László F. Földényi: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter.
Aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma. München: Matthes & Seitz 1999 (Batterien 66). 552 S. Gebunden. ISBN 3-88221-284-5. Preis: ATS 496,-/DM 68,-/sfr 64,-
Abstract
Die Erfindung der Moderne: Kleists Auslegung einer gebrechlichen Welt Eine brillante Lektüre des Klassikers in Form eines Wörterbuches. Ein ungewöhnliches, glänzendes, exquisit gestaltetes Buch ist anzuzeigen. Es liegt fremd und verführerisch inmitten einer Fülle von Literatur zu Leben und Werk des großen deutschen, oft mißgedeuteten und ideologisch mißbrauchten Dichters Heinrich von Kleist. László F. Földényis Essaysammlung Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter ist als rundum hervorragende, bestechend eigenständige Lektüre zu kennzeichnen. Diese überzeugt nicht nur auf den ersten Blick, sondern der Autor eröffnet uns durch vielfach verzweigte Wege ins schwierige Labyrinth der Poesie Kleists zugleich eigene Räume für ein Spiel von Assoziationen, ohne dabei auch nur im Ansatz einer Beliebigkeit das Wort zu reden.
Ein wunderbarer Einfall ist bereits die Anordnung des Buches, ein Wörterbuch, ein Verzeichnis ausgewählter, für Kleists Benennung der Welt als symptomatisch zu bezeichnender Worte, ein Glossar im wahrsten Sinn liegt vor uns. Die Kapitel sind von A bis Z gegliedert, insgesamt 96 Eintragungen umfaßt das Buch. Die einzelnen Essays mit den titelgebenden Schlüsselworten vom berühmten "Ach!" über "Gedankenstrich", "Grimmig" und "Mädchenhaft" bis zu "Schlüsselloch", "Zerstreut" und "Zufall" leiten den Leser durch das Gewebe der Kleistschen poetischen Erfindung, ein Wörter-Kosmos, der seinesgleichen sucht. Die alphabetische Anordnung ist hier insofern treffend, als sie von der Suche nach einem Zentrum in der Textur Kleists entbindet, das es so ohnehin nicht gibt. Die zumeist zweispaltigen Gliederungen, der Essay-Text von László Földényi links und die Kommentartexte im rechten Seitenteil angeordnet, für sich gelesen und bezogen auf den jeweiligen parallel gesetzten Text, lassen die Lektüre von hier nach dort wandern, Verweisen nachgehend oder beiseite lassend, aufschiebend für ein abermaliges Lesen. Mühelos knüpft sich hier eine eigene Textur. Und dies alles unbeschwert, nicht durch wissenschaftlichen Übereifer die Texte verstellend und auch nicht im Sinne irgendeiner Schule überinterpretierend. Souverän, und deshalb unterspielt, verfügt der Autor selbstverständlich über den letzten Stand der Forschung und weiß um die virulenten Wendepunkte der Literaturgeschichte, sodaß sie an zuständigen Orten zu den Staunen und Bestürzung auslösenden Texten Kleists in Bezug gesetzt werden können.
László F. Földényi, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in Budapest und ausgewiesener Malerei-Experte (im Verlag Matthes & Seitz sind auch seine Studien über Caspar David Friedrich und Francisco Goya erschienen), liest die Texte Kleists so, daß der Glanz sprachlicher Darstellung und die nach innen gewendeten, oftmals gewaltsamen, dem Widerstand gegen Konventionen des Sinns abgerungenen Sprach-Bilder nicht blenden (verblenden), sondern erhellend ins Zentrum der poetischen Konstruktion führen. Zugleich eröffnet dies den Blick ins "Netz der Wörter", ein Spiel differenter Bedeutungsebenen auch in der Dimension einer immer schon zu lesenden Kontextualität.
So beispielsweise die Interjektion "Ach": ist es ein Seufzer, ein Jauchzen, eine zwischen Sprach- und Körperausdruck angesiedelte Geste, intervenierend, unterbrechend, fragend? In Alkmenes "Ach" am Ende des Kleistschen Amphitryon etwa spürt Földényi jenen "Taumel" auf, welcher entstehen mag, wenn die Entgegensetzung von Nähe und Ferne, das Unvereinbare aufeinanderstößt. Die Vertauschung von Götter- und Menschwelt evoziert eine Ungewißheit, die auf die noch nicht benennbare "Wüste" verweist, welche Alkmene erwarten wird. Deshalb das nicht auslotbare "Ach", vielleicht zwischen Glück und Schrecken, ein Rätsel jedenfalls.
Aber Kleists Schrift ist von vielfachen "Achs" durchwoben. Und sie sagen nicht, daß den Figuren die Worte fehlen. Das Stocken der Rede verweist vielmehr auf ein Zuviel, auf einen Stau der Worte. Wenn Penthesileas "Achs" vor allem den Zustand unendlicher Erschöpfung fassen, so gilt es zugleich, die bis auf den Grund reichende Zerrissenheit der Figur mitzulesen, aus welchem die "Achs" ertönen. Deshalb ihr letztes "Ach Prothoe!", worauf die allmähliche Erkenntnis der tödlichen Verwechslung von Küssen und Bissen folgt.
Oder die Erfindung der "Kentaurin", das Femininum des Wortes, auf das Földényi aufmerksam macht. Ein in sich widersprüchliches Sein ist in dieser Wortfiguration zusammengespannt, die Differenz von Mensch und Tier und: weder Mensch noch Tier. Penthesilea als Kentaurin in diesem Zwiespalt, überdies bezeichnet als "halb Furie, halb Grazie". Kleists Skala der Benennungen von Eigenschaften der Dinge und Figuren evoziert ein Innehalten und Nachdenken. Wie kann das grundsätzlich Getrennte eins sein? Solcher unglaublicher Behauptungen wegen eröffnet uns Kleist neue Sichtweisen auf die Verfassung der Welt, die nach wie vor eine Herausforderung darstellen und besänftigen zugleich.
Die Konjunktion "daß", die oftmals Kleists Sätze aneinanderreiht oder aufeinandertürmt, ist auch in Hinblick auf die Differenz von geschriebener und gesprochener Sprache aufschlußreich. Mehrmals äußert sich Kleist über die Vorteile des Vorlesens, Lautlesens. Der Rederhythmus folgt einer anderen Struktur, der mit der Verfassung des Körpers zu tun hat. Deshalb verweisen die Rede und das Schweigen der Figuren in Kleists Schauspielen auf die virulente Frage nach der Konstitution des Theatralischen, nach den Gesetzen szenischer Darstellung. László Földényi zeigt eine weitere Dimension auf: "Der eigenartige Gebrauch der Interpunktion bzw. die Verschlungenheit der Satzstrukturen hängt vermutlich mit dem für Kleist immer schon schicksalsvollen Problem der unüberbrückbaren Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen der letzten, verlockenden Unfaßbarkeit und der enttäuschenden, endlichen Wirklichkeit zusammen."
Sich mit Kleists Texten auseinanderzusetzen heißt dessen subversive Diagnose der Gebrechlichkeit von Welt und Subjekt, den Umsturz der festgefügten Ordnung der Dinge, den Verlust der Zentralperspektive als manifeste Struktur der Poesie zu verstehen. Deshalb das Fremde, Unheimliche - "Penthesilea ist ein afrikanisches Stück" (Heiner Müller) - in der Poesie Kleists. In seinen Texten sind Szenarien elementarer Erschütterung des Vertrauens in festgefügte Werte der Aufklärung entfaltet, beunruhigend in ihrer insistierenden Beharrlichkeit und der Formulierung von Unvereinbarem. Dennoch, und dies ist das Faszinierende jeder Annäherung an Kleist, wäre es ein elementares Mißverständnis, Kleist als Romantiker und Antirationalisten zu bezeichnen. An dem Begriff der Metapher ist dies in Földényis Buch beispielhaft entwickelt: Kleist nimmt nämlich die Metapher gegen die rationalistische Tradition in Schutz, und zugleich entzieht er sie dem "Rahmen der Affektenlehre, und tut das, paradoxerweise, als Rationalist".
Und wie die Präfixe "un-, ab-, ent-, los-, ver-" das, was folgt, stehenlassen und durchstreichen zugleich, so strukturiert sich im großen die Schrift Kleists. Entsetzt, entzückt, verschlingen, versehen, verstellen, unaussprechlich, unbegreiflich - alle vorgesetzten Wort-Partikel sind wie "Parasiten", sie partzipieren an etwas, haben keine eigene Existenz. Bei Kleist verneinen sie aber nicht, sondern behaupten, wie Földényi präzise darlegt.
Der Autor weiß auch die latente Struktur von Kleists Poesie in vielfachen, immer wieder anhebenden Gedanken zu umkreisen und zugleich der Fixierung kanonisierter Deutungsmodi im Werk des Dichters zu entgehen, um, wie er im Vorwort darlegt, "die Liebe zum Werk bewahren zu können". Das kommt Kleist nahe, ohne den Gestus der Vereinnahmung.
Kleists Worte sind mit unendlicher Energie geladen, aber anstelle der Explosion findet "eine ständige Implosion, ein dunkles, inneres Glühen" statt. Földényi faßt Kleists Standort an der Bruchlinie von Tradition und Moderne so: "Während Kleist seine Figuren in extreme Situationen zwingt, versetzt er auch die Literatur in eine radikal neue Lage: er zerstört die im herkömmlichen Sinn verstandene Metaphysik [...], wodurch das Schreiben wie ein Feld toter Schlacke erscheint." Keine übergeordnete Idee oder Referenz strukturiert die Textur, der Sinn verweist auf kein Außen, deshalb ist jedes Wort "wie eine tausendköpfige Hydra".
Kleist attackiert die Konvention, indem er in ihr innerhalb des Rahmens an die Grenzen vordringt, im Augenblick der Überschreitung gleichsam stillsteht: ein Moment, das die innerste Verfassung der Dinge aufblitzen läßt. In der Kategorie der Plötzlichkeit erst wird die Welt, "ein Labyrinth von Irrwegen und Sackgassen", in der Geste des Flüchtigen erfaßbar, das Unbegreifliche erkennbar. Hier wird ein Element des Verfahrens transparent: der nicht in Versöhnung aufzulösende Widerspruch, das Fehlen eines vermittelnden "Dritten" in Kleists Poesie. Die Erkenntnis in die Verweigerung dieser aussöhnenden Synthese ist der Lektüre Földényis vorausgesetzt. Das Paradoxon, das daraus resultiert, macht Kleists Texte unbestechlich scharf und irritierend zugleich. So sind beinahe alle titelgebenden Wörter des Buches - gewiß wären noch andere für Kleists Textur prägnante Benennungen aufzuzählen - unter diesem Aspekt zu betrachten. Ein treffendes Beispiel für Kleists Erfindungsgabe des Unvereinbaren ist das Bild des "Gewölbes", früh in einem Brief formuliert: "Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen - und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost". Diese aus der Negation der Schwerkraft geschöpfte Metaphorik entspricht zutiefst Kleists Konstitution einer Kunst-Wirklichkeit. Es geht um die vorübergehende Aufhebung der Gravitation, weil erst in dieser Bewegung das Gesetz der Schwerkraft überhaupt erkennbar wird. Solch "antigrave Sprachbehandlung" (Werner Hamacher) strukturiert die Textur Kleists.
Weil "die Worte sich selbst aufrechterhalten und nicht ein dahinter liegender Sinn", dient die Sprache Kleists auch nicht der psychologischen Vertiefung und Verankerung der Figuren, sondern, wie Földényi festhält, ist es gerade das "Unpersönliche", über das Subjekt Hinausreichende, das hier gefaßt ist. Der Abkehr von den Kategorien des Wissens, der Wahrheit und des Raum-Zeit-Kontinuums entspricht Kleists dekonstruierender Blick: In der Differenz von symbolischer Ordnung und jener des Realen, in einer Nicht-Identität von Sprache und Subjekt, konstituiert sich die Struktur der Poesie. Dem ist im Netz der Wörter nachzuspüren.
Unerklärlich ist mir, warum der Autor die Brandenburger Ausgabe der Werke Kleists offensichtlich nicht verwendet hat. Und anzumerken bleibt ein Druckfehler (?), der irritiert: unter dem Eintrag "Gedankenstrich" sucht man dieses graphische Zeichen an der entscheidenden Stelle des Zitats aus der Marquise von O.... vergebens. Das, worum der Text Földényis kreist, der Gedankenstrich, der "gewaltigste" (Gottfried Benn) der deutschen Literaturgeschichte, fehlt. Das freilich ändert nichts an der faszinierenden Lektüre von Földényis Kleist-Texten.
Die vorgestellte Publikation führt mit genauem Blick vor, was Kleists Poesie intendiert: ein Spiel der Ambivalenzen von Sprache und Sein, die Erkenntnis, daß nur im Paradoxon ein flüchtiges Wissen sich konstituiert. Franz Kafkas Urteil über Kleists Erzählungen gilt für das Werk insgesamt: "Hier ist die Wurzel der modernen deutschen Sprachkunst."
Diese Rezension ist auch erschienen in: Der Standard, Album, 10./11./12. Juni 2000.
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