Anton Mayer: Johann Strauß. Ein Pop-Idol des 19. Jahrhunderts.

(Wien [u. a.]: Böhlau, 1998). 250 Seiten. ISBN 3-205-98911-2. Preis: ATS 298,- / DM 39,80 / sfr 37,-

Autor/innen

  • Mathias Spohr

Abstract

Anton Mayer stellt sich mit der vorliegenden Biographie die anspruchsvolle Aufgabe, das Leben der Musikerpersönlichkeit Johann Strauß Sohn vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und geschichtlichen Umfelds zu beleuchten. Die gescheiterte Revolution von 1848, so wird durchaus mit Recht betont, überlagert den Generationswechsel zwischen Strauß Vater und Sohn und ist als Erklärungsmuster für das kulturelle Leben in der zweiten Jahrhunderthälfte äußerst aufschlußreich.

Bedauerlich ist jedoch, daß in der Darstellung nicht nur die Jahre, sondern auch die Jahrzehnte durcheinander geraten: Der als "Kölner Wahlpariser" bezeichnete, also offensichtlich mit Jacques Offenbach verwechselte Giacomo Meyerbeer hatte seine epochemachende Oper Robert le diable nicht "1851" (S. 77), sondern bereits 1831 aufgeführt. Franz von Suppé hatte nicht "ab 1850" (S. 81) das musikalische Unterhaltungstheater Wiens mit seinen Kompositionen beliefert, sondern bereits zehn Jahre früher, und war daher also um die Jahrhundertmitte als Komponist bereits allgemein anerkannt. Richard Wagner beging in Wien 1863 nicht "seinen 60. Geburtstag" (S. 108), sondern seinen fünfzigsten. Wenn sich die Unschärfen in diesem Maße häufen, besteht Gefahr, daß die wichtigen Ereignisse um die Jahrhundertmitte keine Kontur gewinnen können und der historische Hintergrund zum bloßen Kolorit verschwimmt. Somit sind Mayers Schlußfolgerungen relativ unspezifisch: Daß der Walzer erst "in der sogenannten Ringstraßenzeit [...] über Tanz- und Konzertsäle hinaus bühnenreif" (S. 41) geworden sei, ist angesichts der vielen hundert Possen und Pantomimen seit der Kongreßzeit, die den Walzer als Tanz auf die Bühne gebracht haben, eine zumindest mißverständliche Behauptung. Auch die Aussage, daß es für die Tanzkapellen erst um die Jahrhundertmitte Mode geworden sei "zeitgenössische Musik [...] in eine Art Potpourri umzuarbeiten" (S. 77), ist dergestalt nicht haltbar.

Diese Beispiele sind nur einige der deutlichsten und konkret musikhistorischen Fragwürdigkeiten; die allgemeinen zeitgeschichtlichen Betrachtungen ("Natur und Umwelt wurden intensiv erlebt und in das Denken integriert", S. 17) bedürften nicht weniger der Differenzierung.

Zutreffend ist, daß sich im Zuge der Industrialisierung eine Populärkultur ausgebildet hat, die der heutigen schon in vielem ähnlich ist. Johann Strauß Sohn als Pop-Idol zu bezeichnen, ist aus dieser Perspektive nicht abwegig, erforderte aber über die modische Bezeichnung hinaus eine eingehendere Klärung. Warum dem Pop-Idol, das sich nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Erwägungen dem Theater zugewandt hat, hier die Legende von der ursprünglichen Volkstümlichkeit der Wiener Vorstadtbühnen – trotz ihrer nicht weniger kommerziellen und auf breite Wirkung angelegten Produktionen – unkritisch entgegengesetzt wird, ist zum Beispiel nicht ganz einsichtig. Plausibel hingegen ist der stetig betonte Zusammenhang zwischen der Ära Franz Josephs, in der sich repräsentative Stabilität und Kontinuität zunehmend von der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit gelöst haben, und der Doppelgesichtigkeit des Straußschen Walzers als etwas ungemein Dynamisches und zugleich Statisches.

Autor/innen-Biografie

Mathias Spohr

Schauspielschule, Bühnenmusiker, Studium der Musik- und Literaturwissenschaft mit Spezialisierung auf das populäre musikalische Theater des 18. bis 20. Jahrhunderts. 1992-96 Redaktion von Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters im Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth.

Veröffentlicht

2000-01-20

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft