Hermann Nitsch - Leben und Arbeit.

Aufgezeichnet von Danielle Spera. Wien, München: Brandstätter 1999. 262 S. mit zahlreichen meist farbigen Abb. ISBN 3-85498-005-1. Preis: ATS 993,--/DM 136,--/sfr 121,--.

Autor/innen

  • Michael Hüttler

Abstract

Hermann Nitsch - Leben und Arbeit heißt ein großformatiger Kunstband mit vielen Fotos, der die mittlerweile mehr als 40 Jahre dauernde Karriere des Aktionisten und Malers Hermann Nitsch dokumentiert. Die Biografie, in Form eines von Danielle Spera geführten langen Interviews, stellt die Geschehnisse aus der subjektiven Sicht des Künstlers dar, beginnend mit seiner Kindheit und den ersten Erfahrungen mit der Malerei bis hin zum vorläufigen Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens, dem 6-Tages-Spiel des Orgien-Mysterien-Theaters in Schloss Prinzendorf im August 1998.

Der Künstler erzählt aus seiner Sicht die Begebenheiten, die ihn bekannt gemacht haben. So entstand eine unterhaltsame Biografie, die eine Gratwanderung versucht zwischen Unterhaltung - es gibt sehr viele anekdotische Begebenheiten - und dem Anspruch, das künstlerische und theoretische Werk Hermann Nitschs auf einfache Weise nahe zu bringen.

Das gelingt gut, denn im Gegensatz zu den theoretischen Schriften von Hermann Nitsch ist dieses Buch auch für Laien leicht lesbar. Allerdings hätten es ein paar Society-Fotos weniger und dafür mehr ganzseitige Abbildungen von Kunstwerken oder Aktionen auch getan. Eine Doppelseite mit Rita und Hermann Nitsch sowie Johannes Gachnang im Swimmingpool ist übertrieben.

Danielle Spera stellt als Freundin des Künstlers keine ausgesprochen kritischen Fragen, durch die etwaige Widersprüche ausgelotet hätten werden können. Man hätte sich gewünscht, dass Spera dort, wo Zweifel und Unklarheiten evident wurden, intensiver nachfragt. Aber das ist wohl nie geplant gewesen, denn es handelt sich um eine Aufzeichnung von Leben und Werk Hermann Nitschs, und im Vordergrund stand die Frage: Wer ist der Mensch hinter dem Künstler?

Hermann Nitsch ist eine Hauptfigur des Wiener Aktionismus und der Schöpfer des Orgien-Mysterien-Theaters. Seine Schüttbilder, mit Blut und Farbe gemalt, entzweien ebenso wie seine Aktionen, die er seit den frühen 60er Jahren bis heute - teilweise unter Polizeischutz - durchführt. In der breiten Öffentlichkeit wurde Nitsch immer wieder aufgrund der Skandale, die durch seine Kunst hervorgerufen wurden, wahrgenommen: Schüttbilder mit Blut und Farbe, gekreuzigte nackte Menschen in seinen theatralen Aktionen, Akteure, die beim Orgien-Mysterien-Theater in geöffneten Tierkörpern wühlen. Schon die Begriffe Orgien und Mysterien garantieren dem Künstler eine ständige mediale Präsenz.

Neben der Schilderung zahlreicher privater Erlebnisse werden vor allem der künstlerische Werdegang von Hermann Nitsch und seine Freundschaften zu zahlreichen anderen prominenten Künstlerkollegen, wie Otto Mühl, Oswald Wiener, Kurt Kren, Günter Brus, Peter Kubelka, Reinhard Priessnitz, Kurt Kalb, ausführlich besprochen. Beinahe droht die Biografie hier in eine Künstler-Seitenblicke-Revue abzugleiten. Aber Danielle Spera versteht es geschickt, auf der schmalen Grenze zwischen Entertainment und Information zu balancieren.

Das Buch versucht vor allem, Antworten auf grundlegende Fragen zur Kunst Hermann Nitschs zu geben. Die große Ambivalenz seiner Persönlichkeit tritt in verschiedensten Bereichen zu Tage: Nitsch verwendet Tierblut für seine Schüttbilder und lässt während des 6-Tages-Spiels Stiere "live" töten, während er gleichzeitig immer wieder seine große Tierliebe betont. Genügt als Erklärung der Hinweis darauf, dass in fast allen Religionen religiöse Opferungen stattfanden?

Jede/r, die/der bei einer seiner Aktionen, insbesondere beim Orgien-Mysterien-Theater live dabei war, wird bestätigen können, dass die bei seinen Theaterfesten, die früher auch als "Abreaktionsspiele" bezeichnet wurden, erzeugte Atmosphäre nicht im Mindesten mit konventionellen Theateraufführungen zu vergleichen ist. Mit Hilfe von Fotos und Worten kann diese Atmosphäre allerdings schwer transportiert werden. Abbildungen von synästhetischen Aktionen können eben nur den visuellen Teil wiedergeben. Das Fühlen, Riechen, Schmecken, Hören kann so nicht transportiert werden. Integraler Bestandteil des Orgien-Mysterien-Theaters ist die von Hermann Nitsch selbst komponierte Musik. Wort, Malerei und Musik werden zur liturgischen Handlung. Das Theaterspiel als rituelle Feier des Lebens, wie von Nitsch intendiert, ist nur begreifbar durch reales Erleben. Daher kann ein Buch nur bedingt Antworten geben und mittels Fotos die tatsächliche Intensität ahnen lassen.

Wie entstehen Nitschs Ideen zu Aktionen und Schüttbildern, die vielfach Gewalt thematisieren? Eine eindeutige Antwort darauf wird man auch in der vorliegenden Publikation nicht finden, aber doch einige Hinweise. Seine Kindheit verbrachte Hermann Nitsch in Wien Floridsdorf, wo er während des Zweiten Weltkriegs die ständigen Bombenangriffe hautnah miterleben musste. "Mich fragen viele Leute, warum ich eine derart explosive und scheinbar grausame Arbeit machen muß. Das kann schon mit meinen Kindheitserinnerungen zu tun haben. ... ich habe ... wirkliche Todesangst gehabt und begriffen, was es heißt, zu sterben..."

Im Buch gibt es immer wieder Querverweise zu Künstlerkollegen und Freunden aus aller Welt, mit denen Nitsch in Verbindung stand. Erwähnt Nitsch im Interview einen Künstler, so finden sich die wichtigsten Daten und Stichworte zur Person am Seitenrand. Außerdem gibt es lexikalisch aufbereitete Informationen zu Kunst und Kultur. Damit wird der Informationswert des Buches beträchtlich erhöht, neben Anekdoten wird gleichzeitig Wissenswertes über die zeitgenössische Kunstszene vermittelt. In diesem Sinne ist das Buch ein gelungenes Beispiel für Infotainment.

Auch die wichtigsten Ausschnitte aus den theoretischen Schriften von Hermann Nitsch sind in das Buch aufgenommen worden, wodurch ein Eindruck von dessen künstlerischer Entwicklung gegeben wird. Darüber hinaus sind Schriften jener Künstler, wie z. B. Georg Trakl oder Hugo von Hofmannsthal, die Hermann Nitsch beeinflusst haben, abgedruckt. Allerdings fehlen unerklärlicherweise die bibliografischen Angaben zu all diesen Textausschnitten. Ein Manko, das umso unverständlicher ist, als einiger Aufwand für die oben erwähnten lexikalischen Informationen zu Kunst und Kultur aufgewendet wurde.

Interessant sind die vielen historischen und teilweise bisher unveröffentlichten Fotos aus Nitschs Privatsammlung sowie aus dem Archiv von Heinz Cibulka. Cibulka war in frühen Jahren ein Modell der Aktionisten und hat von Anbeginn die Arbeit Hermann Nitschs fotografisch begleitet. Cibulka selbst ist ein anerkannter Künstler, dessen Fotografien und "Bildgedichte" in vielen Ausstellungen zu sehen sind.

Das Buch beschäftigt sich auch mit Nitschs Kritikern, wobei das Motto "viel Feind, viel Ehr'" wörtlich genommen wurde. Die ungebrochene Faszination und der im Laufe der Jahrzehnte wachsende Erfolg von Hermann Nitschs künstlerischem Werk bei Sammlern und Kunstsachverständigen scheint die Kritiker von einst ihrer Ignoranz zu überführen. Mit Freude werden im Buch Zeitungsartikel und Kritiken präsentiert, die Empörung und moralische Entrüstung seit den ersten Aktionen in den frühen 60er Jahren unterhaltsam dokumentieren. So titelte die Kronenzeitung bereits 1962: "Drei Menschenfresser machten Kellerpartie ...". Kristian Sotriffer (Presse) sah Nitsch 1963 als "Opfer unserer wunden, religions- und widerstandslosen, ausgehöhlten westlichen Zivilisation" und charakterisierte ihn als "infantile[n] kaum künstlerisch zu wertende[n], komplexbehaftete[n] ... Fall". 1989 bezeichnete Paul Kruntorad in der Frankfurter Rundschau "Hermann Nitsch als armen Irrläufer", und die Kampagnen der Kronenzeitung anlässlich des 6-Tage-Spiels des Orgien-Mysterien-Theaters 1998 in Prinzendorf sind ohnedies noch in Erinnerung. Wie eine Trophäe wirkt auch die Schlagzeile auf dem Titelblatt der Kronenzeitung vom 2. August 1998: "Brigitte Bardot bekämpft den Blutkünstler: Monsieur Nitsch ist ein Barbar!" Eine Spitze auf Hans Dichand, den Herausgeber der Kronenzeitung, konnte sich Spera folglich nicht verkneifen: Laut Hermann Nitsch besitzt Dichand persönlich gleich "mehrere" Nitsch-Kunstwerke.

Das Buch lässt keinen Zweifel daran, dass Nitsch auch immer wieder zum Objekt (kultur-)politischer Begierde geworden ist. Ein Foto zeigt den sozialdemokratischen Bundeskanzler Franz Vranitzky neben Hermann Nitsch bei der Eröffnung der ersten großen Aktionismusausstellung in Kassel 1987. Der bürgerliche Bundespräsident Thomas Klestil dagegen sagte den Besuch der Eröffnung der Expo in Sevilla 1992 ab, weil Nitsch als künstlerischer Vertreter Österreichs ausstellte. Die Hintergründe zu diesem Kunst- und Politskandal werden aus Nitschs Sicht erörtert.

Aber auch direkte politische Stellungnahmen sind im Buch zu finden. So ist das Vorwort von Nationalratspräsident Heinz Fischer (SPÖ) verfasst. In diesem persönlichen Text verteidigt Fischer vehement die seit 1982 in der Verfassung garantierte Freiheit der Kunst und erinnert angesichts der permanenten politischen Angriffe auf das Werk Hermann Nitschs daran, dass "einer Einschränkung der Freiheit der Kunst immer sehr rasch eine Einschränkung der Freiheit des einzelnen Menschen" folgte. Das Buch ist im Übrigen kurz vor der politischen "Wende" in Österreich erschienen. Öffentliche Wertschätzung und Ablehnung scheinen mit den politischen Stimmungen einherzugehen. Nach dem großen Erfolg der Hérodiade-Inszenierung an der Wiener Staatsoper im Februar 1995 ließen sich Kanzler und weitere Politiker mit Nitsch fotografieren. Beim 6-Tage-Spiel des Orgien-Mysterien-Theaters in Prinzendorf im Sommer 1998 gab es wieder Proteste von kirchlicher und politischer Seite.

Teile der Auflage sind als Kunstobjekt gestaltet. 90 nummerierten Exemplaren ist eine signierte und nummerierte Original-Radierung beigegeben, 30 nummerierten Exemplaren je eine Original-Zeichnung und 30 nummerierten Exemplaren ein Original-Relikt von Hermann Nitsch.

Ein Anhang enthält in Kurzform die wichtigsten künstlerischen Daten zu Hermann Nitsch: biografische Angaben, eine Auswahl von Einzelausstellungen, Ausstellungsbeteiligungen, Sammlungen mit Werken von Hermann Nitsch, die Aktionen, Wiederaufführungen von Aktionen, Malaktionen sowie eine Bibliografie und eine Diskografie. Durch den Abdruck von diversen Manifesten und Theorien in Kurzform ist das Buch Hermann Nitsch - Leben und Arbeit auf jeden Fall für Nitsch-Einsteiger eine Empfehlung, und auch diejenigen, die das künstlerische Schaffen des Hermann Nitsch schon länger verfolgen, werden an den gesammelten Erinnerungen ihre Freude haben, und sei es nur an den Hochglanzfotos einiger Kunstwerke und Aktionen.

Autor/innen-Biografie

Michael Hüttler

Vor dem Studium der Theaterwissenschaft und Publizistik/Kommunikationswissenschaft einige Jahre Bankangestellter. Promotion in Theaterwissenschaft an der Universität Wien, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. 2001–2002 Lehrbeauftragter an der Yeditepe Universität Istanbul, 2003–2004 Forschungsprojekt zum Experimentellen Theater in Österreich am Institut für TFM. Bis 2006 Mitarbeit am Da Ponte Institut für Librettologie, Don Juan Forschung und Sammlungsgeschichte. Seit 2007 Leiter des Don Juan Archiv Wien (www.donjuanarchiv.at), seit 2011 Leiter des Hollitzer Wisssenschaftsverlags. Wiss. Mitarbeit bei der internationalen Forschungsgruppe Spectacle vivant et sciences de l'homme bei der MSH (Paris).

Forschungsschwerpunkte: Experimentelles Theater in Österreich, Musik- und Volkstheaterformen im 18. Jahrhundert, Theaterethnologie, das 'Türkische Sujet' im europäischen Theater.

Publikationen:

(Auswahl)

Michael Hüttler/Ulf Birbaumer: Guido di Palma: Corps du Théâtre / Il Corpo del Teatro. Wien: Hollitzer/Lehner 2010.

– (Hg.): Lorenzo Da Ponte. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007. (Maske und Kothurn, 52. Jg., H. 4, 2006).

– (Hg.): hermann nitsch. wiener vorlesungen. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005. (Maske und Kothurn, 51. Jg., H. 2–3, 2005).

–: Unternehmenstheater. Vom Theater der Unterdrückten zum Theater der Unternehmer. Stuttgart: Ibidem 2005.

–/Susanne Schwinghammer/Monika Wagner (Hg.): Theater. Begegnung. Integration? Frankfurt a. M.: IKO 2003.

–/Susanne Schwinghammer/Monika Wagner (Hg.): Aufbruch zu neuen Welten – Theatralität an der Jahrtausendwende. Frankfurt a. M.: IKO 2000.

Veröffentlicht

2001-05-29

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft