ist, das aber einen kreativen offenen Raum umschreibt, der sich als verlockend und undeutlich zugleich herausstellt. Carl Hegemann können wir als den Inbegriff eines in solchem Terrain arbeitenden Dramaturgen begreifen. So gilt ihm die kritische Intervention in die eingespielten Gewohnheiten der Institution Theater als prinzipiell notwendig, um jene freischwebende Phantasie entfalten zu können, die jede Aufführung einzigartig werden lässt. Dass dabei der poetischen Konstruktion von Raum und Zeit, von Körper und Sprache, von Rhythmus und Klang höchste Aufmerksamkeit zukommt und diese zwischen Perfektion und Zufall oszilliert, macht auch die Faszination der manchmal überschwänglichen Arbeit Hegemanns aus. Zudem bestechen die Beharrlichkeit und das Festhalten am immer auch in Zweifel zu ziehendem Gegenstand – ein Theaterarbeiter also im allerbesten Sinne.

Das von Raban Witt herausgegebene und eingeleitete Kompendium bewegt sich in einem Theaterkosmos, einem höchst eigenwilligen Entwurf einer Welt zwischen ästhetischer Konstruktion und realem Alltag, die immer bereit ist zu kippen. Vielleicht stimmt ja zumindest teilweise, was Helene Hegemann als 12-jährige über ihren Vater und sein Metier dachte und jüngst in ihrem Büchlein über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition zu Vater und Metier festhielt: "[…] stellte mir da jedoch eher einen weiß geschminkten Clown mit Totenschädel in der Hand vor, Samtvorhänge, bisschen Shakespeare, bisschen Pantomime. Auf einer gediegenen, bezwingbaren, kargen Bühne" (S. 53). Etwas davon stimmt gewiss und doch ist es viel mehr, was der Dramaturg, Montage-Konstrukteur und Denkakrobat Hegemann zum Theater der letzten Jahrzehnte beigetragen hat, ja diesem zwischen und vor die Kulissen geworfen hat. Von der konkreten Theaterarbeit Carl Hegemanns gibt dieses neue Buch in vielschichtiger Form Auskunft, auch in Perspektive auf die Meta-Arbeit am Theater, an den performativen Praxen der letzten Jahrzehnte, allem voran die Arbeit Frank Castorfs Berliner Volksbühne betreffend. Welche umfassende Recherche- und Phantasieproduktion hierbei am Werk ist, lässt sich eindrucksvoll nachvollziehen. Der wunde und virulente Punkt, das, was Hegemann umtreibt, ist und bleibt, wie Theater und Leben, und das heißt immer Leben und Tod sich zueinander verhalten. Die Einzigartigkeit des Theaters besteht ja auch in der mit dem Publikum gelebten Gleichzeitigkeit der Performance. Es ist dies die gemeinsame und zugleich jeweils einsame Lebenszeit, die das Theater ausmacht und dies von Anfang an. Und damit betrifft es die Realität, den konkreten Lauf des Lebens, der das Erfundene, die Fiktion als Widerlager notwendig macht. Dafür ist das Theater da, dass wir uns in der Fiktion als real erfahren. Und zugleich das Mögliche umkreisen.

Die vier, mit Anhang fünf Abschnitte des Buches versammeln innerhalb der thematischen Schwerpunkte höchst divergente, chronologisch angeordnete Texte aus den letzten 15 Jahren, zum Teil an entlegenen Stellen bereits veröffentlicht, zum Teil neu verfasst, jedenfalls assoziativ gebündelt: "Wie den Tag überstehen?", "Was geht hier eigentlich vor?", "Erlösung ist möglich …", "… Aber nicht für uns".

Es geht einmal um einen kritischen Blick auf den Zustand bürgerlicher Institutionen wie Familie, Liebe, Gesetz, kapitalistische Produktionsweisen mitsamt der Geldwirtschaft. Sodann um deren Auftritt, deren Verhandlung in der Kunst des Theaters. Zugleich reichen die Texte weit darüber hinaus: Hölderlin und Dostojewski als Analytiker des unwiederbringlichen Bruchs, des Konflikts, der Differenz von Sein und Sterben treten auf, ebenso wie Heiner Müllers Arbeit an Mythos und Geschichte, dem Weltraum-Dunkel und dessen Fortsetzung bei Wolfram Lotz. Es geht um Schlingensiefs Afrika und die Berliner Volksbühne, um Mea Culpa am Wiener Burgtheater und Bayreuth, um die Selbstwidersprüche und um „Erobert euer Grab“ – von Aischylos bis Schleef. Und es geht um das Sterben angesichts des in aller Ambivalenz sich vollziehenden Lebens: Kurz „Leben als Selbstwiderspruch“ (S. 89) und dessen ästhetische (Über-)Setzungen und Konfigurationen. Insofern umfasst der Titel Dramaturgie des Daseins tatsächlich unsere tägliche ("everyday live") und zeitlich begrenzte Existenz aus der Perspektive ihrer Verfasstheit, einer brüchigen Selbstbestimmung angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Wie sterben lernen? Diese provokative Frage bestimmt das Theater von Anfang an, subkutan bis zu den gegenwärtigen performativen Versuchsanordnungen. Mit dieser Frage ging Bertolt Brecht radikal um: Das Einverstanden-Sein mit dem Tod wird beispielsweise zum revolutionären Akt. Das Herzstück der Auseinandersetzung mit dem Tod wird zur Erkenntnis in das innerste Räderwerk der Zeit. Das Theater als der Ort, an dem die Toten nicht nur ihren Auftritt haben, sondern wo sie seit der antiken griechischen Tragödie vor 2500 Jahren bestimmen, wie das Leben angesichts seiner Vergänglichkeit gelingt oder scheitert, etabliert eine unvergleichliche Zeitmaschine. Hier also liegen die Schnittpunkte, die für Hegemann von elementarem Interesse für ein gegenwärtiges Theater sind. Und dies ist überaus brisant: Es macht das Buch zu einem Konvolut, in dem auch die letzten Dinge in aller melancholischen Versunkenheit als lustvoll und schön im emphatischen Sinn des Wortes wahrnehmbar werden.

Besonders hervorhebenswert sind die überraschenden Texte Hegemanns zu Friedrich Schillers ästhetischen Schriften zur Schaubühne und zum Spiel, die in die berühmten Definitionen des ästhetischen Vergnügens und der Wirkungsdimension der Tragödie und des Trauerspiels münden. Hier greift Hegemann in die Mitte aufklärerischen Denkens, zu jenem revolutionären Impetus Schillers, der immer neu besticht. Dieses Aufbegehren gegen die verkrustete, hierarchisch bestimmte Gesellschaft und ihre Kunst stellt gleichsam den Boden der Aufklärung dar, an der bereits Schiller seine Zweifel hatte. Das "tintenklecksende Saeculum" der Räuber besticht den kritischen Geist noch immer, spätestens eingelöst in der Dialektik der Aufklärung, wie Adorno und Horkheimer diese bürgerliche Emanzipationsbewegung im amerikanischen Exil analysierten. Die Schriften Schillers bilden ein historisch fundiertes Gerüst des Diskurses der Dramaturgie und der Theorie des spielenden Menschen dar und mit diesen setzt sich Hegemann auch kritisch auseinander. So findet er in Schiller einen frühen Marktstrategen, der zwar das Publikum im Blick hat, aber dieses nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten beurteilt, sondern es so bilden will, dass es das freie, zwecklose Spiel der Kunst zu genießen weiß und zugleich sich darin als Mensch verwirklicht findet.

Die in das Buch integrierten Schaubilder versinnbildlichen dramaturgische Grundstrukturen, thematische Felder, Orte, Figurenkonstellationen, Kräfteverhältnisse, auch Lektüren und poetische Konstruktionsansätze. Diese ins Bild transformierten Denk- und Spielentwürfe lassen die Intention dramaturgischer Arbeit sichtbar werden, einer Arbeit, die wie immer einsam vor sich geht und kollektiv zugleich organisiert ist. Der Assoziationsreichtum, die Fülle an produziertem Material in eine Ordnung zu bringen, die die Unordnung nicht negiert, das könnte man mit Hegemann als die Arbeit der Dramaturgie bezeichnen. Es geht darum, das Theater als kunstvoll gebauten Raum und Zeitmaschine in immer neuen/alten Konstellationen erkennbar zu machen, eine Energie in Gang zu setzen, die die unaufhebbaren Ambivalenzen unseres Lebens präsent macht.

Die Gedanken und Ausführungen in diesem Buch lassen sich insgesamt lesen als "Bausteine für eine Dramaturgie der Gegenwart" (so der Titel eines Textes von 2006), die sowohl in der Geschichte des Theaters verankert sind und zugleich die Heterogenität unserer Zeit als Produktionsmittel performativer Entwürfe in den Blick nehmen. Eingeschoben sind Referenztexte von Christoph Schlingensief, Christoph Menke, Diedrich Diederichsen, Frank Castorf und René Pollesch, die das Thema pointiert konterkarieren oder auch mit entwerfen. Friedrich Hölderlins einzigartige poetische Kraft wird von Hegemann aufgerufen, wenn er am Anfang des Buches im "Vorwort für die sorglos Schlafenden, die Frischaufgeblühten" und am Ende aus den "Vaterländischen Gesängen" zitiert: "Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang." Dass der Kunst solch transformatives Potential zugehört, bleibt Traum und Wirklichkeit zugleich, und diesen assoziativen Konstellationen wendet sich Carl Hegemann lustvoll zu.

Autor/innen-Biografie

Monika Meister

Stellvertretende Leiterin der Forschungsplattform Elfriede Jelinek und Lehrende am Max-Reinhardt-Seminar. Studium der Theaterwissenschaft, Ethnologie und Philosophie an der Universität Wien. Dissertation über den Theaterbegriff Robert Musils, 1992 Habilitationsschrift über die Katharsis im Theoriediskurs der Jahrhundertwende. Universitätsdozentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, 2004–2010 Institutsvorständin. Vorlesungen, Publikationen und Vorträge zur Geschichte, Theorie und Ästhetik des Theaters.

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Veröffentlicht

2022-05-18

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Rubrik

Theater