Bettina E. Schmidt, Mark Münzel (Hg.): Ethnologie und Inszenierung, Ansätze zur Theaterethnologie.

(Marburg: Curupira, 1998; Reihe Curupira, Bd. 5), 554 Seiten. ISBN 3-8185-0248-X.

Autor/innen

  • Michael Hüttler

Abstract

Ethnologie und Inszenierung ist ein Sammelband mit Texten zur Theaterethnologie. Zwanzig Autoren bringen Beispiele für Ansätze zur Theaterethnologie (so der Untertitel) aus Europa, Lateinamerika, Afrika sowie Süd- und Südostasien. Diese Ansätze behandeln die vielschichtige Beziehung von Ethnologie, Theater und Inszenierung.

Die Herausgeber sind Ethnologen der Universität Marburg. Als Ethnologen begreifen sie die Theaterethnologie als einen "Zweig der Ethnologie, der sich mit Theatralischem befaßt". Eine Einschätzung, die den Protest der Theaterwissenschaftler auf den Plan rufen müßte. Denn gerade diese Einschränkung auf einen Zweig der Wissenschaften glaubte man mit dem Konzept der Theaterethnologie, einem Ansatz, der notwendigerweise mit interkulturellen Erfahrungen arbeitet und wissenschaftliche Analysen idealerweise von mehreren Seiten zuläßt, überwunden zu haben.

Nur zwei der insgesamt zwanzig Autoren, Christopher Balme und Mark Pizzato, sind ausgewiesene Theaterwissenschaftler. Die übrigen Verfasser sind (bis auf einen Erziehungswissenschafter) Ethnologen oder Anthropologen.

In fünf Kapiteln werden sowohl wissenschaftsgeschichtliche Themen aufgearbeitet und kulturelle, rituelle und politische Inszenierungen untersucht als auch experimentelle Ansätze aufgezeigt.

Aufgrund des relativ jungen Forschungsgegenstandes ist das Arbeitsfeld Theaterethnologie naturgemäß noch nicht präzise differenziert. Daher sind die im Buch befindlichen Aufsätze auch sehr breit gestreut, wodurch der fächerübergreifende Anspruch dieser Disziplin betont wird: von wissenschaftsgeschichtlichen Ausführungen bis zur ungewöhnlichen Beschreibung des Weges einer Maske von ihrer Musealisierung zurück zum Auftritt auf der Bühne.

Schmidt und Münzel bezeichnen als Theaterethnologie "die ethnologische Annäherung an bewußt, geplant inszenierte Aufführungen unterhaltsamen Charakters", es handle sich "um die Dialektik von Spiel und Ernst in Aufführungen" (S. 11).

Im ersten Abschnitt gibt Christopher B. Balme einen Überblick über die Entwicklung in der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum seit den 20er Jahren, setzt diese in Bezug zur Ethnologie und vergleicht dazu die amerikanische Performance Theory wie sie von Richard Schechner vertreten wird sowie Eugenio Barbas Theateranthropologie und Jean-Marie Pradiers französische Ethnoscènologie. Balme weist darauf hin, daß die deutsche Theaterwissenschaft in ihrer Gründerzeit ethnographisch orientiert war. Carl Niessens und Artur Kutschers Handbücher waren völkerkundlich ausgerichtet, beide bezogen sich in ihren Ansätzen auf die Mimus-Theorie des Altphilologen Hermann Reich. Niessens Handbuch der Theater-Wissenschaft stützte sich zu einem großen Teil auf ethnographisches Material.

Klaus Peter Köpping spricht in seinem Aufsatz Inszenierung und Transgression in Ritual und Theater von einer beinahe "theatralischen" Wende des ethnologischen Forschungsinteresses und bezieht sich damit auf das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebene Grundlagenpapier Theatralität – Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften, das davon ausgeht, daß "sich das Selbstverständnis einer Kultur außerhalb Europas/Nordamerikas nicht nur in Texten und Monumenten formuliert, sondern auch – zum Teil sogar vorrangig – in theatralen Prozessen". Köpping diskutiert die Entwicklung einer Performanz-Theorie. Dabei bezieht er sich vor allem auf Victor Turner (soziales Drama) und greift zur Diskussion des Spielbegriffs auf Johan Huizinga und Roger Callois zurück. Köpping betont aber, daß nicht alles Handeln gleichzeitig Performanz ist. Die sozialen Dramen würden, wie auch die rituellen Prozesse, zur Wirklichkeitssphäre gehören und damit eigentlich nicht in das performative Genre des Theaters oder Spiels als Meta-Kommentare der Realität passen. Als wesentlich erachtet er, daß "die klare Unterscheidung zwischen Theater und sozialem wie rituellem Handeln aufrecht erhalten werden [muß], sonst bleibt uns nichts 'Apartes' mehr für das Theater". Köppings selbstverständliche Verwendung des Wortes Performanz mit "z" als eingedeutschte Version ist ein interessanter Beitrag zur notwendigen Begriffsdiskussion und sollte die Debatte darüber beleben.

Ein Aufsatz von Ulrike Ziegler über die Visualisierung von Räumen und Grenzen im Spiel der Trickster und Clowns, eine Diskussion von "ritual practices as expressions of pronominal practices" von Tullio Maranhão und Mark Pizzatos "Theaters of Sacrifice" bei den Griechen, Azteken und in der Postmoderne, vervollständigen den ersten Teil des Buches.

Im Abschnitt Kulturelle Inszenierungen findet sich unter anderem eine Arbeit von Ana Maria Larrea Maldonado über das schwierige Verhältnis des Staats zum "teatro popular" in Quito. Zensur, Unterdrückung und Abhängigkeit von Auftrittsgenehmigungen durch die Gemeinde kennzeichnen neben ökonomischen Problemen die Situation des "Volkstheaters" in Ecuador. Marianne König widmet sich in ihrem Beitrag dem Modernen Theater in Indonesien. Das moderne indonesische Theater entstand zeitgleich mit dem Nationalstaat Indonesien im Zuge der Unabhängigkeit von Holland nach 1945. Es zeichnet sich durch die Verwendung der "Bahasa Indonesia", der gemeinsamen "indonesischen Sprache", aus. "Modern und indonesisch werden [...] zu Synonymen, und die indonesische Sprache ist Ausdruck davon." König zeichnet anhand der Verwendung der Sprache die Abweichungen und Brüche nach, die das anfangs nationalistisch gefärbte moderne Theater im Laufe der Jahre durchlaufen hat.

Anette Rein untersucht in ihrer Arbeit Tanz auf Bali das sinnliche Erleben der anderen Wirklichkeit in den rituellen Tanzformen Balis. Ein Bericht über das Fest der Köchinnen in Guadeloupe von Friederike Platzdasch beschließt dieses Kapitel.

Der Teil Rituelle Inszenierungen enthält einen Forschungsbericht über religiöses Theater an der Nordküste Perus (Bernd Schmelz), die Beschreibung der Festkultur Ecuadors in Der Tag des Señor de los Milagros in San Juan, in der südlichen Sierra Ecuadors (Bettina E. Schmidt) und Der Pakt mit dem Teufel – Die Fiesta de San Juan in Otavalo, Ecuador (Elisabeth Rohr), eine Interpretation der griechischen Totenklage als performative Seinsbestimmung (Ulrike Krasberg) sowie Mark Münzels Ich bin eyn Tiger thier – Inszenierungen bei Indianern des östlichen Waldlandes. Münzel zieht einen Vergleich zwischen religiösen Inszenierungen südamerikanischer Tieflandindianer und der Faszination des Cyberspaces. Was zunächst sehr weit hergeholt erscheint, stellt sich im Laufe des Aufsatzes als durchaus brauchbarer Versuch dar. Münzel bezieht sich auf die virtuellen Welten, die Cyberspace und Theater aufzubauen verstehen, und auf deren künstlerische Gestaltbarkeit. Die Grenze zwischen "realtime" und nicht-realer oder vergangener Zeit wird dabei verwischt. Der Sinn kultischer Inszenierungen liegt in der Verwandlung von Vergangenheit in "realtime".

Im vierten Teil des Buches, Politische Inszenierung, findet sich eine Arbeit über Südafrikanische Performance von Georgia A. Rakelmann. Sabine Beers Narrative Bilder und das Ende der Erzählungen ist eine Analyse der politischen Wandbilder in der westafrikanischen Hauptstadt Freetown. Die "militanten" Wandmalereien werden als Inszenierungen im öffentlichen Raum Sierra Leones beschrieben. Burkhard Schnepel geht in Der Raub der Göttin auf die Verknüpfung von Politik und Religion im Hinduismus ein. Machtverhältnisse oder Statuspositionen werden durch den Vorgang der Inszenierung theatralisiert.

Den Abschluß des Bandes bildet das Kapitel Experimentelle Theaterethnologie. Nicole Janowski beschäftigt sich in ihrem Aufsatz Theatrale Aspekte von Trance und Verkörperung im Candomblé mit den Texten Hubert Fichtes über die afrobrasilianische Religion Candomblé. Thomas Mennicken erforscht in vierzehn Szenen die Zusammenhänge zwischen einer veränderten Auffassung von sozialer Wirklichkeit und aktuellem Entwicklungstendenzen in der Ethnologie. Antje von Elsbergen beschäftigt sich in ihrem Aufsatz Von der Bühne zur Vitrine und zurück – Das musealisierte Drama einer Maske mit einem Phänomen, daß man vom Besuch von Theatermuseen kennt. Objekte, die man in ihrer ganzen Lebendigkeit und Sinngebung nur auf der Bühne erfahren kann, befinden sich leblos im Ausstellungsraum. Ähnlich ist es im Völkerkundemuseum – die ausgestellten Objekte müssen, damit sie präsentiert werden können, notwendigerweise aus ihrem kulturellen Zusammenhang gerissen werden. Für die Besucher bleibt es trotzdem "schwer, sich mittels Vitrinen, Wandtafeln und Multimediashows ein Gesamtbild zu schaffen", und sie gehen fort, "ohne einen unmittelbaren Bezug zu fremder Realität hergestellt zu haben". Die ethischen Skrupel, eine fremde Kultur auf ein Ausstellungsstück zu reduzieren, veranlaßten die Autorin dazu, ein "Instrumentarium zur Selbstreflexion" zu entwickeln. Mit Hilfe eines Theaterdialogs, den die Ethnologin mit der Maske führt, wird die Möglichkeit der textuellen Annäherung an eine Kultur erprobt und die Distanz zum Forschungsobjekt hinterfragt. Das soll spielerisch zu einer "Feldforschung im Kopf" führen. Dieser Beitrag mag zwar den Forderungen nach "hard facts" in der Wissenschaft nicht ganz entsprechen, bietet aber einen originellen Ansatzpunkt im Umgang mit ungelösten Problemen.

Ethnologie und Inszenierung gibt einen guten Einblick in die Arbeit von Ethnologen, die sich mit Inszenierungsformen beschäftigen und damit einen sich überschneidenden Grenzbereich von Theaterwissenschaft und Ethnologie berühren. Doch man hätte sich zum Vergleich mehr Betrachtungen aus der Sicht der Theaterwissenschaft gewünscht. Zumindest ein Theaterwissenschaftler ist allerdings fast ständig vertreten: Richard Schechner. Er wird in weit mehr als der Hälfte aller Texte in der einen oder anderen Form zitiert, obwohl Schmidt und Münzel in ihrer Einführung besonders den von Schechner geprägten Begriff der "Theater-Anthropologie" ablehnen, weil im Wort "Anthropologie" eine zu starke Betonung des Körperlichen, des Biologischen mitschwinge. Sicherlich ist gerade in den europäischen Geisteswissenschaften die Bezeichnung Theaterethnologie vorzuziehen, aber ob man die Ablehnung der Bezeichung "Anthropologie" ausgerechnet anhand des Körperlichen – gerade im Zusammenhang mit Theater! – festmachen kann, darf bezweifelt werden. Dennoch: Der Sammelband zu einem der spannendsten neuen Themenkreise gibt lesenswerte Einblicke in die Materie und ist eine gute Grundlage für weitergehende Diskussionen dieses Forschungsgegenstandes.

Autor/innen-Biografie

Michael Hüttler

Vor dem Studium der Theaterwissenschaft und Publizistik/Kommunikationswissenschaft einige Jahre Bankangestellter. Promotion in Theaterwissenschaft an der Universität Wien, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. 2001–2002 Lehrbeauftragter an der Yeditepe Universität Istanbul, 2003–2004 Forschungsprojekt zum Experimentellen Theater in Österreich am Institut für TFM. Bis 2006 Mitarbeit am Da Ponte Institut für Librettologie, Don Juan Forschung und Sammlungsgeschichte. Seit 2007 Leiter des Don Juan Archiv Wien (www.donjuanarchiv.at), seit 2011 Leiter des Hollitzer Wisssenschaftsverlags. Wiss. Mitarbeit bei der internationalen Forschungsgruppe Spectacle vivant et sciences de l'homme bei der MSH (Paris).

Forschungsschwerpunkte: Experimentelles Theater in Österreich, Musik- und Volkstheaterformen im 18. Jahrhundert, Theaterethnologie, das 'Türkische Sujet' im europäischen Theater.

Publikationen:

(Auswahl)

Michael Hüttler/Ulf Birbaumer: Guido di Palma: Corps du Théâtre / Il Corpo del Teatro. Wien: Hollitzer/Lehner 2010.

– (Hg.): Lorenzo Da Ponte. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007. (Maske und Kothurn, 52. Jg., H. 4, 2006).

– (Hg.): hermann nitsch. wiener vorlesungen. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005. (Maske und Kothurn, 51. Jg., H. 2–3, 2005).

–: Unternehmenstheater. Vom Theater der Unterdrückten zum Theater der Unternehmer. Stuttgart: Ibidem 2005.

–/Susanne Schwinghammer/Monika Wagner (Hg.): Theater. Begegnung. Integration? Frankfurt a. M.: IKO 2003.

–/Susanne Schwinghammer/Monika Wagner (Hg.): Aufbruch zu neuen Welten – Theatralität an der Jahrtausendwende. Frankfurt a. M.: IKO 2000.

Veröffentlicht

2001-05-29

Ausgabe

Rubrik

Theater