Gabriele C. Pfeiffer: Der Mohr im Mor. Interkulturelles Theater in Theorie und Praxis.

Mit einem Vorwort von Ulf Birbaumer. 115 S. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1999 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 30, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Bd. 76) ISBN 3-631-34368-X.

Autor/innen

  • Michael Hüttler

Abstract

In ihrem erstem Buch Der Mohr im Mor untersucht die in Wien lebende Theaterwissenschafterin Gabriele Pfeiffer die zeitgenössische Praxis des interkulturellen Theaters. Nach einem einführenden theoretischen Teil, in dem sie acht Modelle interkulturellen Theaters entwickelt, wendet sie ihr Augenmerk einem exemplarischen Fall zu, anhand dessen sie ihre Theorien einem "Praxistest" unterzieht.

Gabriele Pfeiffer hat sich mit dem Bereich "Interkulturalismus am Theater" eines schwierigen Themas angenommen. Viele, oft untaugliche Versuche hat es in der Theaterpraxis schon gegeben, denn die Anforderungen an ein "wahres" interkulturelles Theater sind hoch. Laut Pfeiffer existiert zur Zeit "keine Theaterproduktion, die diesen Anforderungen als Endprodukt gerecht wird". Umso wichtiger ist jeder Versuch, Kategorien aufzustellen. Mit ihrer Anwendung am Beispiel eines konkreten zeitgenössischen Theaterprojekts beweist sie die Praxistauglichkeit ihrer Modelle. Die dazu ausgewählte Produktion der Theatergruppe Teatro delle Albe - Ravenna Teatro hat zwar nicht die internationale Bekanntheit wie Arbeiten von Peter Brook oder Ariane Mnouchkine erreicht, sie scheint jedoch, schenkt man Gabriele Pfeiffer Glauben, ein gutes Stück näher am "wahren" interkulturellen Theater zu liegen.

Pfeiffer schlägt acht Modelle interkulturellen Theaters vor, die sie wiederum in Gruppen einteilt: Modelle, bestimmt durch das Verhältnis zwischen Theaterform und Theaterpublikum; bestimmt durch ein wissenschaftliches Interesse und bestimmt durch die Konfrontation einzelner Theaterformen. Sie alle stehen im Spannungsfeld von "das Eigene und das Fremde" - die eigene und die fremde Theaterform.

Das erste Modell beschreibt ein Theater, das keinerlei Rücksicht auf ein der vorgeführten Form unkundiges Publikum nimmt. Es handelt sich dabei zumeist um Gastspiele von Gruppen aus einer "fremden" Tradition. Nicht immer gelingt die Decodierung der Zeichen, in der Folge nimmt der "fremde" Zuschauer die Position des reinen Beobachtens ein. Das zweite Modell bezeichnet Gabriele Pfeiffer als "touristisches" Modell. Die Anwesenheit "fremden" Publikums ist den TheatermacherInnen bewusst und sie erarbeiten das Stück speziell auf diese Situation hin. Die Codes werden auf das Publikum abgestimmt, was laut Pfeiffers Theorie zu einer Verfälschung der ursprünglichen Theaterform führt. Das dritte Modell, das von wissenschaftlichem Interesse bestimmt ist, stuft sie als historischen Transkulturalismus ein. Dabei wird eine fremde Theaterpraxis als Muster herangezogen und gleichzeitig transformiert. Die ursprüngliche Form verschwindet dabei in einer neuen Technik und erlangt eine neue Identität. Als Beispiel führt Pfeiffer die Stanislawski-Methode an, die in den USA für TV und Film übernommen wurde. Komparatistische Tätigkeiten behandelt das Modell Nummer vier: Geschlossene und voneinander getrennte Arten von Theater berühren sich, da sie entweder übersetzt und/oder miteinander verglichen werden. Dabei geht es nicht nur um reine Textübersetzungen, sondern auch oder vor allem um intergestische Übersetzungen.

Das fünfte Modell, ein Modell mit "kolonialistischen" oder "missionarischen" Zügen, behandelt die Konfrontation einzelner Theaterformen: Zwei Formen treffen aufeinander, jedoch übernimmt eine der beiden den dominierenden Part, wodurch ein Ungleichgewicht entsteht. Das als "Ornamente- oder Zitaten-Modell" betitelte sechste Modell kombiniert unterschiedliche Theaterelemente mit Zitaten und baut sie in ein bereits bestehendes Theatersystem ein. Dabei wird meist kein Anspruch auf unmittelbare Verständlichkeit erhoben und es kommt damit auch kaum zu einer Decodierung durch den Zuschauer. Als Beispiel führt Pfeiffer das sprachliche Element aus der berühmten, oft kritisierten Mahabharata-Inszenierung von Peter Brook an: Brook beließ bestimmte Sanskrit-Wörter im Text. Sie blieben jedoch isolierte und vom Großteil der Zuschauer unverstandene Elemente.

Das siebente Modell decke sich laut Pfeiffer mit der Praxis der Festivals. Geschlossene, voneinander getrennte Theaterformen stehen einander ohne direkten Kontakt gegenüber. Außer der gegenseitigen Präsentation findet keine Kommunikation zwischen den anwesenden Theaterformen statt. Die Decodierung bleibt den Zuschauern überlassen. Dazwischen gibt es "Interimsmodelle", die der Tatsache Rechnung tragen sollen, dass keine Theaterform in ein starres Modell-Schema passt und sich in Wirklichkeit immer Übergangsformen finden. Das achte Modell stellt das "wahre interkulturelle Theater" dar. Eine "Verschmelzung zweier oder mehrerer Theaterformen, wodurch eine neue, völlig eigenständige Theaterform mit gleichzeitigem Verlust der eigenen, ursprünglichen Theaterformen einhergeht". Dabei befinden sich im Idealfall alle ZuschauerInnen in gleichberechtigten Ausgangspositionen, was das Erlernen der neuen Codes erleichtert. "Verdächtig nahe" an dieses interkulturelle Konstrukt kommt für Pfeiffer das "Dritte Theater" Eugenio Barbas - ein Konzept, das Mitte der 70er Jahre seine Anfänge nahm. Aber auch das zeitgenössische Theater ist für Pfeiffer heute an einem Punkt angelangt, wo es "Strömungen und Bewegungen", die beim Aufeinandertreffen mehrerer Kulturen entstehen, reflektiert. Pfeiffer bringt einige Beispiele, die jedoch allesamt zeitlich rund 15 Jahre zurückliegen: L´Indiade ou l´Inde de leur rêves von Ariane Mnouchkine und wieder Mahabharata von Peter Brook. Aktueller sind die theoretischen Konstrukte, die sich mit dem Phänomen interkulturellen Verstehens beschäftigen. Pfeiffer nimmt Franz M. Wimmers für die Philosophie entworfenes Konzept des "Polylog" auf, das, wie sie meint, in einem "wahren interkulturellen Theater" zu einer praktischen wie theoretischen Umsetzung führen könnte. In drei Diagrammen werden die philosophischen "Prozesse der Beeinflussung" auf ein polyloges Theater im interkulturellen Sinn eines gleichwertigen Austauschs angewandt. Mit der Einbeziehung von Kategorien wie "Verlust" und "Unterschiede" werden weiters zwei Schlüsselbegriffe angesprochen, die in der interkulturellen Praxis immer wieder auftauchen. Bestehende Unterschiede führen in der Zusammenarbeit meist zu einem Verlust auf der "schwächeren" Seite. Wie damit umgegangen wird, ist sicherlich ein Indikator für interkulturelle Arbeit. Obwohl Pfeiffer einräumt, dass "das wahre interkulturelle Theater [...] zur Zeit noch nicht tatsächlich" existiert, präsentiert sie doch eine Produktion der italienischen Gruppe Teatro delle Albe - Ravenna Teatro, die sich personell aus ItalienerInnen und Senegalesen zusammensetzt, als gelungenes "interkulturelles Theater". Unter der Regie von Michele Sambin erarbeitete das Teatro delle Albe das Stück I ventidue infortuni di Mor Arlecchino. Der Leiter der Gruppe, Marco Martinelli, ging von der französischen Vorlage eines Theaterstücks Carlo Goldonis, Les vingtdeux infortunes d'Arlequin, aus, das er in einem historisch-transkulturellen Sinn textlich bearbeitete. Martinelli verlegte das Geschehen in das Italien der Gegenwart, die Typen der Commedia dell'Arte blieben jedoch erkennbar. Die Figur des Mor Arlecchino wird von einem schwarzen Einwanderer verkörpert, der am Strand von Ravenna von den Mitgliedern der Theatergruppe als fliegender Händler entdeckt wurde. In seiner Heimat Senegal gehörte er der Kaste der "Griot" an, deren Angehörige Dichter, Musiker und Magier zugleich sind. Die Darstellung dieser Figur symbolisiert für Pfeiffer eine "personifizierte, interkulturelle Theatererscheinung". Im Stück gibt es zwei Erzählebenen: die Geschichte um Pantalone und seine Familie und die des Mohren. Mor Arlecchino ist auf der Heimreise nach Senegal und übernachtet dabei nochmals in einem Hotel-Ristorante. Dieses gehört ebenfalls einem Schwarzen: Scapino, auch er ein emigrierter Afrikaner. Die Heimreise kommt jedoch, ganz in arlecchinischer Manier, nicht zustande. Arlecchino wird Diener von Sapienza, der Tochter Pantalones. Sie wird gerade von ihrem Bruder aus Venedig, wo sie bisher gelebt hat, nach Hause geholt, um mit dem Sohn des Dottore verheiratet zu werden. In Scapinos Hotel treffen sich alle Figuren und Erzählstränge. Anhand von sechs "nodi", Gebieten, in denen es zu einem Kontakt von mehreren, jedoch mindestens zwei kulturell unterschiedlichen Elementen kommt, versucht Pfeiffer nun festzustellen, wie stark die interkulturellen Kontakte im Stück I ventidue infortuni di Mor Arlecchino wirklich sind. Diese "nodi" wurden von Martinelli für das allgemeine Programm des Teatro delle Albe - Ravenna Teatro formuliert und finden sich daher auch im ausgewählten Stück wieder. Sie beziehen sich auf den historischen transkulturellen Kontakt durch die Transformation des ursprünglichen Textes; bei Auslandsgastspielen auf den Einsatz einer Erzählerfigur, die in der dem Land entsprechenden Sprache vermittelt; die Konfrontation von senegalesischer Tanzmusik mit italienischem Barock; die Verwendung von unterschiedlichen Sprachen, und zwar Italienisch, Französisch und Wolof; den Einsatz von unterschiedlichen Nationalitäten in einer Theatergruppe sowie den gleichzeitigen Einsatz von Theaterformen und -traditionen unterschiedlicher Jahrhunderte und Kulturkreise in einem Theaterstück. Die Rolle des Mor Arlecchino, gespielt vom schwarzen senegalesischen Schauspieler Mor Awa Niang ("der Mohr hinter dem Mor"), eröffnet eine breite Palette von Interpretationsmöglichkeiten, die Pfeiffer in ihrer Arbeit eingehend untersucht. In ihrer Analyse kommt sie zu der Auffassung, dass es Sambin und Martinelli gelungen sei, eine eigene euro-afrikanische Theaterform zu entwickeln und auf die Bühne zu bringen. Gabriele Pfeiffers Buch Der Mohr im Mor. Interkulturelles Theater in Theorie und Praxis bietet durch die analytische Beschreibung theoretischer Modelle von Verhältnissen zwischen eigenen und fremden Theaterformen eine gute Grundlage für Aufführungsanalysen von "interkulturellem" Theater.

Autor/innen-Biografie

Michael Hüttler

Vor dem Studium der Theaterwissenschaft und Publizistik/Kommunikationswissenschaft einige Jahre Bankangestellter. Promotion in Theaterwissenschaft an der Universität Wien, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. 2001–2002 Lehrbeauftragter an der Yeditepe Universität Istanbul, 2003–2004 Forschungsprojekt zum Experimentellen Theater in Österreich am Institut für TFM. Bis 2006 Mitarbeit am Da Ponte Institut für Librettologie, Don Juan Forschung und Sammlungsgeschichte. Seit 2007 Leiter des Don Juan Archiv Wien (www.donjuanarchiv.at), seit 2011 Leiter des Hollitzer Wisssenschaftsverlags. Wiss. Mitarbeit bei der internationalen Forschungsgruppe Spectacle vivant et sciences de l'homme bei der MSH (Paris).

Forschungsschwerpunkte: Experimentelles Theater in Österreich, Musik- und Volkstheaterformen im 18. Jahrhundert, Theaterethnologie, das 'Türkische Sujet' im europäischen Theater.

Publikationen:

(Auswahl)

Michael Hüttler/Ulf Birbaumer: Guido di Palma: Corps du Théâtre / Il Corpo del Teatro. Wien: Hollitzer/Lehner 2010.

– (Hg.): Lorenzo Da Ponte. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007. (Maske und Kothurn, 52. Jg., H. 4, 2006).

– (Hg.): hermann nitsch. wiener vorlesungen. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005. (Maske und Kothurn, 51. Jg., H. 2–3, 2005).

–: Unternehmenstheater. Vom Theater der Unterdrückten zum Theater der Unternehmer. Stuttgart: Ibidem 2005.

–/Susanne Schwinghammer/Monika Wagner (Hg.): Theater. Begegnung. Integration? Frankfurt a. M.: IKO 2003.

–/Susanne Schwinghammer/Monika Wagner (Hg.): Aufbruch zu neuen Welten – Theatralität an der Jahrtausendwende. Frankfurt a. M.: IKO 2000.

Veröffentlicht

2000-04-04

Ausgabe

Rubrik

Theater